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Adam Scharrer - Vaterlandslose Gesellen (1930)
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XIII.

Wir sitzen wieder in blauen Ehrenkleidern; verschiedene haben schon feldgraue Uniformen. An einigen dieser Felduniformen sind noch Blutspuren.
Ich philosophiere diesmal, ob den Trägern dieser Ehrenröcke der Kopf abgedeckt, der Arm abgerissen, der Bauch aufgeschlitzt wurde. Vielleicht habe ich das Ehrenkleid von Georg Fidel an oder von Alfred Maußner. Warum soll in eines Kaisers Rock nur einmal gestorben oder verkrüppelt sein?
„Zählen Sie mir die Vorgesetzten auf, Meier."
„Gefreiter, Unteroffizier, Vizewachtmeister, Wachtmeister, Feldwebelleutnant, Leutnant, Oberleutnant, Hauptmann —"
„Ist das soweit richtig, Weißdorn?"
„Jawohl, Herr Unteroffizier!"
„Sie sind ein Esel, Weißdorn, haben Sie verstanden?"
„Jawohl, Herr Unteroffizier!"
„Ist das richtig, Brachfeld?"
„Nein, Herr Unteroffizier!"
„Sagen Sie dem Weißdorn und dem Meier, was sie vergessen haben!"
„Den Sergeant, Herr Unteroffizier!"
„Serrrr rrrichtig, den Sergeanten!" Der Unteroffizier betont das „Sehr richtig" tief und breit, es ist auch wirklich allerhand!
Aber das ist ja noch nicht alles! Da sind die Kerls schon monatelang draußen gewesen und bekommen mit dem Arm den Winkel nicht heraus, der zu einem exakten Gruß notwendig ist. Ein anderer stellt wieder die Handfläche zu weit nach außen, wieder ein anderer nach innen, der dritte vergisst den Daumen an den Zeigefinger zu legen. Noch nicht einmal die „Grundstellung" sitzt. In solch unmilitärischer Haltung kann man doch keinen Feind besiegen!
Gehen, Grüßen, „Stillgestanden!", „Augen rechts!", „links!" „Rührt euch!" Von Grund auf muss man wieder anfangen.
Wie kann man zum Beispiel jemand totschießen, wenn die Griffe nicht klappen? Was muss der „Feind" denken, wenn ein deutscher Soldat die Kokarde nicht senkrecht über der Nase trägt? Der vergisst doch vor Staunen todsicher das Ausrücken !
Und uns sollen sogar Kanonen anvertraut werden?
Früher benötigte man ein volles Jahr, um den Rekruten so konfus zu machen, bis er von seinen eigenen Minderwertigkeitsgefühlen so beherrscht war, dass er im zweiten Jahr selbst mit Behagen auf den neuankommenden Rekruten herumtrampelte. Nun soll diese Leistung in sechs Wochen vollbracht und daneben noch die Kriegskunst erlernt werden.
Ich bin überzeugt, dass unser Unteroffizier verzweifeln würde, wenn er wüsste, wie grausam draußen die militärischen Regeln missachtet werden. Er lässt uns zwanzigmal auf- und absitzen, bis alles aufs Härchen klappt.
Einmal hat der Kanonier Nr. 4 den Steckschlüssel einen Knopf zu tief im Waffenrock sitzen! Das anderemal hat sich einer beim Aufspringen mit den Händen nicht vorschriftsmäßig gestützt! Dann hat Kanonier Nr. 5 nicht richtig untergeärmelt. Dann macht einer, den das gar nichts angeht, im Eifer den Protzkasten auf, um Granaten herauszuschmeißen! Dann greift wieder ein anderer beim Umdrehen des Munitionswagens die Deichsel verkehrt! Dann hat Kanonier Nr. 3 die Hände verkehrt auf dem Sporengriff! Ein anderer verliert die Mütze, setzt sie wieder auf und läuft nach „Abgesessen" wie toll hinter die Kanone, kommt auch rechtzeitig an und steht wie angenagelt — mit der Kokarde nach hinten. Unser Unteroffizier verzweifelt. Zu seiner Ehre sei gesagt: er meint es gut mit uns, so auf seine Art. Er ist nicht bösartig. Aber nun, als Meier in „Grundstellung" steht und nicht fühlt! — nicht fühlt! — wie ihm seine Mütze auf dem Kopf sitzt, ist Unteroffizier Wurm der Verzweiflung nahe.
„Meier!" sagt er nur, „Meier! 1" — in einem Ton, der schon mehr Bitte ist als Befehl.
Und als Meier seelenruhig auf ihn zustampft, sich drei Schritte vor ihm, so gut er kann, aufpflanzt und die militärische Rückantwort: „Herr Unteroffizier" hinschmettert, da muss sich unser Unteroffizier umdrehen. Er ist so vollständig fertig, dass er die Augen abwenden muss, denn dieser Meier denkt nicht daran, seine Mütze richtig zu setzen. Er muss ohne jedes Gefühl sein. Und doch — ein Glück, dass das nicht immer herauskommt, draußen wird noch ganz anders gesündigt.
Da fährt, dicht hinter Zuzel, einem polnischen Flecken, Artillerie in Stellung und muss über freies Ackerland. Einem Stangenpferd wird von einem Granatfetzen das Maul weggerissen, es bäumt sich auf, schreit so schauerlich, dass mir das Blut zu erfrieren droht, bäumt sich auf und kommt nicht los, steigt über das linke Stangenpferd. Eine zweite Granate schlägt ein, dicht davor. Ein Vorderpferd reißt sich los, das andere reißt die andern nach links herum. Ein Schlagen und Toben beginnt. Ein Knäuel Pferde wird zu Boden gerissen, ohne dass jemand helfen kann. Die Kanone ist bis an die Achse versunken. Schweres Granatfeuer liegt über dem Acker. Die Kanoniere haben keine andere Deckung als die versunkene Kanone mit dem Knäuel Pferde davor.
Ich weiß nicht, ob sie alle vorschriftsmäßig abgesprungen sind, ob einem die Mütze verrutscht ist, ob Kanonier Nr. 4 den Steckschlüssel vorschriftsmäßig zwischen dem zweiten und dritten Knopf des Waffenrockes trug. Als das Granatfeuer schwächer wurde und wir durch die Ackerfurchen krochen auf die uns winkenden Kanoniere zu, gab ihr Unteroffizier kein Kommando mehr. Er lag mit dem Gesicht auf der Erde. Als wir ihn hochnahmen, fiel sein Kopf nach vorn. Das Genick war durchschlagen. Die Erde, die auf ihm lag, war ein blutiger Brei. Einem Kanonier war der Fuß zertrümmert, vielleicht ist er ganz richtig abgesprungen. Aber er wird die „Grundstellung" nie mehr richtig lernen. Einem andern ist ein Splitter in den Rücken gesaust. Wir haben ihm den Rock heruntergerissen und ihn — ohne Helm — fortgetragen. Nichts mehr war vorschriftsmäßig, vielleicht, weil kein Unteroffizier richtige Befehle geben konnte. Das Knäuel Pferde entwirrte sich von selbst, nachdem die Stränge durchschnitten waren. Der Stangengaul erhob sich nicht mehr, er war fast völlig ausgeblutet. Er schrie nicht einmal; als er noch eine Kugel in den Kopf bekam, warf er den Kopf nur noch einmal — als wolle er einen Brummer verjagen — kurz herum, streckte sein zerfetztes Maul mit einem Ruck nach vorn und blieb liegen.
Als wir das Geschütz freischaufeln, fliegt auch ein verbeulter Helm beiseite. Die verwundeten Kanoniere ließen sich alle nach hinten schleppen, ohne sich erst richtig anzuziehen — Herr Unteroffizier Wurm!
„Betzoldt!"
„Herr Unteroffizier!"
„Wo steht Kanonier Nr. 5 in Grundstellung?"
Betzoldt spinnt wieder. Fehlt nicht viel, dann sagt er: Ist vielleicht schon tot, Herr Unteroffizier! Aber es fällt ihm rechtzeitig ein, dass er momentan auf dem Acker in Polen gar nichts zu suchen hat; er ist aber verwirrt, zerstreut, und ehe er Antwort findet, hört er: „Betzoldt! Sie sollten sich schämen!"
Ich sehe Unteroffizier Wurm an. Er sieht ganz zerknirscht aus. Er hält etwas von mir. Ein paarmal habe ich mit ihm über außerdienstliche Dinge gesprochen, und er hielt mich sicher für einen ganz vernünftigen Menschen. Nun stehe ich vor ihm, im Verdacht, seine Loyalität schmählich zu missbrauchen. Ich kann ihm nicht zürnen, könnte auch nicht über ihn lachen. Er ist zweifellos — auf seine Art — ein guter Mensch und ein noch besserer Soldat. Er ist der deutsche Militarismus ohne „Auswüchse". Er ist gut, dumm, kindisch, willenlos, ein exakt arbeitendes Rädchen in der großen Maschinerie, die die Menschen und alles, was Menschen schufen und entwickelten, zu Blut und Schutt und Dreck stampft und brennt.
Unteroffizier Brennecke ist von anderem Holz! Man merkt es schon an seinem Kommando! So an die dreißigmal lässt er uns „auf- und absitzen". Sie pusten und schwitzen und dampfen; wenn sie ihre Frau, Mutter, Kind aus den Flammen holen müssten, sie würden es nicht eiliger haben können.
Ich komme gerade immer noch früh genug, um aufzufallen und muss vortreten.
„Aufgesessen!"
„Abgesessen!"
„Aufgesessen!"
„Abgesessen!"
„Das macht Ihnen wohl keinen Spaß allein?" brüllt er jetzt, „ziehen Sie Ihre Knochen nach, sonst-----"
Ich sehe ihn an, gehe langsam auf den Munitionswagen zu, klettere in aller Gemütsruhe hoch und setze mich. Ich bin Kanonier Nr. 4, sitze in der Mitte und muss drei und fünf einhängen und natürlich auch die entsprechende Bewegung mit den Ellenbogen markieren. Da meine Ellenbogen sehr gesund sind, vielleicht auch, weil ohne die Fähigkeit, dem militärischen Stumpfsinn die humoristische Note abzugewinnen, ein gesundes Hirn einfach platzen würde, klappt diese Verärmelung in der Luft so gut, dass Herr Unteroffizier Brennecke denkt, ich will ihn foppen.
„Kommen Sie einmal her!"
„Herr Unteroffizier!"
„Sagen Sie einmal, Sie Bürschlein, Sie glauben wohl, wir werden mit Ihnen nicht fertig!?"
„Herr Unteroffizier, ich bin schon fertig, meine Knochen sind schon kaputt. Und dann bin ich für Sie kein Bürschlein, verstehen Sie?"
„Halten Sie die Schnauze! Antworten Sie, wenn Sie gefragt werden."
„Ich verbitte mir einen solchen Ton und die Ausdrücke in diesem Ton, soweit sie meine Person betreffen, und überdies haben Herr Unteroffizier mich gefragt!"
„Melden Sie sich sofort beim Herrn Wachtmeister, Sie unverschämter Lümmel!"
„Zu Befehl, Herr Unteroffizier!"
„Kanonier Betzoldt zur Stelle auf Befehl von Herrn Unteroffizier Brennecke."
„Warum?"
„Ich habe kranke Füße und kann nicht schnell genug laufen."
Der Herr Wachtmeister zupft an seinem Bart, lässt seine Schweinsaugen über mich herunterrollen und sagt: „Heute mittag, sofort nach dem Dienst, treten Sie feldmarschmäßig an!"
Ich tue wie befohlen.
Der Herr Wachtmeister reißt mir alles durcheinander, wirft mir die Ehrenkleider vor die Füße, in den Dreck, dreimal hintereinander. Dann ist die Mittagspause um. Nachmittags trete ich mit zum Fußdienst an.
Der Herr Wachtmeister kommt und beäugelt die „Rekruten!"
„Betzoldt!"
„Herr Wachtmeister!"
„Noch mal zurück! — Aber Tempo! Hierher!"
Der Herr Wachtmeister mustert mich von oben bis unten.
Mir imponiert das nicht, und das mag der Herr Wachtmeister mehr fühlen als sehen, denn er brüllt los: „Sehen Sie mich an, in die Augen! Ohne Tritt, marsch!"
Dreimal marschiere ich hin und her, mache „Kehrt", „Rechts um", „Links um", wieder „Marsch" — und alles nicht schnell genug.
„Sie wollen nicht?" Der Herr Wachtmeister singt das „wollen", hört aber sofort auf zu singen, als ich antworte: „Ich bin bereits ein Kriegskrüppel und habe keine Lust, meine Knochen völlig zu ruinieren, Herr Wachtmeister."
Eine Stunde später marschiere ich zwischen zwei aufgepflanzten Gewehren in Arrest.
Ich bin schon wieder vier Wochen Soldat, als ich mich „vom Arrest zurück" melde. Das „Aufsitzen" und „Absitzen" klappt einigermaßen, auch das „Abprotzen" auf dem Kasernenhof. Auch von dem Rundblickfernrohr, dem Teilkreis haben wir einiges läuten hören. Wir wissen außerdem, warum die „Leichte Feldhaubitze 98/09" zwei Geburtstage hat, dass sie 98 eingeführt und 09 mit Rohrrücklauf versehen wurde. Wir wissen, dass die Feldkanone 06 ein Schnellfeuergeschütz ist und dass die lateinische Inschrift, auf die wir unsere Hand beim Schwur legen, auf deutsch: „Des Königs letztes Wort" heißt. Wir kennen die Kriegsstärke einer Batterie, einer Abteilung, eines Regiments und wissen, dass wir uns nach 24 Stunden beschweren dürfen. Wir wissen auch, als wir wieder einmal, einschließlich der Verbrecher, Generalurlaub bekommen, dass unsere Tage gezählt sind.
Sonst wissen wir nichts. Mein einziger Trost ist: man kann uns unmöglich die Verteidigung des Vaterlandes anvertrauen. Wir wären eine „Wacht am Rhein", lächerlicher noch als eine Kompanie mit Tuthörnern ausgerüsteter Nachtwächter.
Aber wir werden trotzdem verladen. Als Teil einer neuen Batterie nach Altona. Von Bahrenfeld, Lübeck, Rostock kommen die andern. Wir liegen in Alarmbereitschaft, treten täglich zehnmal an, wissen nicht, ob wir in einer Stunde oder erst morgen oder in einer Woche nach dem Osten, dem Westen, dem Süden oder nach dem Balkan abdampfen. Keiner darf das Quartier verlassen.
Da ich einer der minderwertigsten Soldaten dieser minderwertigen Batterie bin, werde ich Kanonier des Lebensmittelwagens.
Mein Vorgesetzter ist der Gefreite Stangenreiter Lohmann. Das eine Ohr fehlt ihm fast ganz; über die linke Stirnhälfte läuft eine tiefe Narbe. Die Haut darauf ist noch ganz wundfarben. Er mag an die Vierzig heran sein. Die Schirmmütze, wie sie die Fahrer tragen, sitzt unmilitärisch auf seinem ramponierten Kopf. Der Bart hängt ihm ebenso unmilitärisch neben dem Pfeifenrohr herunter. Er hat so etwas von Menschen an sich, die den größten Teil ihres Lebens mit Pferden verbringen, Zwiesprache mit ihnen führen. Wer sie versteht, den mögen sie gern.
Er geht nach dem letzten Appell noch einmal in den Stall zurück und sagt dort zu mir: „Du wohnst doch hier, Betzoldt, kannst ruhig nach Hause gehen, musst nur morgen früh um sieben hier sein."
Ich bin auch ohne dieses Entgegenkommen bereit, zu verduften, aber eine solche Unterstützung ist viel wert. Ich möchte ihn mitnehmen und sage kurz entschlossen: „Komm mit, Lohmann. Meine Frau würde sich freuen."
„Ist es weit?"
„Wir sind in einer halben Stunde da."
Er antwortet nicht sofort, stopft erst den Tabak in der hohlgebrannten Pfeife zusammen und kippt die Asche aus dem Fenster, dann zieht er ein paarmal kräftig. „Wenn ich euch angenehm bin, komm ich mit."
Wir gehen hinten durch den Garten. Es ist kalt, trockener Schnee wirbelt durch die Nacht. Wir müssen die Kragen an den Mänteln hochschlagen.
Sophie kommt sofort herunter. Sie wartet schon auf den bekannten Pfiff. Es ist angenehm warm in der Stube. Sophie hat Kaffee gekocht.
„Hast Schwein gehabt, Hans, dass wir hier zusammengestellt werden."
Als Sophie — die schon mit der Kanne wartet — Lohmann von neuem eingießt, denkt er wohl erst daran, dass er bei „fremden Leuten" ist und wischt sich den Bart ab.
„Haben Sie Kinder?" fragt Sophie und setzt sich neben ihn auf die Chaiselongue.
„Fünf, alle noch schulpflichtig."
„Wie lange sind Sie schon weg?"
„Von Anfang an, immer in Frankreich. Hoffentlich kommen wir da nicht wieder hin."
„Wie lange könnt ihr bleiben?" fragt Sophie. Sie weiß nicht, dass wir ohne Urlaub sind. Lohmann sieht unentschlossen nach der Uhr. Es ist Mitternacht.
„Ich muss gehen", meint er dann.
„Bleiben Sie doch hier", bittet Sophie. „Gehen Sie morgen früh mit Hans."
Lohmann bleibt schwer sitzen, sagt nichts. Er lässt sich von Sophie die Stiefel ausziehen und zieht ein Paar Pantoffel an. Als sie seinen Mantel vom Bett fortnimmt, bittet er sie, ihn herüberzureichen, nimmt ein Stück fetten Speck heraus und sagt:
„Nehmen Sie dat, Frau Betzoldt!" Er lässt keine Widerrede zu. Man merkt ihm an, es ist ihm ein Bedürfnis, zu danken.
Sophie deckt ihn zu. Er liegt mit dem Gesicht gegen die Wand. Man sieht fast nichts von seinem Gesicht als das zerfetzte Ohr.
Wir schlafen wenig. Um fünf Uhr müssen wir zum Stalldienst sein. Um vier Uhr steht Sophie auf und macht Frühstück. Sie ist ohne Arbeit, kann dann noch schlafen.
„Kommst heute abend gegen sieben einmal hin", verabreden wir uns — „ich komme hinten über den Garten." Lohmann sagt: „Schönen Dank, Frau Betzoldt" und dann zu mir: „Bleib ruhig noch hier, Hans, um sieben ist noch Zeit, ich werde schon fertig." Ich mag ihn aber nicht allein gehen lassen. Einen Tag bleiben wir ja sicher noch; die Batterie ist noch nicht vollzählig, nicht an Menschen und Material.
Wir machen stumm unseren Stalldienst. Lohmann sagt zu mir „Hans" und ich zu ihm „Gustav".
Der Appell am Abend dauert länger als sonst. Alles ist einander fremd. Die Offiziere und Unteroffiziere und die ihnen unterstellte Mannschaft. Zwei Mann fehlen, fehlen immer noch, als schon einige Male abgezählt ist. Ein junger Leutnant fragt einen Wachtmeister verwundert: „Wo sind denn die Leute, wenn sie da waren?" Der Wachtmeister macht ein vorschriftsmäßiges Untergebenengesicht, und als der Leutnant hartnäckig auf Antwort wartet, sagt er: „Entschuldigen Herr Leutnant, einsperren kann ich die Leute nicht!"
„Mal herhören!" vernehmen wir dann. „Die Batterie kann jede Stunde abmarschieren. Es ist streng verboten, die Quartiere zu verlassen."
„Ich muss meiner Frau Bescheid sagen", teile ich Gustav mit.
„Bring se mit rin", sagt er, „draußen könnt ihr nicht stehen."
„Tag, Frau Betzoldt. So gemütlich wie bei Ihnen ist es ja nicht, aber besser als draußen." Gustav schiebt ihr eine Kiste hin und setzt sich selbst auf einen Sack. Auf einem „requirierten" Gartenstuhl nehme ich Platz.
Dann zieht Sophie unter ihrem Cape ihre Markttasche hervor. Sie hat außer einigen Schnitten ein wenig Kakao mitgebracht. Sie wollte den Speck nicht allzu billig haben. Die traurige Ölfunzel brennt verschwiegen schummrig. Die andern sitzen vorn im Lokal oder in ihren Quartieren.
Die Wärme der Pferde macht den Aufenthalt im Stall eben erträglich.
„Waren die beiden aus Rostock?" frage ich. Mich interessieren die Ausreißer.
„Ja", sagt Gustav, „sind junge Kerls, kann's keinem verdenken." Er sagt das seufzend, wie bedauernd, dass er nicht mehr „jung" ist.
„Ein paar", sage ich, „besagen nichts. Alle müssten sie zur Vernunft kommen."
Gustav lächelt schmerzlich. „Vernunft!" wiederholt er dann.
Ein Leben lang hat er geschuftet, hat sich so recht und schlecht durchgeschlagen mit seinen paar Morgen Land, seinen Kindern. Nun ist er fort von seinem Haus aus Mecklenburg. Die Frau kann es nicht schaffen. Fremde Hilfe ist teuer — und ersetzt die Sorgfalt, den Fleiß, den Vater nicht. Das Land bleibt unbebaut oder wird schlecht bebaut. Die Händler und Käufer sind gerissen. Drei Brüder hat er draußen, zwei von der Frau. Alle schreiben sie und jedem will man ein bisschen schicken, sind doch alles arme Teufel, die in der Stadt arbeiteten. Die Verpflichtungen gehen weiter. Die Kinder werden größer, zwei kennen ihren Vater fast gar nicht. Man frisst das bisschen langsam auf, kommt noch gerade zurecht zur Versteigerung — wenn's noch lange dauert.
„Vernunft", sagt er noch einmal und schüttelt den Kopf. „Ich glaube nicht an die Vernunft. Zu viele haben leicht reden. Sie predigen Durchhalten und machen sich an uns gesund."
Ich bringe Sophie über den Garten fort. Von den Dächern tropft Schneewasser.
„Halt den Kopf hoch, Sophl."
„Gute Nacht, Lütting."
Zwei Tage später wird die Batterie verladen, ganz überraschend, kein Mensch nahm die Alarmbereitschaft mehr so ernst. Sie standen schon angetreten, als ich morgens um sieben Uhr von hinten her über den Garten komme. Die Zahl der Drückeberger hat sich auf vier erhöht. Irgendeiner schnauzt auf mich los.
„Wo kommen Sie jetzt her?"
„Von meiner Frau."
Dann schüttelt er — ich weiß nicht warum — den Kopf und lässt mich in Ruh. Es ist bitter kalt geworden. Trotzdem der Wagen voller Pferde ist, hält sich an den Bolzenköpfen der glitzernde Reif.

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