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Sunao Tokunaga - Die Straße ohne Sonne (1931)
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IV. Das Opfer

Es war beinahe 11 Uhr, als sie nach dem Bericht der Streikleitung nach Hause gingen.
Den Bericht hatte Matsuo, der junge Sekretär der obersten Streikleitung, überbracht, weil fast alle anderen Führer noch in Haft waren. Wir erleben beim Streik der Daido-Druckerei die frechsten Provokationen der Unternehmer gegen die Arbeiter. Wir Druckereiarbeiter ganz Tokios warnen die Unternehmer und verlangen, daß die berechtigten Forderungen dieses Streiks bedingungslos bewilligt werden.
Generalversammlung der Druckereiarbeiter von ganz Tokio "Diese Resolution ist von der heutigen Generalversammlung der Buchdrucker in den Matsumoto-Festsälen einstimmig angenommen und sofort durch die Vertreter den Unternehmern zugestellt worden", referierte der frische Genosse der Frauenversammlung. "Unsere Verhandlungen mit den Unternehmern sind wegen der brutalen Angriffe durch die Polizei eingestellt. Aber wir müssen bereit sein. Dieser Streik ist kein gewöhnlicher Streik wie die bisherigen, es ist ein entscheidender Kampf um unsere Organisation - so liegen die Dinge." Neue Kraft strömte von dem jungen, schlanken, knochigen Mann wie ein frischer Wind auf die Körper der ermüdeten Frauen. Er verschwand eilig und geschäftig, denn noch viele andere Versammlungen der einzelnen Abteilungen warteten auf ihn.
Mit der sinkenden Nacht legte sich die Aufregung der Frauen wieder, und die beiden streitenden Gruppen reichten sich schließlich angesichts des großen gemeinsamen Kampfes die Hand.
" Sei nur ruhig, Kimi-tjan, wenn es nötig wird, werde ich es auch so machen wie du - was denn sonst? Um denen die Kehle zuzudrücken, müssen wir sogar unser Leben opfern", sagte Takae zu Okimi und Fusa-tjan, als sie gemeinsam nach Hause gingen. Die temperamentvolle Fusa-tjan hörte das schweigend an, und Okimi wurde wieder fröhlich.
" Danke, ich verstehe schon - ich bin bereit, und morgen werde ich wieder fleißig meine Seife verkaufen."
Okimi steckte ihr Gesicht aus dem Wollschal und lachte. An der Ecke der dritten Barackenreihe verabschiedete sich Takae von ihren Kolleginnen und ging ihrem Hause zu, wo Okayo auf sie wartete, um mit ihr ins Badehaus zu gehen. Auf dem Wege erzählte Takae von dem was bei der heutigen Frauenversammlung vorgefallen war, dem Bericht der Streikleitung und dem übrigen. Okayo war so andächtig bei der Sache, daß sie unversehens an ein Reklameschild stieß. Es schien, als klammere sie sich an die kleinste Tatsache, um ihre Ängste und all ihre Sorgen zu überwinden, deshalb griff sie auch alles so begierig auf.
Schwester, mir ist so... ich fühle... ich werde Miatji bestimmt nicht wiedersehen... mir ist so... über mir..."
Takae erschrak, wie tapfer ihre kleine Schwester gegen alles, was sie quälte, ankämpfte. Ihre Vermutung, Miatji sei der Brandstifter im Hause Okawas wurde zur Gewißheit. "Aber... es ist gar nicht so schlimm für mich... " Vor Mitleid mit dieser Ergebenheit eines Kindes wie Okayo wäre Takae am liebsten der Schwester um den Hals gefallen.
" Hast du heute die Zeitung "Nichi Nichi" gelesen, Schwester? Da stand was von einem Arbeiter, der sich von seiner Frau getrennt hat, um so besser für den Streik arbeiten zu können, weil sich die Streiklage bei den Daido-Druckern so verschärft hat, - wer kann das sein?" Takae wußte es nicht, aber bestimmt war unter den vielen Streikenden so etwas möglich. Nein, sicher viel häufiger als in der Zeitung stand. "Kimi-tjan tut mir wirklich leid... ihr kleiner Bruder ist blind, hast du das nicht gewußt?"
Okayo arbeitete in derselben Abteilung neben Okimi. Okimi war wohl zwei oder drei Jahre älter, aber noch genau so schüchtern wie Takaes Schwester. Am Himmel blinzelten Sterne, und die Sichel des zunehmenden Mondes stand einsam wie vom Wind blank geweht über dem Haksuan-Wald. In der öffentlichen Badeanstalt drängten sich die Menschen, besonders in der Frauenabteilung schrien die Säuglinge und Kinder im dichten Dampf. Okayo wusch Takae den Rücken, dann nahm Takae den Kübel mit heißem Wasser und bearbeitete Okayos Rückseite. "Schwester, aber warum bekommt denn Kimi-tjan kein Kind?" fragte Okayo, sich leicht herumwendend. Wie kindlich war sie, und sie hatte doch schon einen Freund!
" Ja... man macht das natürlich so, daß man keine Kinder bekommt", antwortete die Schwester lächelnd.
Die Junge schwieg nachdenklich. Mit dem ausgedrückten Waschlappen rieb Takae derb der Schwester den Rücken, der schon weiblicher geworden war. Sie hatte bereits Fleisch angesetzt. "O weh, was tust du denn?" rief Okayo verwundert und sah, sich umwendend, in das vergnügt lachende Gesicht der Schwester. "Weil du immer an ihn denkst, ich wollte dich bloß wecken. " Ihr Lachen war froh und stark, aber die kleine Okayo, die mit in das Lachen einstimmte, lachte nur kraftlos und matt.
" Los wir wollen uns noch etwas in der Wanne wärmen, dann gehen wir. " In dem schon trüb gewordenen Wasser des Bassins sank Takae bis an den Hals ein und atmete tief, als wollte sie alle Müdigkeit von sich fortblasen. Sie sah im Bassin viele bekannte Gesichter, war aber viel zu müde, um ihre Grüße zu erwidern. Okayo kam auch ins Wasser, nachdem sie ihren Seifenkasten gewaschen hatte - in diesem Augenblick bemerkte Takae mit dem Scharfsinn der Frau eine neue Wölbung am Körper der Schwester. Diese Entdeckung drückte sie nieder und machte sie verschlossen und zurückhaltend. "Sie ist schwanger..."
Als sie nach einer Weile im stürmischen kalten Nachtwind heimgingen, bedrückte sie schwere Angst, sie konnte die trüben Bilder, die vor ihr auftauchten, nicht verjagen...
" Ich muß sie selber fragen und ihr einen Rat geben." Es war nur natürlich, daß sie ihrer Schwester mit Rat und Tat helfen wollte, aber sie wußte nicht, wie sie es anfangen sollte, weil Okayo ihr noch nichts darüber gesagt hatte. Es war schon Mitternacht.
Takae legte sich gleich auf ihre armselige Wattedecke neben den alten Vater und wollte wie gewöhnlich noch in einem geborgten Buch blättern, aber es war ihr heute unmöglich, der Schrift aufmerksam zu folgen, zu viele Sachen gingen ihr durch den Kopf.
Sie hörte noch eine Weile auf die kleinen leisen Geräusche Okayos in der Küche, dann schlief sie, müde von den Anstrengungen des Tages
ein.
Spät in der Nacht wachte Takae aus dem Durcheinander der Träume auf.
Sie hörte ganz deutlich ein Geräusch, wie wenn dünne Bambusrohre aneinandergeschlagen wurden... Es war noch lange bis zur Dämmerung.
" Was kann das sein?"
Erschrocken sah sie auf das Bett der Schwester neben sich, aber das war leer. Sie setzte sich auf, auch im Zimmer war Okayo nicht. Das Lager war schon kalt, sie war also schon länger fort. Takae wollte schon den Vater wecken, als sie vor dem Fenster ein Geräusch hörte. In Erinnerung an die gestrigen Ereignisse ergriff sie Angst. Vor dem Fenster floß der Senkawa-Kanal, zwischen den leisen Geräuschen der Nacht hörte sie Menschenstimmen - das war bestimmt auf der Brücke. Sie stand ganz leise auf und trat an die Tür, die sich geräuschlos öffnete, sie war nicht eingeklinkt. Gleich um die Ecke des Hauses war die Brücke, dort sah sie zwei Schatten im Mondlicht. Okayo - der andere Schatten war bestimmt Miatji... aber warum kam er hierher und warum
so spät...?
Sie zog sich unter das Dach des Hauses zurück und schloß den Kragen
des dünnen Nachtkleides.
" Wie unvorsichtig, bei so strenger Polizeikontrolle hierher zu kommen - und dann noch auf diese Brücke, wo er so leicht gesehen werden kann. Aber die beiden standen wie angefroren Hand in Hand an das Geländer gelehnt: sie sah das weiße Nachtkleid und den roten Gürtel Okayos, eingehüllt in den bekannten braunen Mantel Miatjis. Sie wartete fünf oder zehn Minuten, aber sie wollten sich nicht trennen, es sah aus, als weinte Okayo an Miatjis Brust. In der Ferne hörte man die Holzklapper der Nachtwächter. Der Mond kam über den Haksuanwald und lief zum Wald des Seminars.
In Takae stieg die Angst hoch. Natürlich konnte sie verstehen, daß er trotz aller Gefahren hierher kam. Aber es war doch zu gefährlich, auf der Brücke zu stehen.
" Oder will er sich selbst der Polizei stellen?"
Wenn die Polizei ihn jetzt entdeckte, würde Okayo mit ihm fortgeschleppt werden, - das durfte nicht sein, der schwache Körper konnte die Haft nicht ertragen.
Sie haben beide den Verstand verloren - sie raffte sich auf und trat vor das Haus. Aber als sie die beiden Gestalten auf der Brücke sah, schloß sie die Augen. Das auf der Brücke war jetzt eine Welt für sich. "Ach, Quatsch," flüsterte sie vor sich hin und ärgerte sich über sich selbst, daß sie hier als komische Figur herumstand. Dann ging sie wieder ins Haus.
" Bin ich etwa neidisch?"
Sie schlich behutsam auf ihr Lager, um den Vater nicht zu wecken. Aber ihr Kopf beruhigte sich nicht.
Miatjis fest geschlossene Lippen, die breite Stirn, sein männliches Gesicht standen ihr stets vor Augen, obwohl sie nie vergaß, daß er der Freund ihrer Schwester war.
Takae sah das Gesicht Fusa-tjans, die sie auslachte: "Sowas müßte verboten sein."
Der Wecker zeigte bereits halb vier, sie wälzte sich auf ihrem Lager und konnte ein Gefühl der Bangigkeit nicht los werden. In diesem Augenblick hörte sie leise Tritte, die über die Brücke und um das Haus gingen und vor der Tür hielten. Die Tür wurde geöffnet und Okaya trat zuerst herein, weckte die Schwester und sagte: "Einen Augenblick, Schwester, ich habe eine Bitte. "
Takae stand auf und tat, als ob sie jetzt erst wach werde. Okayo zeigte schweigend auf die Tür.
Da stand Miatji.
Takae zog einen Kimono über die Schultern und ging zu ihm.
" Komm herein. "
Dann ließ sie Okayo die Tür schließen und Feuer machen.
Schon als Okavo hereinkam war der Vater aufgewacht und sah den unbekannten blassen Mann unsicher an.
Vater. " Takae beugte sich zu ihm und flüsterte mit ihm. Er gab ein Zeichen des Einverständnisses, aber er legte den Kopf wieder auf die Kissen.
Na, was hast du?"
Takae ging zu Miatji, der, wie es sich gehörte, am offenen Feuer saß.
Er entgegnete leise:
" Ach, es ist nicht geglückt. Du hast wohl in der Zeitung davon gelesen?" Er lächelte traurig, auf seinen Backen lagen die scharfen Schatten der Müdigkeit und des Gehetztseins.
" Umsonst".
Takae sah dem Mann ins Gesicht. Sie schwiegen lange. Aber sie verstanden sich besser, als wenn sie viele Worte gesprochen hätten. Da kam Okayo mit frischer Glut für den Ofen. Ihre vom Weinen geschwollenen Augen blinzelten vom Lampenlicht geblendet. Miatji schob seine Socken herunter, nahm einen zusammengefalteten Zettel heraus und drückte ihn Takae in die Hand.
" Gib das Hagimura oder Nakai, es ist ein Bericht von einem Mann der wichtige Aufgaben bearbeitet. Gib es ihnen bestimmt." Miatji hatte unbedingtes Vertrauen zu Takae.
Sie willigte schweigend ein. Dann sagte Miatji einfach, ohne Zusammenhang:
" Ich werde mich morgen der Polizei stellen." Takae erschrak, aber Miatji fuhr ruhig fort:
" Ich finde es in der augenblicklichen Lage am besten. Das war von Anfang an so beabsichtigt, und jetzt gerade gibt es keinen anderen Weg, um die verhaftete Streikleitung freizukriegen." Er war entschlossen. Takae konnte kein Wort sagen.
Draußen auf der Straße ging die Nachtwache mit der Holzklapper vorbei, dazwischen hörte man das Klirren der Säbel und den Tritt schwerer
Stiefel.
" Jetzt gehen immer Polizei und Nachtwache zusammen."
" Miatji, willst du nicht hier schlafen?"
Als ihn Okayo so fragte, drehte er sich dem Lager der beiden Mädchen
zu und lächelte leise.
" Miatji ist ein tapferer Kerl, aber jetzt kann er doch nicht schlafen, wir
wollen lieber warmen Reis für ihn kochen."
Die beiden Schwestern gingen in die Küche und bereiteten den Reis. Der Mann, der zwei Tage und zwei Nächte lang dem Netz der Polizei entronnen war, folgte mit den Augen den Bewegungen der Mädchen, und
seine Lider wurden heiß.
Okayo bediente ihn, er nahm die Stäbchen, seine schmal gewordenen
Lippen verzogen sich wehmütig:
" Warm."
Der Dampf aus der Reisschüssel hüllte die beiden Gesichter ein, legte sich auf die Lider des Mannes, und Okavos Augen füllten sich mit Tränen.
Abschied auf wieviele Jahre... Takae ging hinaus und ließ die beiden allein.
Die kalte Morgenluft wurde schon heller. Takae sah den Himmel. Sie hatte ein heißes Schlucken in der Kehle. Dann hörte sie, daß Miatji hinter der Tür seine Schuhe anzog.
" Bleib gesund und kräftig", sagte die zitternde Stimme der Schwester.
Der Mann sagte nichts.
" Mach auf, Takae. "
Miatji stieß von innen gegen die Tür, sie ließ die Klinke los. Miatji kam heraus und drückte ihre Hand.
" Ich gehe jetzt, vergiß den Bericht nicht."
Der junge Kommunist drehte sich um und ging eilig fort.
" Schon gut, schon gut, weine nicht."
Während sie Miatji, der sich scharf in der hellen Dämmerung abhob und schnell davonlief, mit den Augen folgte, streichelte sie die Haare der weinenden Schwester wie in den Tagen ihrer Kindheit....
" Weine nicht. Weine nicht."

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