XXV.
Bleiern schleppen sich die Wochen hin, die Monate, durch den Herbst, in den Winter.
Frau Löter rennt die Treppe hinunter, als ich komme. Warum rennt sie so, grüßt so schüchtern?
„Sie hat um ein paar Körner gebeten", erzählt Sophie, „sie trinkt morgens mit ihren Kindern warmes Wasser. Möcht doch ein bisschen zu brühen haben. Sie ging rasch, als sie hörte, dass du bald kommst. Du machst immer ein so finsteres Gesicht, sagt sie."
Ich lache wieder pflichtschuldigst. Was tut der Mensch nicht alles, wenn er am Ende ist?
Sophie verfällt so. Alle Kraft im Körper scheint in den Leib zu flüchten. Sie trägt ihr Kreuz tapfer, schaut aber öfter so gequält um sich. Was nützt aller mühselige, leere Kampf? Die gegenseitige Täuschung verschlingt die letzten Energien, dann sitzt der eine am Fenster, der andere am Tisch, und jeder weiß: Ich bin nicht du, und du nicht ich. Sophies Mund kräuselt sich in stummem Trotz, fällt dann wieder zusammen. Ihr schmerzender Rücken fällt gegen die Wand.
„Was ist dir, Sophl?"
„Lütting — diesmal, glaube ich, muss ich sterben!" Ihre Arme hängen herab, ihr Kopf sinkt vornüber, ihre trüben Augen bohren sich in ihren geschwollenen Leib.
Und immer wieder dasselbe Lied: „Was redest du, Sophie? — Du machst mich so traurig. Ich bin doch bei dir!"
Ist irgendwo noch ein Stück Brot, eine Tasse Milch, ein Ei für eine magere Suppe? Nein! — Dann ist auch der ausgeblutete Körper nicht zu kräftigen, bleiben als Antwort auf den Schrei leere Worte. Was ist da schlimmer: einer verhungernden Mutter „Vernunft" zu predigen, oder selbst Schluss zu machen? Ob sie sich das überlegt? Sie sagt nichts, blickt wieder zur Seite, wie: Quäl dich doch nicht. Weißt ja selbst, was los ist. Lass mich doch. Ist schon gut!
Dieser Blick wirft mich zu Boden, das ausgepumpte Hirn kapituliert.
Das Grauen huscht durch die kalte Stube. Die altmodische kleine Wanduhr perpendikelt geschäftig die Minuten ab. — Ihre Zeit ist nicht unsere Zeit. Rücksichtslos zehrt das Kind am Mutterleib. Sophie steht seufzend auf, wischt sich über die feuchtnasse Stirn, torkelt auf mich zu, schüttelt mich von hinten:
„Lütting, du!"
Weiter nichts. Was soll sie auch sagen? Sie ist zu ehrlich — ehrlicher vielleicht als ich.
Ich gehe zu den Sitzungen, komme zurück, oft recht leer. Die Kräfte, die gegen den Strom schwimmen, sind zu vereinzelt, konstatieren immer wieder den alten Stand der Dinge. Alle möglichen Rezepte tauchen auf: „Lass sie verrecken!" sagt einer, und kommt nicht mehr.
Andere sind bei einer Einbrecherkolonne. Wieder andere leben nur noch von der Entrüstung über das Blutvergießen, ihre Energien lösen sich auf in Hysterie. Die letzten packt der tierische Selbsterhaltungstrieb. Sie schuften Tag und Nacht, sind ununterbrochen auf der Jagd nach dem Fressen. Wollen sich auf diese Art über die große Zeit retten.
Abenteurer tauchen auf, Spitzel lauern überall.
Die Massen der Arbeiter bleiben stumm, nur in den Tiefen treibt die Strömung, gelegentlich ein Ausbruch in den Versammlungen, aber nichts organisatorisch Greifbares, nur immer ein Echo.
Und doch immer wieder dieses Echo. Es fehlt der Anstoß — nur der Anstoß!
Ich grüble, was ich ohne Sophie beginnen würde.
Ich werde provozieren, in Versammlungen alles, alles sagen, werde ihnen zum Tanz aufspielen, und dann: — Krach! Dann lass sie machen, was sie wollen. Ja, das werde ich tun. Das müsste jeder tun!
Aber ich kann das nicht, wegen Sophie. Wenn sie stirbt,... dann!
Soll sie deswegen sterben? — Oder soll ich, trotz ihr, meinen Weg gehen, fort von ihr?
Ich komme wieder von der Arbeit, aus dem vollgepfropften Zug, gehe hungrig durch die Straßen, allein, zu ihr.
Sie lächelt, hat Kartoffeln bekommen, und Gustav schickte etwas Butter. Und Säuglingswäsche zeigt sie mir, von Frau Neumann, der Kartoffelfrau, in blaue Bändchen gefasst, und sagt: „Ich freue mich so!"
Und ich habe das Bild vor mir: tot, kalt, Blumen. Ich erschrecke.
„Komm gleich wieder, muss rasch gehen." Ich nehme die Toilettenschlüssel und lasse mein fieberndes Hirn verhämmern, komme zurück und bin doppelt zärtlich. Sie weiß ja nicht, warum.
Es ist Weihnachtsabend, Sophie kann kaum mehr die Treppen gehen. Ich hole den kleinen Kuchen vom Bäcker — aus grammweise erspartem Mehl, die Marmelade — „extra Qualität" — zum Fest, das Näpfchen Pferdeschmalz, das man für Sophie zurückstellte. Sie hat auch schon „Verbindungen".
Als sie mir mein Geschenk überreicht, zwanzig Zigaretten, strahlt sie.
Was soll ich ihr schenken?
Sie beruhigt mich: „Lass nur Lütting — dich kleidet das gar nicht. Gibst mir ja alles, alles, was du hast", und küsst mich, wird übermütig: „Schenk dir ja noch was Schöneres, freust du dich?" Sie steht vor mir, durchglutet von Mutterglück, unsere Körper berühren sich. Sie nimmt meine Hand, führt sie an ihren Leib und sagt: „Merkst du, wie sich das Kind bewegt?"
Ich tue nichts und sage nichts — und sie erwartet nichts. Sie streichelt mir — wie so oft — über den Kopf— und schneidet den Kuchen an.
Eine Spannung vibriert in mir, in allen Genossen, der Blick ist auf die Januartage gerichtet. Die erste große politische Kraftprobe steht bevor: Massenstreik der Munitionsarbeiter.
Ob es gelingt, durch einen kühnen Vorstoß die wirbelnde Strömung zu erfassen? Wuchtend liegt der Belagerungszustand auf den Schultern der großen Arbeitsarmee.
Sophie rechnet: „Wenn alles stimmt, komme ich dieser Tage gerade zu liegen, dann brauchst du nicht erst Urlaub zu nehmen. Vielleicht schaffen wir's überhaupt, was meinst du?"
In den Betrieben fragt man: „Was wird nun, geht es bald los?" Die Arbeiter fühlen, dass eine unterirdische Organisation den Hebel ansetzt, sie als Massen aufmarschieren zu lassen, an einem Tage, mit einem Schlag. Das „A" stand schon in allen Flugblättern. Das „B" ist unterwegs: „Montag, den 7. Januar, beginnt der Massenstreik!"
Eine ungeheure Hetze gegen die „revolutionären Obleute" setzt ein. „Unverantwortliche Elemente wollen die Arbeiter ins Unglück stürzen." — „Verbrecher am Vaterlande!" — „Jetzt, wo alles doch nur noch Wochen zusammenzustehen braucht, um den Sieg zu erringen."
Die Einschüchterungsversuche beginnen. Die Drohung mit dem Heldentod soll wieder schrecken.
Ich gehe am 7. Januar pünktlich fort. Sophie ist „wohlauf". — „Wenn du kannst" sagt sie, „komm für einen Augenblick nach Hause und sage mir, was los ist, ich bin dann ruhiger."
Die Funktionäre beschließen, dass nach der Frühstückspause die Arbeit nicht wieder aufgenommen wird. Die Vertrauensleute haben in geschlossener Kolonne und demonstrativ die Arbeit zu verlassen, zum Zeichen für die Belegschaft. Wo Abteilungen in den Streik treten, sollen sie die Tore nicht einzeln verlassen, sondern andere Abteilungen ermuntern, den ganzen Betrieb so aufrollen, der Betrieb wieder, wenn nötig, den ganzen Flugplatz.
Es klingelt nach der Pause. Die Meister, Vorarbeiter, Volontäre, Spitzel, stehen — laut Instruktionen der Betriebsleitung — inmitten des Saales um die Meisterbude angetreten, um jeden „Rädelsführer" zu erkennen. Die Arbeiter gehen verlegen an ihre Plätze, suchen zwischen den Werkzeugen, rücken die Bänke ein. Zickel — sie nennen ihn Oberammergauner — erscheint im Saal, grinst zufrieden und verschwindet wieder, läuft durch alle Abteilungen. Brunner arbeitet eifrig. Krüger steht unschlüssig, Langenscheid schaut zu mir her, geht dann an mir vorbei und sagt leise: „Komm!"
Ich folge ihm in die Toilette. „Mensch!" sagt er, „jetzt wird's brenzlich! Jetzt heißt es, den Hunden ein Schnippchen schlagen. — Hier! kleb den Zettel am Brett an; ich renne rasch in die Tischlerei, vielleicht kann ich die rüberholen."
Auf dem Zettel steht mit Bleistift geschrieben:
„Arbeiter, lasst euch nicht einschüchtern! Werdet nicht zu Streikbrechern! Legt die Arbeit nieder!"
Ich gehe in raschem Tempo am Schwarzen Brett vorbei an meine Bank, dann mit den Werkzeugmarken und einem Bohrer wieder zurück, zur Werkzeugausgabe. Auf dem Rückweg bleibe ich vor dem Schwarzen Brett stehen und lese in den Bekanntmachungen des „Oberkommandos in den Marken".
Als ich wieder an meiner Bank stehe, sammeln sich vor dem Schwarzen Brett bereits die „Neugierigen" und lesen, bleiben stehen, immer mehr kommen. Auch ich gehe wieder zurück und „lese".
Meister Horn kommt und fragt: „Was ist denn hier los?" Er steht schon mitten unter dem Haufen. Krüger bricht das Schweigen: „Den hat wohl Zickel angeklebt!"
Der Bann ist gebrochen. Die Abteilung verlässt den Betrieb.
Der Hof ist schwarz von Menschen. Riedel kommt über den Hof gestampft und gibt Auskunft: „Alles ist raus!" Langenscheid rennt rasch zurück und zieht sich um. Die Arbeiter und Arbeiterinnen gehen schweigend zum Tor hinaus, über den Flugplatz, sehen die Arbeiter der anderen Betriebe nach dem Bahnhof marschieren. Ihre Augen beginnen zu leuchten: Einer für alle, alle für einen!
Versammlungen, auch unter „freiem Himmel", sind verboten. Wir marschieren in den verschneiten Wald, versammeln uns dort. Drei Kollegen werden bestimmt, die das verbindende Glied mit der Streikleitung bilden, unter ihnen Langenscheid und Riedel. Aller Streit ist verschwunden. Riedel wird auf die Schultern zweier Kollegen gehoben und sagt:
„Kollegen und Kolleginnen 1 Ihr wisst wohl alle, um was es geht. Wenn wir in den nächsten Tagen vielleicht nicht immer zu euch sprechen können, lasst euch nicht einschüchtern. Fallt nicht auf die Schwindeleien herein, die nicht ausbleiben werden. Die Vertrauensleute werden euch immer auf dem laufenden halten. Jetzt heißt es durchhalten — für uns! Jetzt gilt es zu zeigen, dass wir zu kämpfen verstehen!"
Ein Ruck geht durch die Reihen. Die Uneinigkeit ist verschwunden. Endlich! Riedel steht mit entblößtem Kopf über den Massen, sein langer Bart flattert im Wind. Sein mageres Gesicht ist wie versteinert. Seine schwarzen Augen springen unruhig hin und her, aufrüttelnd, wie der Groll seiner abgehackten Worte.
Die Vertrauensleute geben Auskunft über das Verbindungslokal. Wir müssen eilen, um nicht von den aufgebotenen Schutzleuten oder Truppen aufgestöbert zu werden.
Der Zug marschiert nach dem Treptower Park, Die großen Plätze sind abgesperrt. Schützenketten mit scharf geladenem, entsichertem Gewehr sind darüber hingezogen. Aber immer zahlreicher werden die Massen, die um sie herum marschieren, stumm, hungrig, frierend, erbittert. Die ganze Armee der Polizeispitzel in Zivil versucht sich unter die Demonstranten zu mischen, um den zu haschen, der es wagt, ein Wort zu den Aufständigen zu sprechen, das alle erwarten. Die Stoßkraft der Rebellenarmee soll durch erzwungenes Schweigen erschüttert werden.
Die einzelnen Betriebsbelegschaften kommen auseinander, verlieren den Anschluss. Jeder fühlt: Das Schweigen muss gebrochen werden, ein trotziger Appell die Antwort auf zermürbenden Terror sein.
Am Karpfenteich unterbrechen wir unsern stummen Marsch. Alle zuverlässigen Vertrauensleute werden herangeholt. Um Langenscheid wird eine dicke Mauer gebildet aus zuverlässigen Arbeitern und Arbeiterinnen. Dann duckt er sich, stülpt einen Kopfschützer über die Ohren, einen großen schwarzen Filzhut über seinen Schädel, einen dicken Schal um den Hals und zieht sich einen ihm viel zu großen Paletot an. So heben sie ihn auf die Schultern. Aller Augen hängen an ihm, als er spricht:
„Arbeitsbrüder und -Schwestern! — Das Maß ist voll! — Wir lassen uns nicht länger wie Vieh behandeln! — Lieber für die Sache des Proletariats sterben, als für den Kapitalismus und Militarismus länger morden und hungern! — Wir ziehen in die Stadt, vereinigen uns mit unseren Brüdern zur Demonstration gegen den Krieg!-------"
Dann verschwindet Langenscheid wieder, zieht sich seine blaue Marinejacke an, setzt seine Schirmmütze auf und geht als harmloser Mitläufer mit im Zuge, die Köpenicker Landstraße entlang.
Sie wollen gemeinsam bekunden: Man kann nicht Millionen mitsamt ihren Kindern vernichten, ohne dass sie auf ihre Weise dagegen protestieren. Noch wollen sie weiter nichts! Eine Ahnung, von weither noch dämmernd, mag sie beschleichen, dass erst der Anfang gemacht ist, der Aufmarsch sich erst vollzieht zu der großen Schlacht, in der andere Kräfte in den Schützengraben ziehen. Nicht an den Grenzen der Vaterländer entlang, sondern durch sie hindurch, die Front der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter. Aber den Weg, den sie heute marschieren, hat noch nicht das klare Bewusstsein, sondern der Hunger erzwungen, es ist der Weg der friedlichen Demonstration.
Da stehen sie schon vor einem Trupp berittener Schutzleute. „Zurück!" schnauzen die bespornten Vaterlandsverteidiger dem „inneren Feind" entgegen.
Sie stutzen. „Was wollt ihr von uns! — Sollen wir willenlos verrecken?!"
„Zurück!"
Sie, die morgens mit wehem Herzen von ihren rachitischen Kindern gehen, deren Väter sterben und faulen im Eisenhagel und Gas, spüren mit einem Male die kalte, unerbittliche Verhöhnung. Ein Stück Papier fliegt einem Gaul unter den Bauch. Er tänzelt, der Reiter stutzt, zieht seine lange Plempe, reißt den Gaul herum. Die Front der berittenen Blauen formiert sich zur Attacke, die Säbel sind gezückt, die Pistolentaschen geöffnet. — Doch die Massen stehen, stumm, Hohn in den Gesichtern. „Zurück!"
Warum zurück! Sie begreifen das nicht, glauben nicht an die Vollendung der Provokation.
Bis sie heranreiten, mit den seitlich antänzelnden Gäulen die ersten zu Boden zu werfen suchen, um durch die Panik die Reihen mürbe zu machen zum Durchbruch. „Zurück!"
Doch sie halten stand! Einer fällt dem Gaul in die Zügel, der Reiter haut auf ihn nieder. — Doch ehe er sich versieht, ist er 238
vom Pferd gerissen. Die Staatsautorität liegt im Dreck, die Plempe fliegt über den Zaun in den Schnee. Wie ein Blitz fährt es durch die Reihen: Eure Macht ist nur die Kehrseite unserer Schafsgeduld.
Aber auch die Berittenen weichen nicht. Unsterbliche Schande, vor dem Pöbel zu kapitulieren. Sie kehren kurz um, wenden von neuem zur Attacke — und werden empfangen mit einem Bombardement von Steinen und Zaunlatten. Die Gäule bäumen sich. Eine niedergerittene Frau schreit — ihr Schrei peitscht die Massen zum Sturm.
Die Berittenen werden an die Straßenkreuzung gedrängt. Da entdecken die Massen das Eckhaus, dessen zweiter Ausgang hinter den Rücken der Berittenen führt. Im Nu sind die Blauen umringt. Ihre Verwirrung auf den — so unglaublich geistlosen — Gesichtern reizt zum Lachen. Sie wenden — und sprengen davon, unbehelligt.
Sie sollten die Demonstranten an der äußeren Zone aufhalten, damit der „Verkehr" nicht gestört wird. Nun stehen diese vor der herauffahrenden Straßenbahn.
„Stopp! — Schmeißt den Krempel hin!" ermuntern sie den Führer. Der schaut ungläubig aus seinem Pelz. Der Schaffner verlässt den Wagen und sagt: „Seid vernünftig. Wir machen Schluss!"
Die Fahrgäste jedoch sind erzürnt. Eine Dame im eleganten Pelz entrüstet sich: „Was ist denn hier los?" Sie stellt ihren zitternden Pintscher beiseite, schaut empört durch ihre Guckschere und fährt fort: „Fahren Sie los! Sie sehen doch, die Leute sind betrunken!" Einige steigen aus, gehen schweigend, oder verstohlen lächelnd, fort. Andere zucken die Schultern, debattieren heftig, wie: „Schöne Zustände! Sind wir denn hier in Russland?"
Der Fahrer will in die Massen fahren. — Da springen sie auf den Wagen. Er zückt die Kurbel: „Der erste, der herkommt!"
----------Da wird er schon von hinten gepackt und über die
Vorderseite der Plattform gelegt. Seine großen Filzstiefel kommen hinten hoch wie die Füße eines tauchenden Enterichs. Sie bringen ihn wieder ins Gleichgewicht und halten ihn fest.
Das Weib, das er mit der Kurbel bedrohte, reißt einem Kriegskrüppel den Stock fort und beginnt:
„Der—er—ste—der—her—kommt!" Haut ihm mit beiden Händen bei jeder Silbe eines über den Allerwertesten und sagt dann: „Lasst ihn los!" Dann zu dem Zappelnden: „Verdufte, sonst bekommst du noch eine Ladung."
Ein Gesicht taucht aus der Versenkung auf, aus dem die Augen stieren, als ginge die Welt unter. Doch er besinnt sich rasch, läuft mit seinen großen Stiefeln eilig über die Straße. Die Fahrgäste verschwinden gleichfalls. Keinem geschieht etwas. Der Zug geht weiter an dem unbeschädigten Wagen vorbei. Da taucht schon ein zweiter Wagen auf. Fäuste heben sich wie Haltesignale — doch umsonst. Aber er kann nicht auf den stehengebliebenen Wagen auffahren — das ist sein Verhängnis. Eine Wut fährt durch die Menge. Sie stürzen den Wagen um. Einige „unerschrockene" Herren protestieren: „Friedliche Bürger überfallen!" — „Kein Recht, den Verkehr zu stören." — „Die Zeit nicht gestohlen." „Wir auch nicht! — Raus!" „Wer gibt Ihnen dazu das Recht?"
„Was heißt hier Recht! Wir haben genug gehungert und geschuftet."
„Die Blauen!"
Wie ein Alarmruf pflanzt sich der Schrei fort. Von unten her knallen scharfe Schüsse. Dann tauchen die Uniformen einer im Laufschritt vorgehenden Patrouille auf, die über die ganze Straße und über die Fußsteige kommen. Sie schießen scharf über die lange gerade Chaussee. Fenster fliegen zu. Alles verschwindet in den Häusern.
Ich stehe mit noch einem Kollegen in einem Flur, in den auch ein Trupp Arbeiterinnen geflüchtet ist. Die schießenden Vaterlandsverteidiger rennen vorüber wie zum Sturm.
Keiner weiß, was draußen vorgeht. Hie und da dringt ein Schrei zu uns. Schatten huschen hin und her. Man sieht es durch die Glasfassung in der Tür. Oben im Hause werden die Türen verschlossen.
Die Arbeiterinnen stehen eine halbe Treppe höher. Wir gehen ebenfalls die halbe Treppe hinauf.
„Wir müssen jetzt ganz ruhig sein", bemerke ich.
„Wenn Sie uns von draußen gewahr werden, kommen sie, und wir sind wehrlos."
„Wir haben doch gar nichts gemacht?"
„Haltet die Schnauze, sonst rufen sie noch von oben nach ihnen. Denkt ihr, hier wohnen lauter Arbeiter?" sagt mein Kollege. Ich suche im Flüsterton zu beschwichtigen, habe das Gefühl, dass die Straßen „gesäubert" werden. Ich weiß, wie sie hausen dem „Feind" gegenüber.
„Hast wohl die Hosen schon voll?" bemerkt eine Unverbesserliche.
Nun geht das Kichern los.
„Blödsinnige Gesellschaft!" schimpft mein Kollege, muss aber selbst lachen.
Da wird die Tür aufgerissen, ein halbes Dutzend mit gezückten Säbeln stürmt herein, die Treppe hoch. Ein einziger Schrei ist die Antwort der nach oben entfliehenden Arbeiterinnen.
Als ich um mich sehe, meine Umgebung wieder erkenne, liege ich im Hausflur, auf den Steinfliesen. Ein wimmerndes Au—au—au—a — Auauau — hilft mir wieder zu begreifen, was ist. Ich liege links von der Treppe, an der Kellertür. Als ich mich auf die Hand stützen, aufstehen will, wirft mich ein Schmerz in der Schulter wieder hin, auch die Finger meiner Hand bluten durch die Lederhandschuhe.
Ich entsinne mich, dass ich ihnen entgegenspringen wollte, als sie hereinstürmten. Wahrscheinlich bin ich nach dem Schlag mit dem Kolben auf die Schulter über das Geländer getorkelt.
Ich horche. Oben ist alles ruhig. Dann höre ich wieder das Stöhnen. Ich versuche mich von neuem zu erheben und komme auch auf die Füße. Der Handschuh klebt an der blutenden Hand. Das Kreuz scheint im Knochengerüst unversehrt zu sein. Ich ziehe mich am Geländer empor, sehe nach der andern Seite. Da liegt eine Arbeiterin, ohne Kopfbedeckung, Gesicht und Mund stark geschwollen, ganz blau, blutend.
Ich schüttle sie an der Hand. Sie scheint mich zu erkennen, reicht mir auch die andere Hand und stützt ihre Füße gegen die meinen. Ich halte sie fest und lehne sie an die Wand. Sie fasst mit beiden Händen nach dem Rücken. „Ich kann nicht stehen. Hier — oh!" „Wir müssen fort. Ich werde Sie führen!" Sie antwortet nicht, lässt die Arme hängen, ihr Gesicht sieht grauenhaft aus. Ich sehe nach der Tür. Draußen ist alles ruhig, auch einzelne Fußgänger sind schon wieder zu sehen. „Bitte, versuchen Sie, fassen Sie mich unter." „Ich kann ja nicht!" Dann sinkt sie in sich zusammen. Ich ziehe meinen Soldatenmantel aus und wickle sie darin ein. Dann versuche ich sie zu tragen, eine Hand ist ja heil, und die eine Schulter auch. Es geht — leichter als ich dachte. Ein kleines Bündel Haut und Knochen. Ich gehe mit meinem Bündel in dem Soldatenmantel über die Straße, in einen Hof, von Tür zu Tür. Die nicht verschlossen hatten, schließen rasch, als sie hören, was für ein Besuch das ist. Im zweiten Hof erhalten wir dann von einem Zigarrenarbeiter Einlass.
Dort erholt sie sich langsam, kommt wieder zur Besinnung. Man hat ihr drei Zähne eingeschlagen, die Lippen sind aufgeplatzt. Der Rücken weist mehrere blutunterlaufene Striemen auf. Sie rühren von den Plempen her, von denen ich wohl eine griff, ehe sie mich traf, und die mir der Blaue durch die Hand zog. Sämtliche Finger sind innen fast bis auf den Knochen durchschnitten.
Die Arbeiterin nennt ihre Adresse. Die alte Frau des Zigarrenarbeiters will gehen. Da sagt sie: „Wenn niemand da ist, klopfen Sie bei der Nachbarin und sagen dort Bescheid." „Haben Sie keine Eltern mehr?" „Nur noch eine Mutter. Sie steht vielleicht an." „Und Ihr Vater?" „Der ist gefallen, gleich zu Anfang, in Polen."
Sophie wäscht. Sie freut sich, als sie mich sieht. „Bist schon drinnen gewesen?" fragt sie, weil ich ohne Mütze vor ihr stehe. — „Wie steht's?" „Ganz gut."
„Gehst du wieder fort? Könntest mir die großen Stücke auswringen und Wasser zulassen, wenn du Zeit hast."
Da stutzt sie. „Was hast du denn?!" Ich muss mich verdächtig gemacht haben, denn sie fragt ängstlich, erschrocken.
Meine Hand kann sie nicht sehen, sie ist mit dem Taschentuch verbunden in der Manteltasche. Aber ich spüre ein Zittern in allen Knochen.
„Hat Prügel gegeben, die Blauen haben dazwischengehauen", sage ich.
„Ist dir was passiert?"
„Hab einem die Plempe weggerissen und hab mich geschnitten, weiter nichts."
Sie geht mit mir in die Stube, wäscht mir die Hand aus und verbindet sie. Dann sinkt sie zusammen, schnappt nach Luft, schreit auf.
Ich bringe sie aufs Bett. Sie wehrt ab, als ich sie zu beruhigen suche, und sagt: „Hol die Hebamme!"
Als in den Häusern Licht wird, sitze ich neben Sophie am Bett. Sie lacht trotz ihrer Schmerzen, als ich die Puppe aus den Händen der Hebamme nehme. Ich streiche ihr die Haare aus der Stirn, bringe die Hebamme an die Tür. „Alles in Ordnung", erklärt diese. „Viel Glück, Herr Betzoldt!"
Sophie übermannt die Müdigkeit, ihr blasses Gesicht will immer zur Seite fallen. Ich lege ihr die Kissen zurecht. Sie sinkt matt hintenüber, stöhnt in Schmerz auf — und schläft.
Langsam löse ich meine Hand aus der ihren, hole mein Bettzeug und mache mir auf dem Fußboden hinter ihrem Bett mein Lager zurecht. Meine Hand hämmert, meine Schulter schmerzt bei jeder Bewegung, ich kann mich nicht entkleiden. Macht auch nichts. Hab ja so oft in den Kleidern gelegen.
Ich liege mit offenen Augen, höre die ersten Schreie des Kindes, das Stöhnen Sophies, höre, wie sie phantasiert, liege, bis die kleine Lampe ausgebrannt ist. Als ich sie füllen will, erwacht Sophie. Mein Verband ist durchblutet, meine Hand stark geschwollen. Sie erschrickt und sagt: „Mach sofort warmes Wasser!"
Ich weiche mir den Verband ab. Die Wunde ist von geronnenem Blut überkrustet. Soll ich 2um Arzt gehen? Zu welchem Arzt? Ich kann nicht verschweigen, wo ich arbeite, dass ich zu den Streikenden gehöre. Die Morgenzeitungen sind voll von verlogener Hetze gegen die Streikenden. Was liegt näher als eine Denunziation?
Dazu ist immer noch Zeit. Ich bade meine Hand täglich mehrere Male in Seifenwasser. Teile den Rest der „Friedensseife" mit der Kleinen. Die Geschwulst geht zurück, die Wunde wird besser.
Am zweiten Tag kommt Walter. In Berlin, in Hamburg, in Dresden, in vielen Städten Deutschlands stehen die Räder still.
„Wie ist die Stimmung?"
„Gut. — Hoffentlich halten sie aus!"
Ich will Sophie nicht verlassen, so lange sie liegen muss. Aber am vierten Tag gehe ich. Sie selbst will es so.
Es hagelt Gestellungsbefehle, die Betriebe werden militarisiert, die beurlaubten Soldaten erhalten durch militärische Bekanntmachungen Befehl, die Arbeit aufzunehmen oder sich ihrem Truppenteil zu stellen.
Werden sie sich schrecken lassen vor der Drohung mit der Strafe?
Ich erwarte Langenscheid. Er kommt auch. Arbeiter und Arbeiterinnen des Betriebes kommen und gehen in das Vereinszimmer. „Wie steht's", fragt ihr stummer Blick, jeden Tag.
Und jeden Tag dieselbe Antwort: „Durchhalten!"
Sie gehen wieder, den Gestellungsbefehl in der Tasche. Sie fühlen, wie sich die Krallen des Militarismus über ihnen krampfen. Wenn sie geholt werden, einzeln, mit aufgepflanztem Gewehr, was dann?
Langenscheid sagt: „Die Bewegung läuft um den toten Punkt herum, wer das nicht sieht oder nicht sehen will, ist ein naiver Trottel oder ein bewusster Saboteur. — Wir haben nachher Sitzung, kommst du mit?"
„Ja!"
„Die Bewegung steht gut", berichtet Riedel. „Die Einigkeit darf nicht wieder zerbrochen werden. Auch die Mehrheitssozialdemokratie wird sich dafür einsetzen, dass die Gestellungsbefehle rückgängig gemacht werden."
Langenscheid kämpft wie ein Löwe:
„Kollegen! Jetzt ist die Machtfrage aufgerollt. Es liegt im Wesen der Dinge, dass es hier nichts mehr ,einzusetzen', nichts mehr zu verhandeln gibt. Jetzt heißt es ,aussprechen, was ist'. Wenn die Arbeiter wieder in die Betriebe gejagt werden— durch irgendeinen Schacher —, werden wir alle nach ,Kriegs-recht' abgeurteilt. Wisst ihr denn nicht, was ihr tut? Jetzt heißt es, die Arbeiterschaft zur offenen Rebellion aufzurufen, zur Solidarität mit den Urlaubern. Der Streik wird sinnlos, wenn ihm das Ziel genommen wird. Jetzt muss der Belagerungszustand fallen. Jetzt müssen Flugblätter unter die Soldaten. Jetzt müssen wir den Arbeitern offen sagen, dass die Frage steht: Sieg oder Niederlage! Jetzt müssen wir den Widerstand mit allen Mitteln organisieren. Jetzt müssen wir die Fahne erheben gegen den Krieg. Jetzt müssen wir begreifen, dass der Streik nur ein Anfang war — sonst sind wir verloren! Der Arbeiterrat muss jetzt handeln, schnell handeln."
Langenscheid erhält die Zustimmung der Mehrheit.
Riedel erhebt sich, als hebe er eine schwere Last mit hoch.
„Kollegen! Der Kollege Langenscheid setzt alles auf eine Karte."
„Natürlich — sehr richtig!"
„Kollegen! Wenn wir zum offenen Widerstand gegen die Staatsgewalt auffordern, setzen wir uns selbst ins Unrecht. Wir können nicht nur an die Streikenden denken, sondern müssen versuchen, die öffentliche Meinung auf unsere Seite zu bringen, sonst bleiben wir isoliert. Denkt, welche Verantwortung auf uns lastet."
Die letzten Worte Riedels machen starken Eindruck — aber die Lage ist ungeklärt. Jeder fühlt das Unhaltbare der Situation.
Ein Arbeiter spricht, als wolle er die Stille verscheuchen, von Einigkeit und Zusammenhalten. Nicht wieder den alten Streit ausgraben, das bringt uns nicht weiter! Wenn wir aushalten, sind sie gezwungen, nachzugeben. Blut ist schon genug geflossen!
„Du Arschloch, verzapf deinen Quatsch woanders!"
„Kollege Krüger, ich muss diese Beleidigungen Kollegen gegenüber zurückweisen."
„Ich bitte ums Wort!"
„Kollege Krüger hat das Wort!"
„Ihr habt scheinbar nichts davon gehört, dass sie schon anfangen, die Genossen aus den Häusern zu holen. Ihr habt noch nichts gemerkt, wie sie dazwischengedroschen haben. Ihr singt hier noch die Klagelieder von Jeremias, wenn sie hier schon hereinkommen und euch mit dem Kolben über den Schädel wichsen. Himmelkreuzdonnerwetter! Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen? Ihr quatscht hier von ,Verantwortung', und oben sitzen sie schon zusammen und schieben die Kiste. Wenn es dann soweit ist, reißt ihr Mund und Ohren auf. Wenn die Streikleitung und der Arbeiterrat nicht wissen, was los ist, dann sollen sie nur gleich einpacken. An uns liegt es zu handeln. Wenn wir in die Löcher kriechen, nützt unser ganzes Gequatsche nichts!"
„Geht das schon wieder los!"
„Immer die Spartakisten und Unabhängigen."
„Lasst euch man von Ebert und Scheidemann wieder einwickeln."
„Wir wollen endlich Einigkeit!"
Riedel: „Kollegen, wir dürfen nicht so fortfahren. Es steht zuviel auf dem Spiel. Wir müssen zur Sitzung. Wenn ihr andere Vorschläge machen wollt, ich will nicht im Wege sein."
„Wünscht noch jemand das Wort? — Dann kommen wir zur Abstimmung, ob die alte Streikleitung des Betriebes weiter das Vertrauen hat."
Eine Minderheit stimmt dagegen. Langenscheid lacht bitter, Krüger schüttelt mit dem Kopf. „Da staunste!" sagt er sarkastisch, zu mir gewandt.
Die Funktionärsitzung löst sich auf. Wir gehen zusammen fort. Militärpatrouillen marschieren durch die Warschauer Straße mit geschultertem Gewehr. Wir gehen um die Ecke, sehen die streikenden Arbeiter an der Mauer auseinander gehen, als die Blauen „Weitergehen!" kommandieren. Der Kriegsbericht kündet von dem „Frieden" mit Russland und dem „heldenmütigen Widerstand" der deutschen Truppen im Westen. Am Schlesischen Bahnhof steht eine lange Menschenmauer feldmarschmäßig eingekleideter Soldaten, die auf den Zug warten, der sie hinausfährt. Wir steigen in die Vorortbahn. Krüger bricht zuerst das Schweigen:
„Was soll nun noch kommen?"
Langenscheid schaut wie gelangweilt auf das Schild im Wagen: „Seid vorsichtig bei Gesprächen, Spionengefahr!" und stellt fest: „Dass wir noch mal Wasser saufen gehen, damit musste man von vornherein rechnen."
„Die werden schön aufräumen", antwortet Krüger kopfnickend.
„Lass sie. Wir auch, wenn's soweit ist", gibt Langenscheid zurück.
Der Streik bringt die Gemüter hart aneinander. Ich gehe die Treppe hoch und höre: „Ziehen Sie sich doch Hosen an, und gehen Sie selbst hin, Sie olles dämliches Weib!" Es ist Frau Lösch, ihr Mann ist seit Beginn des Krieges in französischer Gefangenschaft. Sie sagt das zu Frau Garben. Deren Mann sitzt in Belgien, ist Offiziers Stellvertreter, im Nebenberuf Postbeamter. Frau Garben ist empört und schlägt die Tür zu. Die Treppe steht voll Frauen.
„Wenn sie's bloß schaffen!"
„Frau Betzoldt hat ganz recht: Keiner müsste mehr hingehen. Lass sie ihren Krieg allein machen."
„Frau Betzoldt?" Ich öffne — da steht Sophie angezogen in der Küche.
„Willst du sofort ins Bett!"
„Lass mich doch, war ein bisschen auf, da hörte ich den Krach. Die Frau Garben hat hier auf die Streikenden geschimpft und gesagt, sie hätten noch ganz anders dazwischenschlagen müssen. Das hat mich doch zu sehr gewurmt. Ich hab ihr ordentlich heimgeleuchtet und dadurch ist hier eine richtige Versammlung zustande gekommen. Die ganzen Frauen im Haus haben ihr gegeben, was sie braucht."
„Leg dich wieder hin, bitte, das andere mache ich schon."
„Ich muss mich doch wieder gewöhnen. Die Hebamme hat's mir erlaubt. — Wie steht's mit dem Streik?"
„Schlecht."
„Warum?"
Ich erzähle.
Ihr blutleerer Mund zittert: „Dann werden sie alle holen", sagt sie ganz erschrocken.
„Lege dich hin, Sophie. Du darfst dich nicht aufregen. Es ist noch lange nicht soweit."
Ich schaue auf die schlafende Puppe im Korb. Ich bin der Vater. Ich habe gehört, wie Väter ihre Kinder lieben, wie sie dadurch zu ganz anderen Menschen werden.
Bin ich ein anderer geworden? Ich habe kein Bedürfnis, das Kind zu nehmen, es zärtlich zu berühren. Mir ist es, als gehöre ich gar nicht hierher.
Sophie ahnt davon nichts, ich spreche auch nicht davon. Spreche auch nicht davon, als jeden Tag deutlicher wird, dass die Einigkeit der Streikenden zerbricht. Sie fragen schon: „Holen sie alle?"
Die Rädelsführer vielleicht? Es ist gut, sich zurückzuhalten. — Vielleicht macht doch die Sozialdemokratie die Maßregelungen rückgängig? Wenn nicht bei allen, so doch bei denen, die ihre Kriegspolitik nicht brandmarken.
Die Solidarität wird von individuellen Spekulationen zerfressen. Das Ende wird deutlich. Die Strömung entschwindet wieder in die Tiefe. Spartakus bleibt wieder isoliert. Die Arbeit wird aufgenommen.
Die meisten schleppen sich bereits wieder stumm in die Granatenfabriken, der Krieg geht weiter, der Hunger bleibt.
Massenweise wandern die andern hinaus auf das Feld der Ehre, von den Betrieben gezeichnet, bestimmt für die Kugel. Sie auszurotten ist eine vaterländische Pflicht.
Auch Langenscheid ist unter ihnen. Er geht wie immer, schlenkernd, durch die Bude, gibt Werkzeug ab, holt seine Papiere.
„Wiedersehn, Arthur!"
„Wiedersehn, Hans!"
Kollege Wurm von den Werkzeugmachern kommt dazu. „Auch du?"
„Ja! — Übermorgen in Schöneberg."
„Auf Wiedersehen!" sagt Langenscheid noch einmal, in klanglosem Ton, wie ihm selbst zuwider.
„Im Massengrab!" sagt Wurm und lacht noch dabei, als wolle er einen Witz machen.
Die Betriebe sind gesäubert. Die Preise werden gedrückt. Garnisondienstfähige werden an die Stelle der Rebellen kommandiert. Sie mehren sich ja, die Kriegskrüppel, wie Spreu beim Dreschen.
Die große Armee ist unterlegen, der Stiefel des Militarismus sitzt ihnen noch brutaler im Genick. Sie gehen wie Sträflinge hinaus zum Tor und lesen auf großen grellen Plakaten, die zeigen, wie tapfer „unsere Feldgrauen" auf die Feinde losstechen und schießen:
„Wer heute feiert, statt zu schaffen, Der lässt den Feind herein ins Land. Der schlägt den Brüdern Wehr und Waffen Als feiger Hundsfott aus der Hand!" |
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