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Sunao Tokunaga - Die Straße ohne Sonne (1931)
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II. Oben und unten

Der Prinzregent war in ausgezeichneter Laune. Als er in dem neuangeschafften Prachtsessel unter dem Baldachin saß und die Schule begrüßte, kamen dem streng kaisertreuen Schulvorsteher Tränen in die Augen.
Die Sonne des Herbstes schien warm und schön.
Seine Hoheit der Prinzregent trat unter Führung des alten Vorstehers in den Garten der Schule, um seinen Gedächtnisbaum zu pflanzen. Weit und hügelig streckte sich der Garten, in dessen Mitte ein großen Teich lag. Es gab viele Bäume in üppigem Grün, Kiefern, Fichten, Zedern, deren dicht verflochtene Äste ihr hohes Alter ahnen ließen. Über ein Tal, in dem kein Wasser floß, war eine Empfangsbrücke gebaut. In eleganten Vormittagsanzügen kamen die Zylinderhüte und Säbel der Begleitung hinter der Hoheit.
Mitten auf der Brücke blieb der hohe Herr plötzlich stehen. Der alte Vorsteher erschrak und sah den Prinzen an. Ein Adjutant sagte verbindlich zum Vorsteher:
" Schöne Aussicht, in der Tat. Ich dachte nicht, daß man in Tokio eine so schöne Landschaft sehen kann. "
Wirklich war die Aussicht von dieser Brücke nach Südosten so schön, daß sie den Aufenthalt seiner Hoheit wert war. In sattem Grün zog sich der Wald vom Grunde des Tals die Hügel hinan. Der alte Vorsteher begann zu erklären:
" Der vor Ihnen liegende Teil wurde zur Zeit der Dynastie Tokugawa angelegt. Vorn der Tempel des Fürsten Tokugawa, er wird Hak-san-Tempel genannt. Ursprünglich war er ein Landhaus des Fürsten. Auf der rechten Seite lag, meiner bescheidenen Meinung nach, das Haus des Prinzen Date und daneben das Haus des Großfürsten Abe!" Die Begleiter folgten dem Finger des Alten.
" Unterhalb des Waldes, am Abhang des Berges, liegt der botanische Garten, dort, wo ehemals der Kräutergarten Tokugawas war. Gerade gegenüber auf dem Berg, der sich bis hierher zieht, stand das Haus des Fürsten Matsudaira, heute Shimizudani genannt." Der Prinzregent, der mit großem Interesse die Erklärungen angehört hatte, unterbrach plötzlich den Vorsteher:
" Dann muß zwischen jenem Berg und diesem hier ein Tal liegen: ich möchte es gerne sehen!" "Wie Hoheit befehlen!"
Der Vorsteher erschrak tief und strich sich über die Stirn, die bis zum Wirbel kahl war. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und sagte entschlossen:
" Dieses Tal hieß früher Senkawa-Kanal. Der Kanal hatte klares Wasser, und das Ganze war von großem landschaftlichem Reiz. Aber jetzt hat man den ganzen Lauf des Kanals mitsamt den Ufern umgegraben, und an ihrer Stelle stehen heute Fabriken und vier Straßen. Etwa 30000 bis 40 000 Bürger wohnen in diesem Tale." Die Zylinderhüte wunderten sich. "Oho - hinter diesem Wald - so, so."
Auch die Uniformen wunderten sich - wenn sie ein Fernglas gehabt hätten, würden sie aus reinem Berufsinteresse festgestellt haben, wie groß der Raum war, den diese Quartiere hinter dem Wald einnahmen. Mit bloßem Auge jedoch konnte man das nicht feststellen. Zum Glück gab sich Seine Hoheit mit dieser Auskunft zufrieden und setzte ihren Weg fort. Der Vorsteher beruhigte sich. Selbst dieser alte Pädagoge, der von den Dingen dieser Welt sehr wenig erfuhr, wußte, daß in diesem Tal, das kaum eine Quadratmeile groß war, das schlimmste Armenviertel Tokios lag. Und er wußte auch, daß dieser früher so schöne Senkawa-Kanal heute alle schmutzigen Abwässer aufnahm, in der Regenzeit im Frühsommer und Herbst über die Ufer stieg und in die Häuser trat, so daß in dieser Zeit die 40000 Bürger ihre Betten unter die Decke hängen mußten. Unter ihnen gurgelte das stinkende Wasser.
Das Projekt, diesen Kanal zu verbessern, war immer ein gutes Objekt für die Referenten der Stadt- und Bezirksverordnetenwahlen. Es war aber im Rathaus noch niemals ernstlich in Angriff genommen worden, und deshalb waren in diesem Frühjahr die Mädchen dieses Viertels demonstrierend in das Rathaus eingedrungen. Der alte Vorsteher wußte das alles, und gerade deshalb fühlte er die ernste Gefahr des Streiks der Daido-Druckerei, die dort lag. Von Tag zu Tag hatte er die Entwicklung der Dinge kommen sehen: Es war zu erwarten, daß es noch an diesem Abend zu Gewalttätigkeiten kommen würde.

Die Sonne spielte von Berg zu Berg ihr Versteckspiel. Niemals kamen ihre Strahlen in das Tal. Die "Straße im Tal" war in Wahrheit "die Straße ohne Sonne". Die Senkawa-Rinne hatte vollkommen ihre alte Gestalt verloren. Über ihr hingen die kleinen Balkone der Arbeiterbaracken; auch die Küchen und die Aborte waren zum Teil über den Graben gebaut. Die Rinne wurde mit Aschehaufen, zerbrochenen Flaschen, Lumpen und Papier zugeworfen und bewies nur durch die periodischen Überflutungen ihre Existenz. Diese Senkawa-Kloake war die Mitte der Straße im Tal und gleichzeitig ihr Symbol. Je weiter man von ihr fort, den Abhang des Berges hinaufstieg, desto reicher wurden die Bewohner; es hieß gleichzeitig, daß man sich von dem schmutzigen Wasser entfernte und der Sonne näher kam. Hier war das Barometer, das die verschiedenen Klassen der Gesellschaft anzeigte. Die Meister und Angestellten fanden nichts Sonderbares daran. Denn auf der Spitze dos Hügels stand das Haus des Okawa neben den großen Häusern des Matsudaira, aus dem bekannten Adelsgeschlecht. Die Daido-Druckereigesellschaft lag in der Mitte des Senkawa-Viertels. Von ihrem Tor führte eine neun Meter breite Straße durch den Berghang mitten zwischen die Baracken: das war die einzige Hauptstraße dieses Viertels. An ihr lagen die Läden der Kleinhändler: Kleine Speisehäuser, Kneipen, Fischläden, Manufakturwarenhandlungen, Apotheken, Schnapsbudiken und die Kramläden, in denen alles zu haben war. Die Fischhändler und Kleinkrämer hatten nicht nötig, schon frühmorgens auf den Markt zu gehen. Auf den Märkten gibt es so früh keine Waren, die für diese Barackenleute passen. Die Händler kannten ihre Konsumenten und die Kaufkraft ihrer Taschen genau. Die Arbeiter verbringen den größten Teil des Tages in der Fabrik und müssen in den kurzen Nachtstunden alle dürftigen Freuden ihres Lebens genießen - essen, in der Kneipe den billigsten Reiswein trinken und in den öffentlichen Badehäusern den Alkohol wieder ausgären - das alles in diese kurze Stunde gedrängt, ist ihr normaler Tag. In kleinen zwölf Quadratmeter großen Kammern, in die kein Licht kommt, leben und schlafen fünf bis sechs Menschen einer Familie. Wenn die Schwester keinen Mann findet, oder der jüngste Sohn nicht in eine andere Familie heiratet, kann der ältere Bruder seine eigene Frau nicht in sein Haus
holen.
" Aber mein Lieber, es ist doch eine Schande, seine Familie auch
nachts noch mit seiner Frau zu belästigen!" Aber das ist kein Witz, das ist bitterer Ernst.
Die Minner und Frauen in der Fabrik kannten sich alle. Das Gemeinsame, das sie verband, war''die Liebe der Fabrik." Aber seit dem Beginn des Streiks fanden sich alle verändert. Sie sahen blaß und verwelkt aus. Die Fabrik war das Element ihres Lebens, die gewohnte Umgebung drückte allen denselben Stempel auf, so daß sie sich gegenseitig, schön fanden. Die Frauen trugen einen schwarzen Kittel und eine weiße Schürze, die Arbeiter ihre Arbeitskleider mit weißen Hemden -das sah bekannt und daher vertraut aus.
Aber jetzt hatten nicht nur die jungen Leute diese ermüdeten, gleichförmigen und schnell zum Zorn gereizten Gesichter. Und nicht nur die Menschen - die ganze Straße ohne Sonne, auch die Ziegelgebäude der Fabrik, die sehr böse und ganz leer und stolz aussahen. Die Kleinhändler der Hauptstraße, die Frauen in den Baracken und die umherziehenden Spielwarenhändler, die von den Groschen der Kinder lebten - alle
waren böse.
Sie fühlten, daß ihnen etwas in der Kehle steckte, sie waren sehr gehetzt, gereizt und ungeduldig. Sie wußten nicht, was es war. "Teufel nochmal, nieder damit!" Immer schienen solche Ausbrüche der Wut auf ihren Lippen zu liegen.

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