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Sunao Tokunaga - Die Straße ohne Sonne (1931)
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Wunden

I. Spaltung

Am nächsten Morgen. Durch den schmutzigen Schnee glichen Straßen,... Uferdamm, Platz, Bergabhang, der Eingang des Polizeiamtes, den Gesichtern der Dirnen, wenn sie am Nachmittag erwachen. Als die letzten wimmelnden Ameisen aus der Vorstadt Oji vertrieben waren, war es bereits ein Uhr; bald darauf begann es zu schneien. Während der ganzen Zeit, bis endlich die schwache Wintersonne den zertretenen Schnee gelb färbte, war in dem Eingang des Oji-Polizeiamtes ein ruhiges Kommen und Gehen von Uniformen und Zivilbeamten. Zerbrochene Gewerkschaftsfahnen - mit schwarzer, klebriger Kruste behaftete Fahnenspitzen; viele Hüte und Mützen, zerbrochene Regenschirme, Stangen, blutgefärbte Taschentücher, Schals, Arbeitskittel... Das alles lag als Beweismaterial auf dem Tisch der politischen Polizei in der ersten Etage, weit genug von dem Lärm auf den unteren Korridoren. Der Chef der politischen Polizei, der Dezernent für Arbeiterfragen und der Chef der Kriminalabteilung unterhielten sich mit dem Vorsteher des Reviers, der einen Verband um den Kopf trug. "Hum, das ist ja allerhand", brummte der Chef, "haben Sie schon die Rädelsführer verhaftet?"
Der politische Chef erinnerte an den Brand der Polizei-Schilderhäuser (Anm.: 1917 gab es anläßlich einer willkürlichen Erhöhung der Straßenbahntarife in Tokio Straßenrevolten, bei denen sämtliche Schilderhäuser der Polizei verbrannt wurden.). "Ja. wir sind gerade bei der Vernehmung... . aber es sind schon mehrere hundert Verhaftete."
Der Reviervorsteher zwinkerte mit seinen rotgeränderten Augen unter dem Verband hervor. Ihm lag vor allem daran, den Kerl, der den Stein auf ihn geworfen hatte in seine Hände zu bekommen.
Na, das hat alles keinen Zweck, die Rädelsführer haben sich doch in
Sicherheit gebracht. "
Der politische Chef war fest davon überzeugt und blies den Rauch
seiner Zigarette durch den Bart.
Um seine Wichtigkeit und Unzersetzbarkeit möglichst augenfällig zu
machen, mußte er einen ganz hervorragenden Schlachtplan entwerfen.
Vor allem mußte er diese Gelegenheit wahrnehmen, um der neuen Regierung seine besonderen Fähigkeiten als guter Reiter zu beweisen. Nachdem er einige von den Belastungsmitteln betrachtet hatte, fand er etwas, das ihn den Atem anhalten ließ. Heftig stieß er den Rauch seiner Zigarette von sich. "Oho, hm -."
Alle sahen hin. Das schwarze Ding war eine glänzende acht Zoll lange Pistole.
" Sie müssen den Platz, wo der Krawall stattgefunden hat, noch genauer untersuchen", sagte der Chef zum Vorsteher der Wache, sah auf seine Armbanduhr und verließ das Zimmer.
Aus der Hintertür des Polizeiamts kamen zwei Sanitäter mit einer Bahre, drängten die Mauer der neugierigen Anwohner auseinander und gingen zum Krankenhaus. Die Leute der Straße mußten fortsehen, so grauenhaft war das, was auf der Bahre lag.

Das Auto des politischen Chefs hielt eine halbe Stunde später vor dem Hause der Gesellschaft für Klassenversöhnung in Onarimon im Shibo-Bezirk. Die Straße »vor dem Hause war vollkommen gesperrt und von uniformierten Polizisten begraben. Als der Chef aus dem Wagen stieg, grüßten die Polizisten militärisch. In Wirklichkeit war hier kein Polizeikongreß, sondern ein außerordentlicher Parteitag der Rodosha Nomin To (Arbeiter- und Bauernpartei), wie die sechs langen Transparente über der Tür anzeigten.
Der Chef ging in den Aufenthaltsraum der polizeilichen Versammlungskontrolle. Seine Augen suchten nach den Detektiven, er erkannte jeden einzelnen: sie hatten ihre Netze gespannt.
Im Saal war die Luft vom Atem der Menschen heiß zum Umfallen. Aber nicht nur auf den Delegiertenplätzen unten im Saal, sondern auch oben im Rang, bei den Zuhörern, brannten helle Augen, wie die der Massen der gestrigen Nacht - bis hoch unter die Decke. Trotzdem war es im Saal still. Das Klappern eines Bleistiftes, der am Platz des Sekretärs zu Boden fiel, drang bis in den hintersten Winkel der Galerie.
Mit angehaltenem Atem starrten die Tausende nach dem Platz des VerSammlungsleiters, der vorläufig noch leer war.
Delegierte aus ganz Japan, von den Bauerngewerkschaften, der Angestelltenunion, von den Suiheisha-Genossenschaftsverbänden (Anm.: Die "Suiheisha" sind die Verbände der japanischen Parias (Eta), zu denen die "unreinen" Berufe (Abdecker usw.) gehören. Diese Kastenbegriffe haben sich von den ältesten Zeiten an erhalten.), zusammen mehrere tausend Delegierte, vertraten die vielfachen Wünsche ihrer Organisationen und bemühten sich nachdrücklich, diese Ansprüche auf diesem außerordentlichen Parteitag zum Ausdruck zu bringen. Auch die Gesichter von Takagi, Nakai und Yamamoto waren unter den Delegierten des Hyo-gikai zu sehen; sie waren sich der ungeheuren Wichtigkeit ihrer Aufgabe auf diesem Parteitag bewußt.
" Die Polizei macht sich schon zur Aufhebung bereit", flüsterte man in den Winkeln der Zuhörerplätze; es schienen Anhänger des linken Flügels zu sein.
" Legale Umänderung des § 3 im Aktionsprogramm der Partei", lautete der Vorschlag der Rechten, wegen dem sie diesen außerordentlichen Parteitag gefordert hatten. Sie wollten mit diesem "Vorschlag" die Spaltung "auf legalem Wege" durchführen.
Dieser § 3 des Aktionsprogramms, auf dem Gründungskongreß vor einem halben Jahre beschworen, war für die Rechten "Brennholz auf dem Rücken des Waschbären auf dem Katji-Katji-Berg (Anm.: Etwa soviel wie "feurige Kohlen auf den Häuptern". Anspielung auf das japanische Märchen vom Hafen, der aus Wut dem Waschbären eine Last Brennholz zu tragen gibt und es auf seinem Rücken anzündet. Katji-Katji bedeutet das Geräusch des Feuerschiagens.), das heißt, sie wollten die glühende Last der Verfolgung und Unterdrückung durch die Polizei nicht auf ihren verräterischen Rücken tragen. Das aber bedeutete vom Standpunkt der Linken nur eine feige Abweichung, Verfälschung der Parolen, Ablehnung der tatsächlichen Forderungen der Gesamtheit der proletarischen Massen. Obwohl dieser Zwist unvermeidlich zur Spaltung führen mußte, konnten sie eine solche willkürliche Abänderung, die vom Kern der Parteiidee ablenkte und der augenblicklichen Offensive des Kapitals auswich, nicht erlauben. "Seht die Massen, die aus den Betrieben und aus ihren Dörfern verjagt wurden: trotz ihrer Wunden verteidigen sie ihre Sache und werden ihr bis in den Tod treu bleiben! Wie kann man untätig zusehen wollen, wie diese Massen vor unsern eigenen Augen zugrunde gehen?" sprach es aus den Blicken der Linken. Aber die Rechten dachten: Jene Position des japanischen Proletariats, die in den Zeiten der günstigen Konjunktur vor und nach dem Weltkriege erkämpft wurde, kann unter den jetzigen wirtschaftlichen Verhältnissen unmöglich gehalten werden. Sie glaubten an die parlamentarische Politik und an periodisch wiederkehrende Finanzkonjunkturen: ein Schritt rückwärts und zwei Schritte vorwärts -so meinten sie. Aber:
" Ein Schritt rückwärts bedeutet immer zwei weitere Schritte rückwärts, nein, es bedeutet sogar Niederlage und Vernichtung. " Die Rechten würden ihre Antwort brüllen - aber Nakai und seine Genossen würden das letzte Wort haben:
" Wir haben das in diesem Daidostreik praktisch erfahren. Die Massen werden es nicht zulassen, daß dieses Spiel noch einmal wiederholt wird. "
Das alles waren grundsätzliche, theoretische Auseinandersetzungen zwischen den beiden Flügeln, die sich so wenig jemals verstehen werden wie Wasser und Feuer. Dazu kam der nicht wieder gutzumachende Fehler der Rechten, die sich durch die Kabinettspolitik des Generals "Sibirien" zu bestimmten Maßnahmen hatten treiben lassen. So war es: die Offensive des Kapitals hatte durch die Hände der Rechten die gewaltige Bombe der Unterdrückung mitten im Lager des Proletariats explodieren lassen.
Die im Sitzungszimmer am Tisch der Versammlungsleitung seit drei Stunden tagende Vorkonferenz, die infolge heftiger Diskussionen zu keiner Einigung kam, erregte im höchsten Maße die Aufmerksamkeit der Polizeibeamten auf der improvisierten Wachstube. Die Fische mit glänzenden Schuppen (Anm.: Nämlich die uniformierten Polizisten.) schwammen im großen Strom, sammelten sich an bestimmten Punkten und schnupperten überall herum. Endlich wurde die Vorkonferenz geschlossen. Trotzdem die Rechten zuletzt nachgaben, hatten sich die Differenzen nur noch verstärkt. Der wichtigtuerische Polizeileutnant flüsterte dem Chef in die Ohren: "Ich glaube, die Rechten wollen keine andern Vorschläge zur Debatte kommen lassen, wenn ihr eigener Antrag abgelehnt oder verschoben wird. "
Der politische Chef nickte lächelnd. Die beiden Vertreter der Staatsautorität fixierten die Plätze der Linken, wo sie das Pferdegesicht Nakais und den runden Rücken von Takagi sahen.
" Da sitzen die Hunde, als wenn nichts geschehen wäre." Er mußte an den gestrigen "Aufstand" denken, und mit der Routiniertheit seines Berufes brachte er seinen Gedankengang zu Ende: "Na, noch einige Stunden, dann kommt die Spaltung. "
Er instruierte seinen Untergebenen und verließ die Wache. Die Atmosphäre im Saal hatte seine Laune gehoben, er fuhr ins Polizeipräsidium zurück..... Aber wenn er nur noch eine halbe Stunde hier im Saal geblieben wäre, hätte sein Gesicht noch mißmutiger ausgesehen als am Morgen beim Verlassen des Polizeiamts in Oji.
Laut außerordentlichem Antrag der Linken beschloß nämlich der Parteitag vor Eintritt in die Tagesordnung:

Resolution
Es ist offensichtlich, daß die schnell aufeinander folgenden Streiks in der letzten Zeit einzig die Folge unverhüllter Unterdrückung der Gewerkschaftsbewegung durch das Kapital sind. Das bedeutet nicht nur eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, sondern ohne Frage vollständige Vernichtung der Gewerkschaften. Es ist nur konsequent, daß die Unternehmer künftig die Koalitionsfreiheit der Arbeiterklasse ganz aufheben wollen.
Wir, die Rodosha Nomin To, protestieren gegen die politischen Maßnahmen der Regierung gegen die Streikenden der Daido-Druckerei und der Oji-Papierfabrik, die sich tapfer gegen die maßlose Ausbeutung und Unterdrückung durch die Unternehmer zur Wehr setzen. Wir verlangen, daß sich die Regierung verantwortet. Die Entwicklung der Ereignisse von gestern abend ist ein warnendes Beispiel. Die Schuld an diesem Ausgang der Ereignisse trägt ausschließlich die Regierung. Wir erheben schärfsten Protest gegen diese Regierung, die nur Handlanger der Unternehmer und Kapitalisten ist.
Rodosha Nomin To.

Diese Resolution wurde vom Versammlungsleiter verlesen und einstimmig angenommen.
Das begeisterte Klatschen der Linken wurde von neuem angefacht, als der Vertreter des Schanghaier allchinesischen Gewerkschaftsbundes begrüßt wurde. Ein Koreaner entrollte das Begrüßungsschreiben, ein rotes, viereckiges Papier, und verlas es mit koreanischem Akzent: "Nieder mit dem Imperialismus!" "Nieder mit dem Militarismus...!" "Halt!"
Die Hand eines Polizisten packte schnell die Schulter des Koreaners. Über die Köpfe der Delegierten, die aufgeregt von den Sitzen sprangen, flatterte das herzliche Geschenk, das rote Papier, und fiel in die Massen. Der leise Gesang Takaes riß mit einem Male sein Bewußtsein aus dem Fieberschlaf. Fettiger Schweiß rann von seiner Stirn... Aber nur für einen kurzen Augenblick der Klarheit konnte er Takae erkennen, die ihm die Eiskompressen wechselte, hörte er das Rauschen der Bäume draußen - dann verschwamm alles wieder, die Dinge hatten noch keinen Bestand. In der Kammer dämmerte es schon leicht, doch in den letzten schwachen Sonnenstrahlen, die durch das Milchglasfenster trieben, erschien das Gesicht Hagimuras in dem weißen Leinen wie eine Totenmaske. Takaes Kopf war so leer wie die Medizinflaschen. Sie mußte zu Hause den kranken Vater und hier Hagimura pflegen - ohne Okayos Hilfe. Auch brannte immer noch die Wunde an ihrer Ferse. "Wird er sterben?"
Seine glanzlosen Augen öffneten sich mechanisch, wie bei einem Maschinenmenschen, aber er erkannte sie nicht.
Während die Medizin mit lautem Schlucken durch seinen Hals floß, zählte das Mädchen wie ein erfahrener Arzt an seinem Arm die Pulsschläge; sie stützte sich auf die schmutzige Decke seines Junggesellenbettes. "Wenn sein Leib morgen kalt ist... Nur einen Tag hat er in der Klinik gelegen, dann wurde er fortgejagt. Wenn er dann drei, vier Jahre tot ist, werde ich zu meiner Kollegin, die neben mir in der Fabrik steht, sagen: "Die haben meinen Freund getötet... !" Und die wird dann antworten: "Brutale Bande, - armer Kerl!" Dann werden wir beide das Lied aus dem Gefängnis singen. Und nach Fünf Minuten werde ich wieder heiter sein, als wenn nichts passiert wäre." "Sterben -".
In ihrem leeren Kopf huschten die Bilder wie ein Rauch vorüber. Würgend stieg es ihr in der Kehle hoch. "Nun, tut es dir weh - -?"
Hagimura verzog sein Gesicht und bewegte den Mund. Doch seine Augen schlossen sich wieder, und wieder versank er in Bewußtlosigkeit, nur seine Lippen zitterten noch leise.
Sie legte ihre Hand auf seine Stirn, wechselte die Eiskompresse und sah die kräftigen Arme des Mannes, die unter der Decke hervorkamen. "Nein, er wird wieder gesund, wird bestimmt wieder gesund...." Sie nahm seine Hand und sagte, sich selbst tröstend: "So kann man nicht sterben - so kann man nicht sterben - so kann man nicht...." Er war für sie die Quelle alles Wissens. Er hatte sie gelehrt, wie man die Welt anschauen muß, er hatte ihr gezeigt, wo die Teufel sind und wer. Der Bücherschrank, der gar nicht zu diesem Zimmer paßte, war ihre ganze Schule. Auf dem kleinen Schreibtisch, der zugleich als Eßtisch diente, lag eine aufgeschlagene Broschüre "Organisatorische Fragen" von Lenin, in der er bis zu seiner Verwundung gelesen hatte. Sie nahm das Heft und blätterte darin, aber sie war viel zu müde und legte das Heft wieder auf den Tisch. Dann hockte sie sich wieder auf. ''Fräulein Takae, die Milch! "hörte sie die Stimme der Wirtin von unten. Sie holte die Milch herauf und wärmte sie im Wasser. Das Fieber schien zu sinken. Von seinem Gesicht verschwand die Röte, und der keuchende Atem ging ruhiger.
Sie fühlte, wie das Leben wieder in seinen Körper strömte und durch alle Adern rann. Sie war sehr froh.
Sie goß die warme Milch in eine Tasse, hielt sie ihm an den Mund und stützte ihn im Rücken. "Hagimura - -. "
Sie mußte ihn erst ein paarmal anrufen, bis er die Augen öffnete und sie ansah.
" Milch. - Willst du nicht - -?"
Er trank mit hastigen und mühsamen Schlucken ein wenig. "Du mußt bald gesund werden - - "
Der Kranke trank ohne Lust etwa einen Viertelliter, dann holte er tief Atem.
" Bald ist alles wieder gut."
Sie wischte ihm den Mund, und als sie die Decke glatt legen wollte, faßten seine immer noch kräftigen Hände ihren Arm.
" Ah, oh - -!" machte sie erstaunt. Seine Augen waren geschlossen, seine Lippen bewegten sich kraftlos, es blieb nur eine Bewegung, aber in der Wärme seiner Hand fühlte sie, was er sagen wollte. "Hab keine Angst, schlaf ruhig, ich bleibe immer bei dir. " Sie hatte ihr Gesicht dicht neben seines gelegt und konnte nur halb ausdrücken, was sie fühlte; sie wurde rot dabei.
Verschämt sah sie auf die geschlossenen Augen des Mannes, dann küßte sie seine Stirn.

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