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Sunao Tokunaga - Die Straße ohne Sonne (1931)
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IV. Vorposten

Der kranke, alte Vater konnte nicht schlafen. Als die Dämmerung kam, hörte er die Hagelkörner gegen die Holztür trommeln, auf das Blechdach und auf die treibenden Eisschollen des Senkawa-Kanals. Die Baracke wurde jetzt einsam und still, nicht einmal die Schreie der Kinder waren mehr zu hören. Das Reißen in seinen Gelenken wurde durch die Kälte noch ärger, er umklammerte krampfhaft die Kissen, um die Schmerzen zu lindern. Große Tränen standen ihm auf den Backen. "Die verfluchte Hexe!"
Der Alte meinte immer noch, Takae trage an allem schuld, auch an der Verhaftung dieser netten schüchternen Okayo. Seit sich die Gewerkschaft in der Fabrik eingerichtet hat, opponierte die Älteste immer heftiger gegen die Meinung ihres Vaters - sie, die bis dahin so kindlich gewesen war, wurde immer selbständiger und setzte ihren Kopf gegen den Vater durch.
" Hat den Teufel im Leib, dieses wahnsinnige Weib. " Wäre er gesund und hätte noch seine rechte Hand, wollte er sie schon schlagen und zurichten, bis sie wieder zur Vernunft käme. Der Kranke sah auf die alten Bücherregale, die am Fenster neben dem Tisch standen - da lagen ungefähr zehn Bücher, dünne Broschüren mit rotem Deckel und dicke Bücher mit Goldaufschrift, die eigentlich nur Gelehrte lesen sollten. Der Alte erinnerte sich, in diesen Büchern las Takae immer, wenn sie von der Nachtarbeit zurückkam; dann saß sie im Bett und las.
" Sie haben schuld, diese Bücher - diese verdammten Dinger haben Takae verrückt gemacht!"
Der Kranke stand auf, stützte seinen Körper an der Wand und kroch zum Bücherbrett, alle Kraft sammelte er in dem wankenden Fuß. Durch das geöffnete Fenster zog der Wind und riß in den Knochen des Alten. Der Kranke schob das Fenster hoch und griff mit der noch nicht ganz gelähmten Linken nach den Büchern. "Verschwindet, ihr Teufel!"
Die Bücher flatterten lautlos in das schwarze Wasser des Kanals und tauchten unter. In der kalten, allmählich heller werdenden Luft sah er die weißen Blätter versinken.
" Sei doch nicht so unduldsam, Vater" schrie die Nachbarin, als sie die wilden Augen und den pfeifenden Atem des Alten sah, den jedes Buch, das er fortwarf, mit neuem Haß erfüllte. "Nein, nein, ich werde all diese Teufel ersäufen." Er schlug nach ihrer Hand, die sich ihm entgegenstreckte. Ein paar Bücher waren auf den Grund gesunken, andere schwammen, vom Wasser, das durch die Eisspalten hochquoll, fortgerissen weiter. Über der kalten Wasserfläche lag dünner Nebel.
Wie der Staub und die Lumpen auf dem Senkawa-Kanal waren auch die Waren in den Lebensmittel- und Weinhandlungen, in den Küchen- und Grünkramgeschäften weniger geworden. Jetzt, wo sich keine Gemüsereste und Lumpen mehr in den Netzen fingen, blieben auch keine Waren bei den Händlern. Seit die Fabriksirene nicht mehr im Bezirk Kotshikawa heulte, war die Schlagader der Straße im Tal durchschnitten worden. Und die großen Fabrikanlagen lagen in der kalten Luft wie riesige Kadaver von Wasserpferden.
Die Kleinhändler waren in großer Verlegenheit. Sie wählten ihre Vertreter und setzten ein Komitee ein, in dem es viel Arbeit und lächerliche Diskussionen gab, sie baten jeden, der irgendwelchen Einfluß besaß, in diesem Streik zu vermitteln.
Ihre Diskussionen waren deshalb so komisch, weil sie sich selbst traurigerweise für neutral hielten. Sie gingen zu den großen Herren des Bezirks und klagten den ehrenamtlichen Stadträten ihre Not. Immerfort jammerten sie, sie seien gezwungen, zusammen mit den Streikenden zu sterben. Aber diese Ehrenleute an die sich die Kleinhändler Wandten, waren letzten Endes auch nur indirekte Angestellte der Gesellschaft. Und während die guten Kleinhändler glaubten, in diesem Streik neutral bleiben zu können, erwachte in den gestrengen Kritikern, den großen Leuten des Bezirks und den Ehrenmännern im Magistrat das Klassenbewußtsein, und sie wußten ganz genau, was sie zu tun hatten. Immer mehr Läden standen in der Hauptstraße leer, immer weniger elektrische Lampen brannten, und die Dunkelheit eroberte die Straßen. Die Zahl der Mädchen, die abends in verdächtige Kaffees und Weinhandlungen gingen, um am Morgen mit blassem Gesicht zurückzukommen, wuchs von Tag zu Tag.
" Sei doch nicht so eigensinnig, Vater, morgen oder übermorgen kommen sie bestimmt wieder, sie sind doch keine Diebe oder Brandstifter", sagte die Nachbarin tröstend in ihrem nordjapanischen Dialekt und brachte den Kranken ins Bett. Sie hatte alle zwei Jahre ein Kind geboren, der letzte Säugling lag unterernährt mit glänzenden Augen an ihrer nackten Brust, er konnte nicht mehr weinen.
" Aber es ist wirklich schlimm, wenn der Streik noch lange dauert, Vater, es ist Zeit, daß die Fabrik nachgibt."
Der Kranke biß seine zitternden Zähne zusammen und vergrub sich in
den Kissen.
Die Nachbarin ging nachts mit ihren beiden Kindern Eßwaren verkaufen.
Ihr Körper war wild und gesund wie ihre Sprache.
Aber die Gesellschaft wird nicht nachgeben. Sie nehmen nur neue Arbeiter." Der Alte konnte seine Zunge nicht im Zaum halten."
" Was?" sah die Frau den Kranken an, der ganz verlegen wurde.
" Nein... ich... weiß nicht, ob es wahr ist oder nicht, ich habe das nur so von Herrn Yoshida gehört.! - Aber das ist doch nicht schlimm." Der kranke Vater schielte ängstlich in das weiße Gesicht der Frau, die im Schneeland (Anm.: Auf Hokkaido, der Nordinsel Japans) geboren war."
" Woher kennst du denn Yoshida?"
Die Frau legte die Feuerschaufel, in der sie Glut für den kleinen Ofen den Kranken gebracht hatte, auf den Boden.
" Er war mein Meister. " Vor Überraschung schwieg die Nachbarin, die auch in diesen Büchern
gelesen hatte.
" Aber Vater, es hat doch keiner gesehen, daß Arbeiter in die Fabrik gehen,"
Die Frau suchte nach einem rettenden Gedanken.
" Nein, man hat die Männer unter Planen wie die Säcke auf Pferdewagen
in die Fabrik gefahren. "
Das Unwetter hatte nachgelassen, nur zuweilen klapperten die vom Wind gejagten Hagelschauer eintönig gegen die Haustür. "Ah, so macht man das!"
Jetzt begriff die Frau manches - der Mann von Oka-tjan, die auf der anderen Seite wohnte, war seit zwei Tagen nicht gesehen worden, und Harbo, ein anderer Nachbar, war gestern nacht auch nicht heimgekommen. Sie schlug ihr Kleid um das Kind, das sie auf dem Rücken trug, und legte die mitgebrachten Holzkohlen in den Porzellanofen. "Nur nicht bange sein, Vater, und nicht ungeduldig werden - ich bringe dir nachher, wenn ich es fertig habe, zu essen." Das Holzbrett über dem Graben klapperte, als die Nachbarin nach Hause ging.
Auf der Hauptstraße, an der Ecke der dritten Barackenreihe, stand ein Handwagen. Mit vorsichtigen Schritten ging ein Lumpenhändler den Weg, der zu den Baracken führte, hinunter. Er hatte sein Gesicht in einem schwarzen Schal versteckt, ein Mann im Arbeitskittel ging hinter ihm. Die beiden traten in die erste Tür der Baracke, in der auch Takaes Familie wohnte. Sie kamen nach kaum zwei Minuten mit einem großen Bündel beladen, - es sah aus, als sei ein Mensch darin - heraus und luden es auf den Wagen.
Dann fuhr der Lumpenhändler den Wagen in das Hintertor der Fabrik, kam allein zurück und ging in die Gasse zwischen der dritten und vierten Barackenreihe.
Mitten auf der schmalen, ungefähr einen Meter breiten Gasse blieb er erstaunt stehen. Vor ihm standen zwei Burschen, ebenso erstaunt wie er selbst - und diese Jungen hatten ihn gleich an den Augen erkannt, denn der schwarze Schal ließ nur seine Augen frei. Wortlos starrten sie einander an. Der eine Junge war klein und hatte einen lächerlich großen Kopf, der andere lang und aufgeschossen, mit auffallend dicken Backen; beide standen auf Vorposten und sollten gerade diesen Lumpenhändler aufspüren. Aber der war ihnen jetzt über: dieser Lumpenhändler war ihr Meister, und wenn sie mit ihm allein waren, wurden sie ängstlich und feige.
" Sanko!" rief der Lumpenhändler den großköpfigen Jungen an; er verstand nicht, was die Jungen hier machten und suchte in den Bewegungen ihrer Augen ihr Vorhaben zu erkennen.
Alle drei schwiegen und hielten den Atem an, aber bald hatte der Lumpenhändler wieder seine Überlegenheit über diese Burschen gefunden, die nur seine Untergebenen und grüne Jungen waren. "Ihr seid doch noch Kinder, macht keine Dummheiten, habt ihr denn ganz alle Dankbarkeit vergessen?" "Dankbarkeit - -?"
Die beiden sahen sich groß an, Sanko legte den Kopf schief zwischen seinen schmutzigen Kragen und sah den Mann wütend an.
" Dummer Esel", schimpften beide wie aus einem Munde, drehten sich auf den Hacken herum und verschwanden schnell in den Gassen. Dem Lumpenhändler kroch die Furcht vor etwas Unbekanntem von den Füßen über den ganzen Leib. Er zog den Kopf ein, lief schnell den Weg zurück und ging dann eilends über die Hauptstraße.

Zwei Stunden nach dieser komischen Szene stand der Lumpenhändler oben am Abhang des botanischen Gartens allein mit seinem Handwagen; der Mann im Arbeitskittel war nicht mehr bei ihm.
Im Nachmittagswind zitterten unruhig die kahlen Köpfe der Bäume, drüben stand als dunkler Hintergrund die Ziegelmauer der Blinden- und Taubstummenschule und trotz der Wegkreuzung kamen hier nur sehr wenige Menschen vorbei. Der Lumpenhändler ging mit kleinen Schritten an der Ziegelmauer auf und ab.
Jetzt kam ein junger Mann im schwarzen Mantel, mit braunem Halstuch von der Straßenbahn über den Abhang hierher. Der Lumpenhändler beachtete ihn kaum, weil dahinter noch mehr Leute kamen. Der junge Mann steckte die Hand in die Tasche und kam eilig mit gesenktem Kopf heran: kurz vor dem Lumpenhändler zog er ein Taschentuch heraus und schneuzte sich umständlich. Dann nahm er wieder seine frühere Haltung an und mischte sich unter die Passanten. Ein Radfahrer fuhr vorbei, ein Pferdefuhrwerk kam den Abhang herauf, eine Frau, ein Kind, ein Student, ein Mann mit einem europäischen Anzug.
Der junge Mann verließ auffällig den Fußweg und streifte den Lumpenhändler. Im selben Augenblick zog er seine rechte Hand aus der Tasche "Hund!" Er stieß zu, und ehe das Schimpfwort noch verklungen war, stürzte der Lumpenhändler ohne einen Laut nieder.
Die Bäume des Botanischen Gartens zitterten leicht und der Wind trug das Rattern der Straßenbahn herüber - Student, Kind, Frau, Hund, Radfahrer und der Mann mit dem europäischen Anzug waren vorüber - - -. Eine Hand gegen den Bauch gedrückt, stöhnte der Lumpenhändler mit heiserer Stimme: "Ich bin gestochen. "
Als sich aber endlich neue Straßenpassanten um den Lumpenhändler sammelten, war der Junge längst verschwunden.

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