Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Sunao Tokunaga - Die Straße ohne Sonne (1931)
http://nemesis.marxists.org

III. In der Falle

Die Läden der Stadt hielten ihre Türen geschlossen. Als es Mitternacht wurde, erhob sich der Wind, trug den Lärm über die Stadt und klopfte an jede Tür, von der Hauptstraße bis in die kleinste Hintergasse. Auf der finsteren Landstraße am Askaijamaberg jagten die Lastwagen, beladen mit Polizei, rasend heran. Jeden Augenblick kamen neue Polizisten. Auf dem Fabrikhof hatten sie die Massen vollkommen überwältigt. Fahnen zerrissen, Säbel zerbrachen, Polizeimützen wurden zertrampelt. Als die Massen sahen, daß die Polizisten blank zogen, schrien sie vor Empörung auf. Tomi-tjan entriß einem verhafteten Genossen die Fahne und rannte die Treppe zum Dachgarten in der dritten Etage hinauf. Der war als Erholungsplatz eingerichtet und von einem eiseren Gitter umgeben. Trotzdem an den Ecken je eine elektrische Lampe hing, fand er eine Stelle, wo er sich vor den Augen der ihn verfolgenden Polizisten verbergen konnte. Während er ein Taschentuch zerriß und sich die Fetzen um den verwundeten Arm wickelte, überlegte er schnell, wie er von hier entkommen könnte. Der Wind wehte stark über seine Haare. Von Zeit zu Zeit schwoll das Geschrei an, kroch an der Eisenbetonmauer empor und trieb vom Wind getragen durch die Luft.
Er nahm das Fahnentuch von der Stange, wickelte es unter der Jacke um den Leib und suchte, auf die Fahnenstange gestützt, nach einen Ausweg. "Halt, du Hund willst ausrücken. " Er hörte das Klirren eines Säbels dicht neben sich. Als er sich erstaunt umsah, stürzte ein Schatten aus der Tür. Es war ein verfolgter Genosse; er wollte schnell zu ihm herüber, aber es war bereits zu spät. Die zwei Gestalten stürzten sich auf den zusammengesunkenen Genossen.
" Da ist noch einer!" Eine dunkle Figur näherte sich ihm. Tomi-tjan floh auf dem engen Raum das Gitter entlang. Er machte sich zum Kampf mit dem Polizisten fertig.
Als der Polizist ihn ansprang, stieß er mit aller Kraft die Fahnenstange vor - der Uniformierte brach stöhnend zusammen.
Tomi-tjan ging Schritt für Schritt zurück und suchte einen Ausweg. Er wußte, daß sich an der Außenwand solcher Gebäude eine Feuerleiter befindet. Da erklang schon die Trillerpfeife des Polizisten, stoßweise, wie das Schluchzen eines sich in Krämpfen windenden Kindes. Tomi-tjan stieß instinktiv mit dem Fuß an den Anfang der Feuerleiter. Er kletterte abwärts, seine Sohlen rutschten; tief unter sich sah er die vielen hunderte Menschenschatten durcheinander rennen.
" Er ist auf der Leiter!" rief der Polizist seinem auf den Signalpfiff herankommenden Kollegen zu. Sie verfolgten Tomi-tjan seitwärts an der Wand hin und Tomi-tjan wanderte mit der Geschwindigkeit einer Eidechse zweimal um das ganze Gebäude. In der zweiten Etage war keiner von den Genossen mehr zu sehen. Im Herunterklettern sah er, und seine Füße wurden vor Schreck gelähmt, daß die ihm vorausgelaufenen Polizisten unten auf ihn warteten.
Er hatte längst die Fahnenstange fortgeworfen, weil sie ihn auf der schmalen Leiter behinderte. Wieder nach oben zu steigen war sinnlos, er war überall eingekreist, von allen Seiten stürzten sie auf ihn los. "Na, jetzt ist alles gleich. " Er sah bis zur Erde, es waren ungefähr neun Meter, stieg er zwei Stufen höher und sprang in den dunklen Hof hinunter - - - -
Takae rannte, ohne sich umzusehen, den Damm längs des Oji hinunter. Hier waren schon andere Genossen geflohen, aber sie waren bald auseinandergekommen, auch Oja, die eine Strecke lang neben ihr her lief, war schon zurückgeblieben. Ein drückender Dunst kam aus der Tiefe der unter ihr schimmernden Wasserfläche herauf. Heftiger Schmerz brannte in ihrer nackten Ferse. Je weiter sie sich von der Gefahrenzone entfernte, desto größer wurden die Schmerzen. Bald wüteten sie so rasend in all ihren Nerven, daß sie nicht mehr imstande war, sich zu bewegen. Sie kroch in den Schatten des Dammes.
Sie hatte sich Glasscherben in die Ferse getreten. Als sie die Splitter herauszog, zuckte ein neuer Schmerz durch ihren ganzen Leib. "Hallo!" schrie ein Schatten, der etwas hinter ihr den Damm hinaufrannte. Vor Schreck vergaß sie einen Augenblick ihren Schmerz. Sie drückte sich in den Busch und starrte in die Dunkelheit. Als der Schatten an ihr vorüberrannte, schrie sie vor Freude laut auf: "He-tjan, du bist es."
Der Angerufene stoppte und kam zu ihr heran. "Taka-tjan!"
Der Schatten war He-so Hisachita, der Lehrling. "Ach, ich dachte schon, du bist auch verhaftet. " Der Junge kam vom Damm herunter und faßte ihre Hand; er keuchte vom schnellen Lauf.
" Du, die Genossin Oja und Kijose sind eben festgenommen worden. " Am Himmel flogen die Sterne wie Flecken auf einem alten Film vorbei. Der Wind trug den Lärm aus der etwa einen halben Kilometer entfernten Fabrik bis zu ihnen herüber. Sie verband die Ferse mit ihrem Taschentuch und stützte sich auf Hisachitas Schulter.
" Was mach' ich damit?" Takae streckte dem Jungen ein schwarzes verknautschtes Ding hin, das sie in der Hand hielt.
" Was hast du da?" In der Dunkelheit erkannte er eine Kokarde. Es war eine Polizeimütze.
Unter ihnen schäumte in weißen Streifen der Fluß an die Ufer.
" Na, du wenigstens sollst Wasser schlucken!"
Wie eine Fledermaus überschlug sich der Lumpen und klatschte ins Wasser.

Laßt die Fahne nicht rauben!
Zwei Gestalten hielten im vollen Lauf schützend die Fahne. Es waren Morohachi, der Gruppenleiter und Kamei, die vom Wege abgekommen waren. Mitten im Lauf merkten sie plötzlich, daß sie gerade dorthin liefen, wo die meisten Feinde waren.
" Warte", flüsterte Kamei. Zu ihrer Rechten floß ein reißender, etwa vier Meter breiter Fluß. "Sicher ist das ein Nebenfluß des Ojikawa. "
Morohachi wandte sich im Laufen nach dem schäumenden Wasser. Sie rannten über die Brücke; der Lichtschein über der Stadt schien den richtigen Weg zu zeigen.
" He!" Morohachi hielt plötzlich und stieß nach Kamei mit der Fahnenstange, daß der fast gestürzt wäre.
" Was denn?" Aufblickend sah Kamei vier oder fünf Polizisten, die in etwa zwanzig Meter Entfernung ihnen entgegen kamen, sie waren an den funkelnden Säbeln genau zu erkennen.
Beide rannten bis zur Brücke zurück. Gerade wollten sie sich in einer kleinen Gasse verstecken, als Kamei plötzlich erschrocken aufschrie. Ein Kriminal sprang aus der Gasse heraus, packte Kamei und versuchte ihm den Arm auszudrehen. "Hunde!"
Ohne die Polizisten auf den Fersen wären sie leicht entkommen, so war es schon zu spät. Vielleicht konnte Kamei entwischen, aber mindestens einer wurde doch gefaßt.
" Hallo, hierher", schrie der Kriminal, der neuen Mut faßte, als er die Schritte auf der Brücke hörte.
Kamei nahm die Fahne und verließ den Genossen. Die Müdigkeit und der Schmerz von dem eben erhaltenen Schlag lasteten wie eine Mauer auf seinem Rücken.
Als er die Hand des Polizisten auf seiner Schulter spürte, sprang er, die Fahne im Arm, in das rasende Wasser--------
Wie vom Wind fortgewehtes Papier flogen die Massen aus den Gassen heraus flohen durch die Hauptstraße und zerstreuten sich in alle Winkel der Vorstadt Oji. Auf dem Platz vor der Fabrik fuhren die Polizeiautos hin und her. Der Polizeileutnant hetzte mit heiserer Stimme seine Leute herum.
In einem Cafe, das in der ersten Etage eines Hauses am Platz lag -es war natürlich wie alle anderen Läden geschlossen - öffneten zwei zitternde Kellnerinnen ein wenig die Tür und glotzten auf die grausigen Vorgänge dort unten. Deshalb bemerkten sie beide nicht, wie durch eine andere Tür leise ein Gast in den ersten Stock kam, sich ohne Hast an einen Tisch hinter ihnen setzte, seinen Hut aus dem Gesicht schob und den Mantelkragen herunterschlug. "Hallo, bitte ich möchte etwas essen." Die jungen Kellnerinnen kreischten erschrocken auf. "Geben Sie mir, was Sie gerade haben. "
Der Gast schien ganz ruhig, er hatte seinen Hut aufbehalten, nahm eine Zigarette aus der Tasche und steckte sie mit der linken Hand in den Mund.
" Na, paß doch auf, gib mir Feuer."
Die Kellnerin schreckte auf, aber durch sein gutmütiges Lächeln beruhigt, reichte sie ihm ein brennendes Streichholz.
Dieser Gast schien Bescheid zu wissen, was für Geschäfte die Mädchen in diesem Hause machten; er lächelte der älteren zu und zwinkerte mit den Augen. Die Kellnerin zog ihre fettig glänzende Stirn kraus und sah den Gast unsicher an. "Das ist aber eine Unruhe heute!"
Ehe sie den Satz beenden konnte, nahm er ihre Hand und rückte zur Seite.
" Also bring' mir Wein. "
Die verschmähte Kellnerin ging schlechtgelaunt das Gewünschte zu holen Der Gast plauderte oberflächlich und trank den Wein, der ihm gar nicht schmeckte. Dazwischen beobachtete er scharf und genau durch einen Spalt zwischen den Vorhängen die Vorgänge unten auf dem Platz. Als die Kellnerin einen Augenblick auf die Toilette ging, nahm der Gast Handschuhe aus der Tasche und zog sie sich über die Hände. An seinem Daumen und am Handgelenk klebte Blut. Der Gast war Nakai.
" Sag mal, habt ihr Telephon?" fragte er wie nebenher, als sie zurückkam. Die Frau zeigte auf das Telephon in der Ecke des Zimmers. Er ging an den Apparat und telephonierte mit Watamasa, der in der ersten Etage des Restaurants Kanarienvogel auf seinen Anruf wartete. Nachdem er fünf Minuten gesprochen hatte, hängte er den Hörer an und sagte wie ganz betrunken zu der Kellnerin: "Alles erledigt; gehen wir schlafen."
Die Frau staunte über die Unverblümtheit des Gastes und entgegnete: "Hier ist doch kein Gasthof!"
Nakai vertrug nicht viel Wein, er stieg ihm gleich in den Kopf, aber er wurde doch nicht betrunken. Watamasa hatte ihn am Telephon, nachdem sie einige Worte gewechselt hatten, gewarnt, er solle vorsichtig sein.
Jetzt hatte er Frauen und Cafe nicht mehr nötig, außerdem hatte er gegessen.
" Also, dann nicht. " Er warf seinen Geldbeutel der Frau hin und stieg die Treppe hinunter. Ruhig wie nach einem Sturm ging Nakai, einen Zahnstocher zwischen den Zähnen und leicht schwankend zur Straßenbahn.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur