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Sunao Tokunaga - Die Straße ohne Sonne (1931)
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IV. Wir schützen die Fahne

Die Katastrophe näherte sich.
Das geheimnisvolle Feuer hatte den Streikenden den letzten Stich in die Kehle versetzt.
Das System der Streikgruppen hatte überall empfindliche Lücken. Keine Streikgruppe hatte mehr ein Lokal, um sich zu sammeln; wenn sie zu mehreren auf der Straße erschienen, wurden sie auf Grund des "Verbots von Versammlungen unter freiem Himmel" aufgelöst, zerstreut oder verhaftet.
Wäre Hagimura auch nicht in der Polizeizelle eingesperrt worden, seine Stellung zwischen den beiden Richtungen der Streikleitungen hätte ihn weiter gequält. Es gab keinen anderen Weg mehr, als sich auf der Linie von Nakai zu einigen.
Die rechten Elemente, die bis jetzt unter den scharfen Augen der Gruppenzellen nichtsunternehmen konnten, hoben allmählich die Köpfe. Sie erklärten ihr Mißtrauen gegen die Zentralleitung und das Gruppenkomitee, und halfen so, eine niederdrückende Stimmung zu verbreiten. Die Spitzel der Gesellschaft warben jetzt offen für Streikbruch und Verrat, und das Honorar für geheime Mitteilungen von den Plänen und Schwächen der Streikenden wurde immer geringer. Die "Waren", die erst geheim auf Wagen, verdeckt, in die Fabrik geschafft wurden, trugen jetzt Schuhe und Hüte und gingen durch das Haupttor der Fabrik. Die Streikposten wurden zwecklos, einige von ihnen kamen überhaupt nicht wieder. Die Ernährungsabteilungen hatten keinen Reis mehr zum Kochen, die Verkaufsmöglichkeiten der Wanderhandeisabteilung wurden gleich Null. Die Genossenschaft war fast bankrott und in ihrem Laden war nichts mehr zu finden, womit man den Hunger stillen konnte. Der Zentrale der Hyogikai war es wegen der Ausweitung der Front auch nicht mehr möglich, diesen einen Streik weiter zu unterstützen. Der erste Vorsitzende der Streikenden, Takagi, und fast alle Mitglieder der Zentralleitung, Nakai, Hagimura und die andern waren in den Polizeizellen eingesperrt. Das Gruppenleiterkomitee war gleichfalls seines Kerns beraubt, und nur die rechten Elemente blieben. Der Streik war fast schon niedergeschlagen.
Das Gruppenleiterkomitee in seiner augenblicklichen Zusammensetzung erklärte nun auch sein Mißtrauen zur Zentralstreikleitung.
Die Streikgruppenleiter konnten dem Jammern und den Vorwürfen, die sie überschwemmten, nicht mehr standhalten.

Im Büro der Zentralstreikleitung hing die rote Fahne in den Strahlen der Wintersonne; in ihrem roten Tuch barg sie die vielen traurigen und heroischen Erinnerungen des Kampfes. Unter dieser Fahne tagte das Gruppenleiterkomitee. Die Zahl der Gruppenleiter betrug kaum mehr zehn; außer einigen Rechten, die nur auf Grund ihrer langen Tätigkeit in der Fabrik gewählt waren und seit Beginn des Streiks noch nicht einmal verhaftet waren, waren alle andern dritte oder vierte Ersatzleute, die Alten waren verwundet tot oder verhaftet.
Diese Gesichter, um einige rechtsgerichtete Gruppenleiter geschart, waren nun das einzige Organ, das die letzte Entscheidung über diesen großen Streik der Tokio und ganz Japan erschüttert hatte, fällen sollte. Ihre "glänzende Sitzung" wurde mit Jammern begonnen. Sie beharrten in ihren alten Träumen, suchten nach den persönlichen Fehlern der Zentralstreikleiter und formulierten ihre unsicheren Vorwürfe daraus.
1. Die Gesellschaft wird einen Teil der Streikenden wieder einstellen, nach Auflösung der Streikorganisation.
2. Die Streikenden sollen die von der Gesellschaft vorgeschriebenen Entlassungsgelder anerkennen.
3. Die Gesellschaft wird außer den Entlassungsgeldern den Streikenden 20 000 Yen übergeben.
Wer hatte sich die Möglichkeit einer solch elenden Niederlage vorgestellt! Aber das Gruppenleiterkomitee hatte gerade im Augenblick der Entscheidung alles Mark aus den Knochen verloren. Da war nur eine dünne Schnur, die der donnernd stürzende riesige Baum zufällig erst im letzten Augenblick zerriß.
" Wollen wir eine Versammlung aller Streikenden einberufen und die entscheiden lassen", schlug ein Gruppenleiter vor. "Wir wollen lieber jetzt keine Beschlüsse fassen, sondern erst alle fragen." Dieser Vorschlag ließ in der trostlosen Stimmung der Versammelten, die alle Haltung verloren hatten, ein kleines Hoffnungslicht aufgehen. Unruhig glitten die neuen Köpfe hin und her, wie Tropfen von Quecksilber. "Aber wer macht den Bericht?"
Wieder waren sie unentschlossen, weil sie ahnten, daß eine allgemeine Versammlung nicht so ruhig ablaufen würde. Sie wagten nicht, sich dem Wirbel der Vorwürfe und des Geschreis entgegenzustellen, dazu brauchte man nämlich einen festen Standpunkt, ein Auge, das die ganze Sache übersah.
" Das geht nicht, daß das Komitee in diesem Fall zu keinem Beschluß kommt, das ist wie ein Schiff ohne Steuer. "
Aber sie waren auch wirklich keine guten Steuerleute; von den Wogen geschüttelt, klammerten sie sich an das Ruder, um sich nur festzuhalten.
Da hörten sie unten lärmende Stimmen, ein paar Leute kamen die Treppe herauf. Fünf oder sechs aufgeregte Köpfe schrien durcheinander:
" Ihr dummen Biester, wir machen nicht mehr mit, wir machen den Streik nicht mehr länger mit!"
" Zum Teufel, ihr Hunde, ihr habt uns belogen! Die Kerle von der Zentralleitung haben sich verhaften lassen, weil sie Angst hatten, vor uns hinzutreten!"
" Was heißt schon 'Leiter', ihr Ochsen!"
Sie brüllten aus vollen Lungen, einigen kamen die Tränen vor Empörung. Die Gruppenleiter schwiegen verlegen, darauf waren sie nicht gefaßt. "Wenn wir mit solchen Bedingungen einverstanden sind, dann haben wir von Anfang an die Augen zu gehabt. - Räuberbande ihr!" Die Gruppenleiter erschraken; woher hatten diese Leute die Versöhnungs-bedingungen in Erfahrung gebracht, die doch ganz geheim gehalten waren? "Was denn, warum regt ihr euch so auf?"
Kindo, der älteste Gruppenleiter, in schwarzem Arbeitskittel, wollte aufstehen; da sprang einer der Streikenden auf ihn zu, packte ihn am Kragen und schüttelte ihn: "Stell dich doch nicht so blöd an, Kerl!"
Der schmutzige, etwa vierzigjährige Mann, der ihn hielt, bespritzte ihn vor Aufregung beim Sprechen mit Speichel.
" Die Versöhnungsbedingungen kennen wir schon, wissen wir schon -denkt ihr vielleicht, daß wir damit einverstanden sind?" Die andern umringten die Gruppenleiter, und so wurde die Sitzung gesprengt. Unten sammelten sich unterdessen die Streikenden aus all den Gruppen, die kein Lokal mehr hatten. Das Ungewisse Jahresende vor sich, hatten fast alle traurige Gesichter, in denen unruhige Augen verbluten wollten. Sie konnten schon tapfer sein, jetzt aber waren sie so abgekämpft, daß der geringste Widerspruch sie krankhaft erregte. "Hallo, ich habe etwas ganz Unglaubliches gehört!" trat ein Bemützter zu einer Gruppe von etwa fünfzehn Mann und zeigte den Inhalt der Versöhnungsbedingungen .
" Und das Gruppenleiterkomitee hat sich mit den Bedingungen einverstanden erklärt!" Alle Umstehenden wurden blaß.
" Hört mal", flüsterte die Mütze mit funkelnden Augen, "die Leute von der Zentralleitung haben sich mit Absicht verhaften lassen, weil sie nicht mehr weiter wußten. "
Am Winterhimmel hingen tiefe Wolken, und ein Hagelschauer war im Anzug. Die blassen Gesichter wurden müde und kraftlos und sahen in ihrer Empörung seltsam verstört aus.
" Vorsicht, Vorsicht, der Kerl ist sehr verdächtig!" schrie ein junger Mann in Matrosenhose, dem an dem Mann plötzlich etwas aufgefallen war.
" Das sind doch nur Gerüchte, solche Parolen haben wir schon genug gehört!"
Der das rief, war Hisachita, der Lehrling.
Er hatte schon vorher den verdächtigen Kerl gesehen; das war bestimmt Takayama, aus der Zeitungsabteilung, er erkannte ihn, trotzdem er über dem Kimono einen Havelock trug und ganz anders als sonst aussah. Dieser Bursche stieß stets im gefährlichsten Moment zu ihnen, aber wenn es wirklich gefährlich wurde, hatte er sich immer aus dem Staube gemacht. Hisachita hatte nie davon gehört - und er hatte ein verdammt gutes Gedächtnis - daß Takayama auch nur einmal verhaftet war. Hisachita schlängelte sich flink durch die Menge, um sich den Burschen zu greifen, aber der war schon verschwunden. "Wer sich noch in dieser Woche meldet, wird von der Gesellschaft wieder eingestellt, mit Ausnahme der schon Entlassenen..." Auch solche Gerüchte kamen zu den Jammernden geflogen. Die Leute hatten gar keine Lust, auf die Worte Hisachitas, des Kükens zu hören. "Geh zu den Gruppenleitern, wir werden sie fragen, dann wird alles klar."
" Fragt das Gruppenkomitee - -."
Sie hatten gar nicht die Energie mehr, selbst zu untersuchen, woher solche Gründe stammten.
In diesem Durcheinander waren die Gruppenleiter nicht nur nicht imstande, diese Gerüchte als solche zu entlarven, sie bewiesen auch ihre totale Unfähigkeit, das Steuer des gestrandeten Schiffes auf den richtigen Kurs zu bringen.
" Teufel, ihr habt uns belogen, ihr Gauner, was seid ihr für Leiter, ihr seid eine schöne Räuberbande!" "Wir machen den Quatsch nicht mehr mit!"
Sie tobten und schrien und ließen ihrer hoffnungslosen Wut freien Lauf. Dunkel hing die Fahne an der Wand.

Die letzte Generalversammlung der Streikenden wurde eröffnet. Es war Vormittag, die Hagelkörner wurden schräg vom Wind gepeitscht und die Kälte fraß in den mageren Knochen. In der Tempelhalle Densu-in sammelten sich die todwunden Streiker von allen Fronten.
An einer Seite der halbdunklen Tempelhalle stand ein einfacher Tisch, dahinter leuchtete die rote Fahne und zu beiden Seiten die vielen roten Fahnen der Abteilungen.
Die Halle war von uniformierten Polizisten mit heruntergelegtem Sturmriemen bewacht. Unter der Oberfläche des Raumes, wie in einer düsteren Meerenge, strömten wirbelnd die Stimmungen der verschiedenen Richtungen. Man suchte Gelegenheit zu einem Zusammenstoß. Nach fünf, nach zehn Minuten wurde die Spannung zwischen den Strömungen dichter und unversöhnlicher.
Die ermüdeten Elemente, die nachdem Wirrwarr der Gruppenleitersitzung immer mehr verzweifelt waren, wurden durch ihr gemeinsames Mißtrauen gegen die Zentralleitung zusammengeschlossen: sie verlangten den sofortigen Abbruch des Streiks. Die ganze rechte Seite der Halle einnehmend schrien sie ununterbrochen: "Los, fangt an!"
" Wo ist die Zentralleitung, kommt endlich raus!"
Hinten, auf der linken Seite, sammelten sich die Jungen, die auf allen Seiten der Front noch geblieben waren. Zorn und Trotz brüllte aus ihren Mäulern, sie schüttelten die Köpfe über die Verspätung und sahen wütend auf den leeren Vorstandstisch.
Sie waren geschlossen gegen jede Versöhnung. Sie hatten Angst, daß das unfähige Gruppenleiterkomitee, von den Rechten bedroht, diesem Versöhnungsplan zustimmen würde.
Sie waren in der Minderheit. Die ermüdeten Streiker schienen sich gegen die Verführung der Rechten nicht mehr wehren zu können. Die Jungen ließen geschickt kleine Zettel von Hand zu Hand durch die Reihen gehen, auf denen stand: "Gegen jede Versöhnung!" "Mut!"
Aber die vielen, vielen stumpfen Gesichter in der Halle - - diese verzweifelten, resignierten Gesichter machten noch nicht das erste Tausend voll. Die dreitausend Genossen, in den letzten zwei Jahren von der Gewerkschaft geschult und diszipliniert, waren schon zusammengebrochen. Ein Drittel von ihnen boykottierte sogar diese letzte wichtige Versammlung. Von den zuverlässigen führenden tapferen Genossen war niemand zu sehen - sie saßen alle im Gefängnis. "Gegen jede Versöhnung!"
" Organisiert die Befreiung der Zentralleitung!"
Diese Minderheit der jungen Leute wußte, was sie zu tun hatte. Jetzt war dem Gruppenleiterkomitee nicht mehr zu trauen. Die Frauen, die hinten auf der rechten Seite saßen, schwenkten zu den Jungen ein, jetzt, am Abgrund, bewiesen sie eine wunderbare Zähigkeit. "Heraus aus dieser Versammlung, wenn unserer Meinung nicht zugestimmt wird!" schrien Fusa-tjan und Ogin-tjan, wild ihre Köpfe schüttelnd, und standen auf.
Auch unter den Jungen erhoben sich einige und schrien: "Fort mit diesen schamlosen Versöhnungsbedingungen!" In der Halle wurde es lebendig. Von der Seite der Rechten spritzte hohes und verächtliches Lachen auf. Die Frauen erhoben sich empört, um auf diese Provokation zu antworten; bald stimmte einer das Lied von der roten Fahne an, die Polizei schritt ein und verhaftete einige, aber das Lied hörte nicht auf.
Längst war die Eröffnungszeit der Tagung überschritten und noch zeigte sich niemand am Vorstandstisch. Wegen der unversöhnlichen Gegensätze der beiden Richtungen konnte die Vorkonferenz der Gruppenleiter zu keinem Abschluß kommen. "Los, fangt schon an!" Der Lärm im Saal wurde immer größer.
Da sprang ein junger Mann, der seine alte dreckige Mütze in den Nacken geschoben hatte, auf den Vorstandstisch. Von rechts klatschte man.
" Kollegen!"
Mit geröteten Backen schrie der Junge aus voller Lunge. "Wir haben heute drei volle Monate bis aufs Blut gekämpft-." Er keuchte nach jedem Satz wie ein Fisch auf dem Trocknen. "Viele von uns werden im Kerker gequält, viele sind gestorben, viele sind wahnsinnig geworden - -. "
Kunstlos, nur mit der ganzen gesammelten Kraft seines jungen Körpers schlug der Junge jeden Satz wie mit einem Hammer in die Leute hinein. "Aber - diese Opfer haben wir nicht gebracht - um nun diese schamlosen Versöhnungsbedingungen anzunehmen. "
" Jawohl, richtig!" brüllten die Leute, die seine Worte wie Medizin schluckten. Der Junge war nicht berühmt, nicht einmal sehr bekannt unter ihnen, aber seine breiten Schultern sahen so vertrauenerweckend aus, als würde dieser wichtige Moment, in dem er sprach, von diesen breiten Schultern getragen. Der Junge nahm seine Mütze ab und schwenkte sie in der Luft:
" Jetzt holt der Feind zum Todesstreich gegen uns aus - wir müssen ihm das Schwert aus der Faust schlagen oder darunter sterben!" Die Rechten hüllten sich in vorsichtiges Schweigen. Der Junge gab ihrer Stimmung nur neue Nahrung.
" Wir müssen diese Bedingungen ausschlagen, ablehnen und weiterkämpfen!"
Die Linken empfingen den Jungen, als er vom Tisch zurückkam, mit begeistertem Beifall. Aber unter den Rechten flüsterte man sich vorsichtig zu, einer von ihnen stand auf und rief:
" Sofortige Abstimmung über Fortsetzung des Streiks oder Annahme der Bedingungen!"
Am Vorstandstisch erschien jetzt Kindo mit gleichgültigem Gesicht als Vertreter des Gruppenleiterkomitees. Die Stimmung im Saal machte ihn verlegen, er wollte etwas sagen. "Sofort den Beschluß des Komitees!" Die Linken standen auf und rückten näher. Die Rechten drohten mit Abstimmung. Die beiden Richtungen rotteten sich am Vorstandstisch zusammen.
" Das Gruppenleiterkomitee - hat unter Tränen beschlossen - daß wir mit der Annahme der Bedingungen diesen Streik abbrechen - -." Kaum hatte er das gesagt, sprangen die Jungen auf die Tribüne, stießen ihn herunter, unter den Frauen stiegen die hohen schrillen Stimmen hoch - der ganze Saal kochte. "Heraus aus diesem Dreck!" "Heraus aus diesem Saal!" "Die Fahne gehört uns!"
Die Jungen ergriffen die rote Fahne, Leute von den Rechten wollten sie ihnen entreißen. Man rang um die Fahne und ihre Hülle wurde zerrissen.
" Nehmt die Fahne!"
Der Junge, der vorher gesprochen hatte, sprang von der Tribüne herab in den Menschenblock, der um die Fahne rang, er stieß Freund und Feind beiseite, nahm die Fahne und rannte mit ihr aus der Halle. "Heraus! Heraus!"
Die Jungen und Frauen folgten ihm. Draußen stand der Junge, die Fahne im Arm, und schrie: "Schützt die rote Fahne!" "Die rote Fahne!"

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