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Sunao Tokunaga - Die Straße ohne Sonne (1931)
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Zwei Lager

Das Fest der Streiker

"Der mit großer Erbitterung geführte Streik der Daido-Druckerei in der Hisakatastraße im Bezirk Kotshikawa hat noch kein Ende gefunden. Seit der Sperrung der Fabrik dauert er bereits über 50 Tage. Aber die 3000 Streikenden halten noch immer fest zusammen. Der Hyogikai, der Rat der revolutionären Gewerkschaften, sammelt in allen angeschlossenen Verbänden Japans Gelder für den Streikfonds. Es scheint, daß die Streikenden trotz der strengen polizeilichen Absperrungen Hilfe aus Osaka und Hokaido erhalten. Die Gesellschaft hat ihr Verhalten geändert. Seit die letzten Verhandlungen gescheitert sind, beabsichtigt die Daido-Druckerei, alle linksstehenden Arbeiter rücksichtslos auszusperren. - Dadurch erleiden die Kleinhändler in der Nähe der Fabrik den größten Schaden. Dieser Streik wird die wirtschaftliche Lage der Straßen gefährden. Deshalb suchen die von den Straßenanwohnern gewählten Vertrauensleute nach einem Ausweg aus dieser Lage." In allen Zeitungen Tokios wurde dieser Artikel gebracht: "Tokio Nichi", "Nichi", "Asahi", "Yomiuri", "Hochi", "Tomai". (Anm.: Die bürgerlichen Zeitungen Tokios) Die Bürger von Tokio hatten mehr zu tun, sie hatten keine Zeit, sich über derartige Artikel, die zwei, drei Tage hintereinander in fetter Schrift vor ihren Augen erschienen, Gedanken zu machen. Wichtigere Ereignisse nahmen ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Wahl zum Parlament! Schwankungen in der Regierungspartei! Plötzlich wie rote Signale aufspringende Zusammenbrüche der Wirtschaft! Und täglich mehr und anderes.
Wenn der gute Bürger von Tokio nicht an chronischer Gedächtnisschwäche leiden würde, konnte er dabei leicht irrsinnig werden. Aber zu seinem Glück vergaß er selbst die größten Ereignisse, die um ihn wirbelten, wie die Tageszeitung in der Straßenbahn. Er arbeitete und schuftete, er lief an diesem schönen Herbstvormittag herum, wie jeden Tag.
Wirklich, es war ein sehr schöner Vormittag.
Vom Tempeltor bis zum Friedhof des Gokoku-Tempels sammelten sich fröhlich lärmend die Streikenden der Daido-Druckerei. Von der ersten bis zur siebenten Gruppe, mit Ausnahme der vielen Gruppen der S-Abteilung, der Vermittlungsgruppe und Fouragegruppe, versammelten sich ungefähr 2700 Arbeiter auf dem freien Platz, um ihren Kampf mit neuem Mut aufzunehmen.

Das gefallene Herbstlaub auf dem Hügel hinter dem Tempel und der Tempelgarten lagen im Rauhreif. "Gen-tjan - willst du nicht mein Partner sein?"
Ein Mädel mit Backen wie ein runder Reiskuchen und Beinen wie dicke Reisweinflaschen, rief einen Arbeiter an, der neben ihr stand und vor Aufregung die Füße nicht ruhig halten konnte.
" Nein, das will ich nicht. Wenn ich so einen dicken Popo tragen soll, werde ich zusammenbrechen, ehe ich ans Ziel gekommen bin." Das war nicht gerade liebenswürdig. "Haha, du dummer Schlappschwanz."
An einem Baum, inmitten des provisorischen Sportplatzes hing ein Zettel: "Blindes Pferderennen. Ausgewählt aus allen Gruppen." Unter der Sonne, die sie nicht oft zu sehen bekamen, leuchteten die blassen Gesichter der Arbeiter und Arbeiterinnen vor Freude. "Die Männer sind mit verbundenen Augen die Pferde, die Frauen sind die stummen Reiter. Habt ihr verstanden? Wir geben für die Sieger drei Preise. Jeder Preis ein Dutzend Handtücher. Habt ihr verstanden!' Die Komiteemitglieder bestimmten jedesmal je drei Paare, die dem Spielleiter zu melden waren.
Einer rief schreiend mit einem Megaphon herum. Die Leute hatten keine Ahnung von Sport. Besonders Stafettenlauf war allen unbekannt. Sie hielten das vielleicht für den Namen einer ausländischen Medizin. Aber "Blindes Pferderennen" kannten alle.
Auf der linken und rechten Seite bildete sich eine etwa 400 Meter lange Menschenmauer. Alle Augen leuchteten heute; die Massen hatten sich mit der Sonne angefreundet. Abgelegte Blusen und Haoris hingen auf den Ästen oder lagen auf den Steinen umher. In weitem Kreis umstanden uniformierte Polizisten und lauernde Zivilbeamte den Platz. Meist wurde ein Liebespaar als Partner zum blinden Pferderennen ausgewählt. Da sah man einen mageren Arbeiter, einer durstigen Frühlingsblume ähnlich, der ein dickes Mädel trug und unter der Last keuchte.
"Achtung! Eins. Zwei. Drei. Los!"
Eine rote Signalfahne schlug herab; sie rannten los, unsicher wie kleine Kinder, die Laufen lernen. Aufgeregt durch die Signale und Zurufe lief das 'Pferd' blind und hilflos in die Menschenmauer, die Reiterin riß vor Schreck ihre Augen weit auf und lenkte das 'Pferd', indem sie heftig an den Ohren ihres Partners zog.
Wenn die Paare zusammenstießen und stürzten, kamen meist gleich zwei Pferde mit ihren Reiterinnen zu Fall. Das Pferd machte sich am Boden staubig, die Reiterin kugelte herunter, daß man ihr rotes Unterzeug sag. Jubel und Heiterkeit, Händeklatschen und Zurufe. Dadurch angespornt fing eine Tapfere ihr blindes Roß, das sie, ohne sich abzustauben, wieder bestieg.
Etwas abseits von den andern stand Hagimura im Schatten des Tempelturms auf dem Hügel. Hagimura war der Verantwortliche der heutigen Veranstaltung. Zwei Genossen riefen ihn an.
Es waren Yamamoto von der Gewerkschaftsleitung und Yshisuka, der zweite Vorsitzende vom Streikkomitee. Sie verlangten, man solle die heutige Versammlung zu einer Demonstration benutzen. "Das ist unmöglich", sagte Hagimura, nachdem er Yshisukas Gestotter angehört hatte. Bei der ungenügenden Schulung der Arbeiter ist das, trotz der guten Gelegenheit, taktisch unklug. Außerdem hätte er keinen Befehl von der Gewerkschaftsleitung, das sei wieder nur so ein ausgefallener Vorschlag. Sein Gesicht drückte offen Mißfallen aus und er sah scharf auf den kleinen Mann, der mit schiefem Gesicht lächelte. "Warum! Weil wir keinen Auftrag von der Gewerkschaftsleitung haben?" fragte Yshisuka. "Wenn die Gelegenheit so gut ist, muß man doch eine Demonstration machen."
Yshisuka wandte sich um und suchte Zustimmung bei Yamamoto, dem er ein Zeichen machte.
Yamamoto lächelte finster und sagte mit einem sonderbaren Ausdruck in den Augen: "Ich habe schon gehört, daß du ängstlicher geworden bist. "
Der Junge in den zwanziger Jahren schlug bei allen Unterredungen immer einen vorlauten, altklugen Ton an. Hagimura betrachtete ihn schweigend. Als er hinter dem Turm Schritte hörte, nahm er eine Zigarette aus der Tasche und zündete sie an. Die Schritte gingen vorbei.
Hagimura zwang sich, nicht empfindlich zu sein. Seit Yamamoto Berufsrevolutionär geworden war, gab es mit ihm, mit dem er sonst in der Fabrik gut zusammengearbeitet hatte, immer gefühlsmäßige Differenzen, wenn nicht über Theoretisches geredet wurde. ' Dann wollen wir also die Leiter der Gruppen versammeln und ihre Meinung hören", sagte Yshisuka. Yamamoto lächelte immer noch. So ein Beschluß, ohne die Organisation zu fragen, ist wirklich unmöglich, dachte Hagimura.
" Ausgeschlossen", sagte er. "Ich bin absolut dagegen. Ich trage die Verantwortung der obersten Leitung gegenüber. Und außerdem gefällt mir eure hinterlistige Taktik nicht." Er sagte das schneidend und
wandte sich ab.
" Mach dich nicht groß, du Bonze", zischte Yshisuka, seine Gesichtsfarbe hatte sich verändert. "Was?"
Er drehte sich zu ihm. "Hör auf damit!" Yamamoto faßte Hagimura am rechten Arm und wollte ihn beruhigen,
aber der schüttelte die Hand ab und ging fort.
" Feigling", schrie Yshisuka hinter ihm her. Er ging, ohne sich no?h einmal umzudrehen, zu den Massen hinüber.
" Hallo, Hagimura, willst du nicht blindes Pferd sein?" rief ein Gruppenleiter ihm zu. "Gern, ich mache mit."
Er ging zur fünften Gruppe, zu der er gehörte, um sich eine Partnerin zu suchen. Aber er konnte da keine Bekannte finden, weil er wegen seiner Tätigkeit selten in die Gruppe kam. "Wer will von mir getragen sein?" Als er seine Jacke auszog, kam Takae.
" Ich will auf dir reiten." Sie stand in Strümpfen auf der Erde, ihre Backen waren gerötet. "Bravo, ihr beide seid ein schönes Paar."
Neben ihnen klatschten die Leute in die Hände. Als er am Start mit verbundenen Augen herumgedreht wurde, hatte er alles vergessen und sein
Gesicht wurde warm.
" Noch nicht - noch nicht, ich sage, noch nicht", schrie der Spielleiter
heiser hinter ihm.
Takae, die er für leicht gehalten hatte, weil sie so schwach und abgemagert aussah, war nun, als er sie auf dem Rücken hatte, doch sehr schwer. Er trug sie auf den im Rücken verschränkten Händen, die vor Aufregung heiß und feucht wurden. "Bravo, Hagimura, du sollst siegen!" "Taka-tjan, halt dich brav."
Sein Trommelfell dröhnte, und wenn Takae an seinen Ohren zog, dröhnte es noch mehr. Er konnte sich vor Aufregung kaum besinnen, hörte den Lärm der Tritte, die Paare rannten los, er bekam einen Stoß in den Rücken und rannte hinterdrein. Er fühlte seine Beine unsicher in der Luft und stürzte unversehens über die voranlaufenden Pferde. Er war verwirrt, konnte sich nicht gleich erheben und hatte Sand in Mund und Nase. Unwillkürlich riß er sich die Binde von den Augen und sah Takae, die weiter vor gefallen war, sich ihr weißes Bein reibend, auf sich "Schnell, schnell", schrie Takae energisch, sprang auf seinen Rücken und er mußte mit schwitzender Stirne weiterlaufen. Plötzlich fühlte er sich am Arm gepackt. "Aufhören, Hagimura, aufhören!" schrie Takae.
Er zog die Binde von den Augen und sah zwei ihm wohlbekannte Polizeikommissare vor sich. "Was wollen Sie?"
Das klang, als sei er schlechter Laune, weil man ihn im Mittagsschlaf gestört hatte. "Warum verhaften Sie mich?"
Die Kommissare grinsten und zogen ihn schweigend fort. Er konnte es noch nicht begreifen.
Dieser eine Augenblick genügte, um die Stimmung auf dem Platz völlig zu ändern, die Menschenmauer brach auseinander, hier und da sah Hagimura Zusammenstöße mit Polizisten. "Sagen Sie, weshalb, warum verhaftet man mich?" Er versuchte, die Hände, die seine Arme nach hinten drehten, abzuschütteln. "Schuft!"
Der andere Kommissar sprang hinzu, ergriff seine linke Hand und riß ihm den Arm nach hinten.
" Gehen Sie weiter. Auf der Wache bekommen Sie Auskunft!" Er wurde vorwärtsgeschoben und konnte sich nicht wehren. Die beiden Polizisten hatten ihm beide Arme nach hinten gedreht. Er sah, wie sich seine Leute in Haufen drängten und einander zubrüllten. Sie kamen dicht geschlossen auf Hagimura zu, um ihn im Gedränge zu befreien.
" Halt! Wartet doch. Ich komme gleich zurück."
Er beruhigte sie, weil er fürchtete, daß sonst nur noch mehr Opfer in die Hände der Polizei fallen würden.
Vor dem Tempeltor hielten drei Autos mit offenen Mäulern. "Hagimura, deine Mütze."
Takae warf ihm über die Rücken der Knminalbeamten Jacke und Mütze zu.
" Na, deine Freundin ist ein hübsches Mädchen - was?"
Die Beamten ließen seine Hände frei und machten sich über ihn lustig,
während er seine Jacke anzog.
" Halten Sie den Mund!"
Er hatte das kaum gesagt, als er schon in eine Ecke des Autos gestoßen
wurde.
Als er vor der Polizeiwache den Wagen verließ, stieß er auf Takagi, den ersten Vorsitzenden des Streikkomitees, der mit einem Polizeiwagen aus der entgegengesetzten Richtung eingebracht wurde.
" Hallo!"
" Was soll das heißen?"
Takagi wollte etwas rufen, doch Hagimura konnte es nicht mehr hören,
weil sie gleich auseinandergerissen wurden------.
Auf dem Wege zur Zelle fühlte er, daß diese Verhaftung für den Streik von größter Bedeutung werden mußte.
In der Zelle war es so dunkel, daß er nichts sehen konnte. Er war vom hellen Tag in die Finsternis gekommen. - Wenn Takagi schon verhaftet war, mußte auch die anderen Leiter das gleiche Schicksal getroffen
haben.
Was hatte das zu bedeuten?
Als es sich an das Dunkel gewöhnt hatte, sah er neben sich einen jungen
Mann, der seinen Kopf im Halbschlaf an die Wand gelehnt hatte. Moriya
- einer von der S-Abteilung!
" Hallo!" (Anm.: In den japanischen Polizeigefängnissen ist es verboten zu sprechen.) flüsterte er, um die Wächter nicht aufmerksam zu machen.
In diesem Augenblick stieg eine Erinnerung in ihm auf, die er erst
jetzt zu verstehen begann: wie da draußen nach der Sitzung der Streikleitung ein Mann im Dunkeln seine Hand ergriffen und gedrückt hatte -
schweigend, und sofort hatten sie sich wieder getrennt - -. Er hatte damals an diesem Schweigen nichts Merkwürdiges gefunden. Es ist nicht erlaubt an solchen Orten und in solchen Zeiten viel zu reden. Ob dieser Händedruck irgendeine Bedeutung hatte? Abschied für immer?
Tod?

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