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Adam Scharrer - Vaterlandslose Gesellen (1930)
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IX.

Vor mir wickelt sich einer die Binde ab. Er hat am Unterarm eine breite Narbe. Der Arzt besieht sich den Arm und sagt: „Gut!" Der Soldat scheint nicht recht zu verstehen.
„Erledigt!" unterstreicht darauf der Arzt seinen Befund. „Werfen Sie die Binde in den Korb!"
Das Gesicht des Feldgrauen verrät, dass er alles verstanden hat. In höchstens vierzehn Tagen kann er wieder draußen sein. Ob es ihm noch einmal gelingt, mit einem verhältnismäßig harmlosen Heimatschuss davonzukommen?
Ein Glück, dass ich mir unterwegs die Bandagen abgerissen und die Einlagen benutzt habe. Meine Fesseln sind schön rot, prächtig entzündet. Ich stehe, ohne dass ich mich stark verstellen muss, recht jämmerlich auf meinen Plattfüßen. Nach kurzem Verhör bin ich abgefertigt. Ich bekomme neue Bandagen und muss ins Bett.
Ich muss jedoch wenigstens die Bettruhe los sein, wenn ich Aussicht auf Urlaub haben will. Und wenn ich die Bettruhe los bin, dann bin ich schon auf dem Wege nach draußen. Verteufelte Geschichte. Aber ohne Risiko ist nichts, erst recht nichts beim Militär. Nach vier Wochen bekomme ich meinen unterschriebenen Urlaubsschein zurück.
Aus Sophies Briefen leuchtet die Freude auf das Wiedersehen.
Mir ist alles so neu, so ganz anders, ich komme mir vor wie ein Fremder.
Die Menschen scheinen alles als selbstverständlich hinzunehmen : den Hunger, die verlogene Kriegsberichterstattung. Ob auch Sophie so sein wird? Wie oft habe ich von ihr phantasiert. Wie hat es mich gerüttelt,als ich um ihr Leben fürchtete. Und jetzt?
Ich warte absichtlich, bis die Drängenden das Kupee verlassen, gehe dann langsam hinaus und sehe über die sich begrüßenden Menschen hin. Ich sehe sofort ihren blonden Kopf. Sie schaut suchend über und in die Menschen. Irgend etwas hindert mich, nach ihr zu rufen. Ich gehe langsam auf sie zu und reiche ihr die Hand.
„Guten Tag, Sophie!"
„Lütting!" Kein Kuss, kein stürmisches Umfassen. Sie scheint etwas enttäuscht, schaut mit verschleierten Augen an mir herunter und sagt: „Du siehst so traurig aus, Hans, hast du etwas auf dem Herzen?"
„Nein! Manchmal kommt das so über mich."
Sie streichelt mir über die Wangen. „Komm", sagt sie dann, „Anna und Klaus warten vor der Sperre."
Klaus sagt gar nichts. Aber sein Händedruck ist fest. Anna schaut mir stumm in die Augen und sagt nach einer Weile: „Guten Tag, Jung. Nun haben wir dich ja glücklich wieder."
Sie ist älter geworden. Ihr Mund ist hart, ihr Haar von vielen weißen Fäden durchzogen. Ihre Augen sind wie früher, nur ruhiger. Wir gehen stumm zur Straßenbahn. Als Anna und Klaus aussteigen, sagen sie im Gehen: „Also heute abend, aber bestimmt!"
„Ja, bestimmt!"
Dann gehe ich mit Sophie die Treppe hoch zu ihrem Zimmer. Es ist nur wenig verändert. Einen Schrank hat sie sich zugelegt, der neben dem „Altar" steht, auf dem immer noch der bunte Schal Marthas liegt.
Sie bringt mir Zivilkleider und Wasser zum Waschen und gibt mir einen flüchtigen Kuss. Dann bereitet sie das Essen und setzt sich zu mir. Sie mustert mich.
Ich halte ihren Blick nicht aus und sehe fort. Ein Sodbrennen kriecht mir durch den Hals, wie in jener Nacht zwischen den Soldatengräbern.
Ich versuche das Sodbrennen hinunterzuschlucken, suche den Zorn zu unterdrücken. Suche den wahnsinnigen Gedanken zu bekämpfen, dass sie schuld sei, dass ich zur Bestie wurde. Aber es geht nicht. Die Brust wird mir so eng. Die Luft bleibt mir fort. Wie ein Erstickender kämpfe ich gegen die Tränen. Doch der Sturm aus meinem Innern bricht allen Widerstand und wirft mich mit dem Gesicht auf den Tisch.
Sophie ist erschrocken, fragt aber nicht, sondern wartet ruhig ab, bis ich mir die Augen trockne.
„Hans", sagt sie dann, „kannst du mir nicht sagen, was dich bedrückt?"
Aber ich bin schon wieder gefasst. „Es ist nichts Besonderes", sage ich.
Dann essen wir unser Mittagbrot. Auf die Bitte Sophies lege ich mich in ihr Bett und schlafe. Als ich erwache, sitzt Sophie immer noch — oder schon wieder — an meinem Bett. Ich sehe mich um; wo bin ich? Träume ich? Sie streckt mir die Hände entgegen. „Komm, es ist Zeit. Ich wollte dich nicht wecken, du hast gut geschlafen."
Ich nehme alle Aufmerksamkeiten und alle Fürsorge entgegen wie ein Almosen. Ein Soldat auf Urlaub ist weder Soldat noch Mensch. Er ist nichts und hat nichts und lebt von der Gnade seiner Angehörigen.
Den Kuss, den ich Sophie gebe für ihre Liebe, gebe ich ihr wie ein Bettler. Ich weiß nicht, ob sie das begreift, ihre lachenden Augen sind nicht klar.
Ich habe Sehnsucht nach Klaus. Sein Schweigen tat mir so wohl. Mit Klaus brauche ich nicht über die Dinge reden, über die ich nicht reden will. Klaus scheint alles zu verstehen.
Ich freue mich, dass er uns schon vor der Tür erwartet. Martha grüßt aus dem Fenster. An Alfreds Wohnung bleibe ich unwillkürlich stehen. Ich muss erst Lotte begrüßen.
„Ach! Hans!" Ihr von Sorgen gehärtetes junges Gesicht zerfließt einen Augenblick. In einem Waschkorb schläft schon der kleine Maußner. Ich hatte längere Zeit keine Post von Alfred. „Alfred ist doch noch wohlauf?" frage ich.
„Hoffentlich ist es nicht schlimm", antwortet sie merkwürdig ernst.
Klaus drückt verstohlen meine Hand. Ich verstehe ihn auch sofort und sage: „Wenn es schlimm wäre, würde er es Ihnen schon mitgeteilt haben. Sie dürfen sich keine unnötigen Sorgen machen. Grüßen Sie ihn, wenn Sie schreiben."
„Wie lange haben Sie Urlaub?"
„Acht Tage."
Martha steht an der Tür und reicht mir beide Hände. „Bist ja in Zivil", sagt sie. „Ich würde dich bestimmt verpasst haben, wenn du allein gekommen wärst."
„Mein Ehrenrock ist mir zu schade zum Herumlungern."
Sie schaut mich groß an, als überlege sie. Sie lehnt an der Wand, hält immer noch lose meine Hände und sagt: „Ja, du bist es, Hans Betzoldt!"
Wir essen. Mir fällt das Sprechen recht schwer. Von der Wand herab lächelt kalt der Grenadier Georg Fidel. Er ist in Feldgrau, feldmarschmäßig; so, wie er in den Tod ging.
„Du musst dich durchbeißen", sagt Klaus. Ja, wohin durchbeißen ? Ich ahne wohl, was du sagen willst, und du magst recht haben. Aber?
Aber!!
Ich weiß nicht, was in mir zerbrochen ist. Sophie ging betrübt zur Arbeit, und ich blieb beschämt und unzufrieden zurück. Auf alle Fragen, alle Andeutungen dieselbe Antwort: „Was sollen wir machen?" Die Klage hängt an den bleichen Gesichtern, wo die Anklage an allen Ecken emporzüngeln müsste.
„Für unsere tapferen Feldgrauen!" Für sie sind die besten Zigarren, Wurst, Speck, Wäsche, Gamaschen, Leibbinden, Butter, Läusesalbe, Schnaps, alle Herrlichkeiten in allen Schaufenstern. Auf einer der Ansichtskarten liegt einer der Feldgrauen im seligen Traum von dem Likör, der angepriesen wird. Zeltbahnen, Brotbeutel, Tornister, Rucksäcke, Gamaschen in großen Posten zu Tagespreisen. „Für unsere tapferen Feldgrauen." — Viel Geld musst du haben, wenn du zu den Tapferen gehören willst.
Durchhalten! In allen Zeitungen schmieren erbärmliche Schufte an den Dingen vorbei, um die es geht.
„Durchhalten!"
Der Infanterist Alfred Maußner schreibt an Klaus, weil er seine Frau nicht quälen will. „Ich lag zwei Stunden in meinem Blut. Ein Schuss durch den Mund machte mir das Schreien unmöglich. Aber ich hörte noch, wie einer sagte: ,Lasst ihn liegen, der ist fertig, deckt ihm eine Zeltbahn drüber.' Als ich aus der Ohnmacht erwache, ist mein Tornister ausgeplündert."
Nach allen Fronten schwimmt Ersatz, fahren Millionen in den Tod, ununterbrochen; und über den Frieden schwätzen und entscheiden die, die abends ihre Prozente zählen oder in ihren Diensten stehen. So wird niemals Friede werden! Zuchthäusler werden durch kaiserliche Gnade zu Ehrenmännern, wenn sie nach der Ehre gelüstet, mit einzustimmen in das Geschrei der Prozentpatrioten und für sie ihre „Pflicht" zu tun.
Tetsche, der junge Maler, schoss nicht auf die gestandrechteten Belgier und sitzt als „Ehrloser", als Soldat zweiter Klasse auf Festung.
Kriegsgewinnler demonstrieren durch eiserne Uhrketten ihre vaterländische Gesinnung. Die Wissenschaft „beweist", wie vorzüglich wertlose Surrogate für hungernde Arbeiterkinder sind, deren Väter die Kugel erwarten und deren Mütter Granaten drehen fürs Vaterland. Über der geschändeten Erde verdampft das warme Blut der Vaterlandsverteidiger aller Länder und wird eingefangen in klingender Münze von den Patrioten aller Länder, die sich in warmen Betten an ihre Weiber drücken. Die Hunde der oberen Zehntausend verzichten nicht auf ihre Milch und ihre Semmeln. Kriegs dichter streuen ihr Gift in die korrumpierte Presse, um die Millionen zu betäuben, deren Hunger mit den Aktien der Kriegslieferanten steigt. Arbeiterführer essen als kaiserliche Gäste im Hauptquartier, und Rosa Luxemburg und Genossen sitzen hinter den Gittern um der Wahrheit willen. Liebknecht wird als „irrsinnig" und als „ehrlos" erklärt, und Spitzel aller Grade lassen sich durch Orden und Ehrenzeichen ihre Ehre bescheinigen.
Des Vaterlandes Dank ist euch gewiss! Denk es, o Deutschland, dass dein ärmster Sohn auch dein treuester war.
Walter von den Gardegrenadieren stieß einen Unteroffizier zurück, der einen gefangenen Engländer vor das Schienbein stieß, weil dieser glaubte, mit Menschen sprechen zu können. Er wurde von Walter eingebracht und freute sich, dass alles Lüge war von den „Boches". Die Achselklappen hat er im Dunkeln nicht gesehen. Er bat den Leutnant um eine Zigarette. Er büßte, indem er brutal misshandelt wurde, und Walter büßt seine Achtungsverletzung am Stolleneingang. Dreimal zwei Stunden wird er mit Stricken festgebunden.
Ich erwarte Sophie vor der Fabrik. Sie kommt freudig auf mich zu. Arbeiter und Arbeiterinnen reichen mir die Hand. „Betzoldt! Hans! Macht ihr nicht bald Schluss?" Langsam schlendern wir die Straße entlang. Einer nach dem andern verabschiedet sich. Zwei Kollegen drücken mir einen Geldschein in die Hand, und ich nehme an ohne Scham und ohne besonderen Dank. Ich weiß, sie wollen keinen Dank.
Sophie verlässt mich einige Mal vor den Läden, um einzukaufen. Zuletzt kauft sie noch Äpfel, teure, schöne Äpfel, zum Nachtisch.
Einen Augenblick setzt sie sich, als wir in der Stube sind. Sie ist müde. Ich nehme ihre Hände, sehe ihr in die Augen. So hart sind diese Hände geworden, wie steifes Papier, die Haut voller Risse. Ihre Augen so glanzlos, ihr Mund so unerbittlich geschlossen. Ihre Brust eingefallen, welk. Ihr Hals dünner, die Adern treten hervor. Ich will ihr einen Kuss geben und kann nicht, will verbergen, was in mir vorgeht, falle mit dem Gesicht in ihren Schoß.
Sie streicht mir über den Kopf und sagt: „Du musst vernünftig sein, Hans. Wir haben doch alle unser Teil zu tragen. Ich kann doch nichts dafür, was du durchmachen musstest."
„Verzeih, Sophie!"
Ich muss ihr das sagen. Ich habe sie in der vergangenen Nacht abgewiesen und blieb stumm, als sie mein Bett verließ, sich in ihre Decke vergrub und weinte. Sie nimmt meinen Kopf in beide Hände und schaut mir in die Augen. Wir sind so froh, so glücklich.
Ich zeige Klaus den Brief von Walter, berichte von draußen, von allem, was ich sah und hörte. Mir scheint, Klaus ist ein ganz anderer geworden. Und er sagt es auch selbst.
„Solange Alfred hier war", bekennt er, „war es bequem, nach ,Taten' zu schreien. An ihm ist alles abgeprallt, er hat alle schreien lassen und ihnen ihre Arbeit zugeteilt. Aber nun, Hans, kann ich keinen mehr anschreien. Entweder bleibt alles liegen, oder ich muss versuchen, mit List und ruhigen Nerven zu arbeiten, so gut es geht. Das Schreien nützt nicht immer, es kann uns sogar viel schaden. In Schutzhaft sitzen schon genug. Wir müssen die Massen aufklären, hier und draußen. Oder wir sprengen uns selbst in die Luft.
Du kannst auf Sophie stolz sein", fährt er dann fort. „Sie hat sich gut eingearbeitet. Auch Martha ist ein Prachtkerl. Anna war schon zweimal verhaftet, weil man sie denunzierte, dass sie polizeilich gesuchte Personen beherberge. Einmal saß sie zwei Wochen. Bedenke, was sie schon durchgemacht hat! Hier trägt jeder sein Bündel. Wir müssen auch Lotte unter die Arme greifen, damit Alfred beruhigt ist. Auch wir müssen ,durchhalten'. Wer den längsten Atem hat, der hat gewonnen. Also sei vernünftig!"
Ich stehe vor ihm wie ein Schuljunge und sehe an ihm hoch. Er hat beide Hände auf meine Schultern gelegt und macht ein väterlich ernstes, gutes Gesicht. Dann berichtet er von den Mühseligkeiten und Schwierigkeiten der geheimen Agitation, dem Kampf mit den Schnüfflern; aber auch davon, wie nach jedem gelungenen Streich die Gesichter strahlen.
„Bei Sophie gab es Kakao", erzählt er. „Man benötigte Papier für Tüten. Eine fünfzehnjährige Jugendgenossin kommt zu Sophie, lässt sich Flugblätter geben oder ,findet' sie vielmehr und wickelt jedem den Kakao in die von den Flugblättern gedrehten Tüten ein. Auf diese Weise lesen fünfhundert Arbeiter und Arbeiterinnen das, was du für dich hinschreist. Der ganze Betrieb war aufgerüttelt. Sophie und Martha haben sich die Hände gerieben."
Mir wird so warm. Als Anna Kaffee bringt und sich zu mir setzt, so ungebeugt von allem Kummer, und mir eingießt, streiche ich ihr verstohlen über den Arm. Sie lässt mich ruhig gewähren. Nur ihr Gesicht verrät, dass sie sich freut.
Nur einmal waren wir alle zusammen, am Sonntagnachmittag in Ohlsdorf.
Wir sind, trotzdem Tetsche, Georg und Alfred fehlen, ein stattlicher Trupp. Zwei mir noch nicht bekannte Genossen schließen sich an; ein junger, hagerer Schlosser, dessen Kreuz wohl noch zu schmal ist für den Tornister, und ein Arbeiter, der für den Landsturm zu alt ist. Lottes Bruder geht noch an Krücken. Sein Stumpf ist noch nicht abgehärtet für den Holzfuß. Ein paar Arbeitskolleginnen von Martha und Sophie; ein noch junges Mädchen mit Schalkaugen, die die Kakaopackungen auf dem Gewissen hat. Der kleine Paul Maußner wandert von einem Arm zum andern.
In einem der kleinen Lokale lassen wir uns nieder und schreiben an Alfred und Tetsche eine Karte. Auch an Walter, der längst im Priesterwald sitzt, weil sein Knie trotz krampfhaftester Massage heilte, schreiben wir. Als Anna unterschreibt, zittert ihr die Hand ein wenig, ihren Georg erreicht kein Gruß mehr. Alfred geht es besser. Das macht Lotte etwas froher. Sophie kann sogar ausgelassen sein. Klaus und Martha scheinen sich recht gut zu „verstehen". Der kleine Paul Maußner hat Langeweile und wirft die Krücken von seinem Onkel um. Extrablätter verkünden einen entscheidenden Sieg der deutschen und österreichischen Truppen in Galizien.
Ich liebe die Menschen, die hier um mich sind, ich könnte alles für sie tun. Ich bin glücklich, dass Sophie so froh ist und dass sich Klaus und Martha so gut „verstehen". Ich kann so hilfsbereit zu Anna sein und scherze mit dem kleinen Maußner.
Er sitzt auf meinem Schoß, zerrt in meinen Haaren und lacht laut sein unbeschwertes Kinderlachen. Sophie sieht mich an, ihre Augen sind ganz klar geworden. Als wir uns verabschiedet haben, ärmeln wir uns dicht zusammen.

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