II. Gerüchte
Das Wasser des Senkawa-Kanals war zugefroren.
Schwarzes Eis war in Schichten und Schollen übereinander erstarrt. Bis zum Frühlingsregen, der zwei Tage und Nächte hintereinander dauert und alle Küchen, Aborte und Fußböden in der Straße ohne Sonne überschwemmt, würde das Eis nicht aufgehen.
" Die Straße ohne Sonne" war vor Kälte und Hunger völlig erstarrt. Die riesige Fabrik, die mit ihren roten Ziegeln wie ein Gefängnis aussah, hielt noch immer die große, dicke, eiserne Pforte geschlossen. Nur durch die kleinen Notausgänge und durch die Bruchstellen in der Mauer gingen die Streikbrecher, von Werkfaschisten und Privatspitzeln begleitet, scheu und ängstlich wie die Hausmäuse. Sie wurden wie Waren verpackt auf Lastwagen in die Fabrik geschafft. Sie schliefen in der Fabrik auf Stroh.
Die geringste Bewegung der unruhigen Stimmung da draußen, auf die sie durch die dicke Ziegelmauer lauschten, beunruhigte sie. Wenn die Gesellschaft in diesem Streik besiegt wurde, bedeutete das ihren Tod. Zwischen den stillstehenden Rotationsmaschinen flüsterten sie miteinander.
" Die Gesellschaft will ohne Bedingungen nachgeben", sagte ein Streikbrecher mit ängstlichen Augen. "Ich habe gehört, das Innenministerium will durch das Polizeipräsidium vermitteln."
Erst standen drei beieinander, dann kamen noch fünf dazu. Tief in ihren Herzen schlug der Vorwurf des Verrats an ihren Kollegen, denen sie geschworen hatten, auf Leben und Tod mit ihnen zu kämpfen, und kroch als Angst aus den bösen Gesichtern, die die Zähne bleckten. Die staubigen, sonst von ihren Genossen bedienten Maschinen schienen ihnen nun wie zornige, böse Ungeheuer.
In den Morgenzeitungen hatte die Nachricht gestanden, die Streikleiter seien vom Polizeipräsidenten zu einer Besprechung der Lage gebeten worden und hätten hocherhobenen Hauptes das Präsidium verlassen. Die Ungewißheit hielt sie bei der Arbeit auf, das schlechte Gewissen ließ ihnen keine Ruhe, sie blieben nicht auf ihren Plätzen. Den Meistern trauten die Leute überhaupt nicht mehr und glaubten ihren Beschwichtigungsversuchen erst recht nicht.
Das Gekreisch einer Rotationsmaschine setzte aus, die Schriftsetzer warfen ihre Winkelhaken hin und liefen von ihren Setzkästen fort; sie rotteten sich in den Ecken zusammen und sahen sich mit unruhig flackernden Augen an.
Erst rückte ein Arbeiter in der Nacht aus der Fabrik aus, dann zwei, drei...
Auf dem Stroh umschlangen sich ängstlich die Arbeiterinnen und weinten vor sich hin. In den leeren, ungeheizten Fabrikhallen schwirrte der drohende Sturm der Gerüchte.
" Hast du gehört... gestern nacht hat die Fabrikwache Herrn Sato ermordet. "
" Den Meister Matsumoto aus der vierten Halle haben sie in den Kanal geworfen, jetzt ist er im Fabrikhospital. "
Die Rotationsmaschinen liefen leer. Die Arbeiterin an der Thompson-Setzmaschine wurde taub vor lauter Gerüchten.
" Hast du gehört? Die Streikenden werden schon morgen die Arbeit aufnehmen. "
Die Gerüchte flogen von der ersten Halle in die zweite, aus der dritten Abteilung der Rotationsdruckerei in die Gravierabteilung, in die Mile-Abteilung, die Flachdruckerei, aus den Setzersälen in die Galvanoabteilung, in die Photographenabteilung, in die Reparaturwerkstätte, die Gießerei, hin und her, mit der Schnelligkeit des elektrischen Stroms, flogen sie hin und her und wuchsen immer mehr an. Jedes Gerücht wurde von sich spontan zusammenfindenden Gruppen diskutiert. Drei, fünf, zehn schlichen sich aus den Sälen, zuletzt versammelten sich ungefähr 300 im Rotationsmaschinensaal. "Was wird mit uns? Hört mal, wir sind - -" "Was wollt ihr von uns?"
Sie zankten sich, schrien und kreischten. Schon weinte ein Teil der Arbeiterinnen und Jugendlichen. Die Meister und Vorarbeiter versteckten sich, um der drohenden Gefahr zu entgehen.
" Her mit dem Verantwortlichen! Wer hat uns verraten, bringt ihn her!" Ihre Stimmung trieb sie von einem Gerücht zum andern, wie auf der Börse.
" Jetzt sind wir doch schon am Ende, geht ins Büro!" Einer der Ängstlichen brachte die Bombe zum Platzen: "Ja, so ist es richtig, her mit dem Fabrikdirektor!"
Wie Lumpen, die der Sturm vor sich her treibt, stürmten sie ins Bürohaus.
Was? Der Direktor ist nicht da?!"
" Dann schickt einen andern her, der uns erklären kann, wie es steht!" Sie drängten durch die Tür ins Büro. In dem aufgeräumten Kontor, das aussah, wie das Wahllokal eines durchgefallenen Kandidaten, lärmten sie, stießen sich und schrien alle durcheinander. "Bitte, Ruhe, Ruheeee", trat der neu angestellte, schlanke Direktor vor die aufgeregten Leute.
" Meine Herren, beruhigen Sie sich, nichts davon ist wahr, daß die Streikenden wieder in die Fabrik kommen, wir verhandeln nur, aber das Gerücht ist eine Lüge!"
Doch die Streikbrecher dachten nur noch an ihre Ängste, an die finsteren Gesichter der tausend Kollegen, die morgen in großen Zügen in die Fabrik einmarschieren würden... "Sorge dafür, daß uns nichts geschieht... !"
" Schwöre uns, daß wir jeder tausend Yen kriegen, wenn wir entlassen werden!"
Die beruhigende Stimme des Direktors hörten sie nicht mehr. "Gib uns jedem einen Polizisten als Schutz. "
Es war ihnen ernst. Todernst. Sie umringten den Direktor wie hungrige Bremsen einen Hund -
" Ihr habt uns gezwungen, Verrat zu begehen, wenn ihr uns jetzt ohne Schutz laßt, dann werden wir euch nicht leben lassen. " Der Direktor war unsicher, das Gerücht war nämlich gar kein Betrug. Die politische Protestaktion der Ronoto (Rodosha Nomin To) hatte die Entschlüsse des Polizeipräsidenten beeinflußt, außerdem hatte das Innenministerium seine Nase in die Sache gesteckt, und obwohl sich Okawa noch hartnäckig wehrte, konnte man nicht wissen, wann er seinen Entschluß ändern würde, um seine Würde als neuernannter Baron in der Öffentlichkeit zu beweisen. Für den Direktor war Okawa der absolute Machthaber und schrankenlose Tyrann, aber dasselbe waren in diesem Augenblick diese Lumpen hier, er stand zwischen beiden eingekeilt.
" Gut, gut, wir werden sehen, wie es sich am zweckmäßigsten arrangieren läßt... " antwortete er, und gab sich Mühe, ruhig und vernünftig zu erscheinen.
" Zweckmäßig... arrangieren... damit ist nichts getan, gib uns eine schriftliche Bestätigung!"
Sie zerrten an seinem Mantel und gaben ihm keine Ruhe. Der Direktor verdrehte die Augen:
" Aber meine Herren, das hat doch keinen Zweck... wenn ich etwas schreiben würde, was wollen Sie... ich werde ja selbst entlassen... "
Es würde ihm genau so gehen, wenn Okawa seinen Entschluß änderte und wenn auch nur die halbe Zahl der Streikenden zurückkehren würde.
" Ich bin wohl Direktor, aber meine Anteile und Aktien stehen nur so
auf dem Papier. Fast alle Aktien der Gesellschaft hat Herr Okawa. Ich
bin auch nur ein Angestellter... "
Er konnte seine Autorität und Würde nicht mehr aufrecht erhalten.
" Lüge nicht!"
Die Streikbrecher, die selbst ihre Genossen verraten hatten, wollten
ihm nicht glauben.
" Doch, das ist so, das ist die reine Wahrheit. "
Unstillbare Verzweiflung und Trauer öffneten einen bodenlosen Abgrund unter ihren Füßen.
" Dann... was soll mit uns werden?"
" An wen sollen wir uns wenden?"
Sie wollten noch einmal diesen einzigen und letzten Schutz, der nun auch schwand, den Direktor, festhalten...
Aber es war vergebens. Die trügerische Hoffnung hatte nicht mehr die frühere Gestalt. Sie packten einen Werkfaschisten an der Schulter, wie Ertrinkende nach einem Strohhalm greifen:
" Herr, was sollen wir machen?"
Der Mann mit dem Spitzbart wand sich wie ein Wurm, nahm verlegen seinen Stock von einer Hand in die andere und sagte in die leere Luft:
" Wie soll ich das wissen?"
Er war ein Tagelöhner wie sie, der jeden Tag woanders angestellt war.
Immer werden zwei Kräfte miteinander ringen. Der Sturm treibt die Windmühlenflügel auf beiden Seiten des Berges. Die Taktik der Gesellschaft, sich in die Breschen der Streikenden einzuschmuggeln - das immer stärkere Versiegen aller Geldquellen der Streikenden - die Korruptionsgelder - alles drang auf die Streikgruppen ein. Die Gesellschaft hatte der Genossenschaft die Räume gekündigt und sie gewaltsam auf die Straße gesetzt; die Restaurants, die Stützpunkte der Ernährungsabteilungen, wurden von der Gesellschaft aufgekauft und geschlossen.
Während sich die Kampffront immer mehr verbreiterte, wurde die Zahl der Streikführer immer kleiner. Durch das Netz der S-Abteilungen hindurch transportierte die Gesellschaft immer mehr von diesen merkwürdigen "Waren" auf Lastwagen in die Fabrik. Aber das war noch nicht alles. Die Gesellschaft schob ihre Hand bis in den Ausschuß der Bewohner des Kotshikawa-Bezirks, der gegründet war, um die Not der Streikenden zu lindern und den Untergang des Bezirks aufzuhalten. Hier zeigte das ausgeworfene Geld am ersten seine Wirkung. "Wir fordern Okawa auf, sich zu überlegen, ob er so hartnäckig sein will, den ganzen Bezirk untergehen zu lassen. "
Die angekündigten Protestkundgebungen des Bezirks, auf denen diese Resolution gefaßt werden sollte - sie fanden sonst jeden Abend statt -waren gestern und heute schon ausgefallen.
Hagimura, Yamaura und Kamei, die ständig mit diesem Ausschuß zusammengearbeitet hatten, waren heute abend von diesen Leuten noch besonders aufgefordert worden.
Als die drei ins Büro des Ausschusses im Tempel Eme-in kamen, wurden sie von sieben mißgelaunten Gesichtern empfangen. Bis jetzt waren Hagimura und die anderen bemüht gewesen, freundschaftlich mit dem Ausschuß zu arbeiten, sie hatten auch in gewissen Fragen immer Sympathie gefunden.
" Entschuldigen Sie unsere Verspätung, wir haben immer so viel zu tun..". sagte Hagimura, als er Platz nahm. Aber die Kleinbürger taten ganz fremd, während sich die drei Mühe gaben, ein freundliches Gesicht zu machen.
" Ich habe gehört, Ihre Führer sollen Kommunisten sein." Das kam unerwartet. Die drei Arbeiter sahen sich an, die Sache schien ihnen ein bißchen komisch. Der alte Mann mit langem Vollbart, der das eben gesagt hatte, war Inhaber einer kleinen Schlosserei und Bezirksverordneter der Minseito.
" Ist das wahr?" fragte nun Takegawa, ein kleiner Hausbesitzer, der neben dem Vollbart saß und seine Glatze leuchten ließ. Das Benehmen der Ausschußmitglieder hatte sich in dieser einen Nacht völlig verändert.
" Worauf soll das eigentlich hinaus?" erkundigte sich Hagimura, immer noch bemüht, freundlich zu lächeln, nach dem Grund dieser etwas dunklen Frage. Gerade dieser kleine Schlossermeister und ebenso der Priester des Tempels, der an der Tür saß, hatten gelegentlich einmal zu ihn©n gesagt: wenn sie recht haben, unterstützen wir auch die Kommunisten; denn gegen so freche Unternehmer sind selbst kommunistische Methoden erlaubt. Sie hatten also nur ein großes Maul gehabt. Es mußte ein bestimmter Grund vorliegen, daß diese Leute heute nacht so völlig umgewandelt waren und ein merkwürdig kaltes Benehmen zur Schau trugen, dachten die Arbeiter.
" Wer hat Ihnen eigentlich so etwas erzählt?" fragte Hagimura den Bezirksverordneten, der immer noch schwieg, an seiner Stelle entgegnete der kleinmütige Priester:
" Wir haben das vom Polizeiamt Kobinata gehört." "Aha, hat vielleicht der Polizeivorsteher das gesagt?" Hagimura und seine Genossen verstanden nun ungefähr: diese Leute hatten wahrscheinlich heimlich mit dem Polizeiamt verhandelt und zugestimmt, den Innenminister als Schlichter auftreten zu lassen. Das kühle Schweigen, das dieser Unterhaltung folgte, bedrückte den kahlen, kalten Raum des Buddha-Tempels. Die Halle des Tempels diente als Streiklokal der zweiten Gruppe. Die Sympathie des Priesters hatte die Streikenden geschützt, so daß diese Gruppe noch niemals ihr Lokal wechseln mußte.
" Ist heute abend keine Versammlung?" Yamaura wollte die Unterhaltung auf ein anderes Gleis bringen.
" Nein, wir wollen keine Versammlungen mehr machen", erwiderte zornig der Besitzer einer kleinen Druckerei. Die drei Arbeiter erschraken - "hm, sie sind bestochen - aha, bestochen..." "Warum denn nicht?" fragte Kamei, ohne sich beleidigt zu zeigen. "Wir können keine Kommunisten unterstützen", erklärte kurz ablehnend der Schlossermeister. Hagimura sah ein, daß es keinen Zweck hatte, noch weiter ein verbindliches Gesicht zu machen. "Haha, Sie sympathisieren mit der Gesellschaft." Der Stich traf die schwächste Stelle dieser Kleinbürger, und man sah gleich die Wirkung. Sie schämten sich etwas und wandten ihre Gesichter ab.
" Wir waren von Anfang an streng neutral und sind es noch heute. " Der alte Schlosser steckte seine Zigarette in die Asche des Ofens. Dann schwiegen wieder alle. Hagimura dachte, das würden von morgen an stramme Reaktionäre sein.
" Nebenbei, ich möchte Ihnen sagen wegen dem Versammlungslokal - -", begann der kleinmütige Priester mit einem verzweifelten Ausdruck, als wolle er eine große Last von der Schulter wälzen. "Die Provokation durch die Polizei ist zu stark - und auch unsere Tempelgemeinde protestiert sehr energisch. "
Auch das war jetzt klar: auch aus diesem Lokal würden sie morgen herausgeschmissen sein. - Auch dieser Hund ist mit drei- oder vierhundert Yen bestochen... Der Zorn würgte Hagimura in der Kehle. Yamaura stieß gegen sein Knie, er solle sich zusammennehmen. "Das ist sehr schade - aber dann kann man natürlich nichts machen, ist ja von Ihrem Standpunkt ganz verständlich. Aber geben Sie uns doch ein paar Tage Aufschub, bei unserer langen Freundschaft. " Das konnte der Priester natürlich nicht ablehnen. Aber es würde unmöglich sein, in diesem Bezirk einen passenden Saal zu mieten, wenn diese Kleinbürger offen zu den Reaktionären übergingen. "Also, Sie wollen uns nicht mehr beistehen....", sagte Kamei, um zu Ende zu kommen.
" Und lehnen uns ab, weil wir Kommunisten sind", warf Hagimura höhnend ein. Die Suppe war gar.
Die drei gingen hinaus. - Es war schon gleichgültig, diese Kleinbürger gehörten zu einer Klasse, die auf die Dauer nicht mit ihnen zusammengehen konnte. Draußen wehte es kalt.
" Sie werden von morgen ab Helfershelfer der Reaktion sein." Kamei drehte sich zu Yamaura, der ihm folgte.
" Sie waren von Anfang an so. Besonders dieser Bezirksverordnete hat uns nur unterstützt, um von der Gesellschaft Geld herauszuschlagen. " "Dann haben sie wenigstens ihre Absicht durchgeführt." Die drei lachten laut, aber die furchtbare Verlassenheit erstickte das grundlose Lachen.
Hagimura verabschiedete sich von den andern beiden und ging nach Hause, er hatte noch einige Stunden Zeit bis zu Sitzung der Zentralleitung. Als er bis zur Mitte des Haksuan-Abhanges gekommen war, stieß er mit Takae zusammen, die eilig aus der Tür seines Hauses kam. Im Schein der elektrischen Lampen sah er ihr Gesicht. "Was ist Taka-tjan?" Sie hatte ihn bis jetzt gesucht. "Oh, Okayo liegt im Sterben, komm zu uns - schnell -." |
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