XIX.
Ich taste mich langsam hinein in meine „neue" Umgebung. Es ist zuviel auf einmal. Es gibt zwanzig Gramm Butter — pro Nase — in der Woche, Kartoffeln sind knapp — statt fünf Pfund die Woche gibt es nur zwei. Für die andern drei Pfund gibt es hundert Gramm Haferflocken, alles auf besondere Karten, Kärtchen, Abschnitt soundso.
Den Kunsthonig gibt es nur dann, wenn die „Zufuhr" der regelmäßigen Portionen anderer Lebensmittel „stockt". Dann noch fünfzig Gramm Margarine. Ein Brot die Woche — klitschig und schwarz — gibt täglich drei kleine Schnitten. Wenn man die Margarine und die Butter mit dem Pinsel ganz dünn aufträgt, reicht sie für die Schnitten, dann hat man den Kunsthonig noch übrig. Auch Marmelade gibt es, dieselbe, die wir draußen auch bekommen. Sie sieht aus, als wäre sie schon einmal gegessen, und stammt von der Kohlrübe.
Diese Kohlrübe tritt in allen Variationen auf: Kohlrübe in Wasser als reguläre Kohlrübe, Kohlrübe als Quetschkartoffelersatz, Kohlrübensuppe, Kohlrübe gehobelt als Sauerkrautersatz, Kohlrübe in Scheiben als „Bratkartoffel", Kohlrübensalat, sogar als Kuchenteig findet sie Verwendung.
Aber man braucht ja nicht immer Kohlrüben zu essen. Die Graupe, auch Kälberzahn genannt, ist wohl auch schon rationiert, aber man kann „hintenherum" kaufen. Die Graupe isst man als Graupensuppe, als Graupenpudding, als Graupenwurst, je nach Geschmack.
Dann gibt es noch „sonstiges" mit und ohne Karten. „Billige Fische", „echten" Sauerkohl, Zucker, fünfzig Gramm Fleisch. Man muss nur aufpassen! Sonst steht man überall einige Stunden und kommt gerade dran, wenn ausverkauft ist.
Sophie zählt, sortiert, rechnet mit den Lebensmittelkartenabschnitten mit einer Sicherheit, als wäre das gar nichts. Heute gibt es einen Hering auf Abschnitt drei der Karte B. Sophie legt die Karte heraus.
Frau Gramer von nebenan klopft und bringt ein Töpfchen Milch.
„Morgen, Frau Betzoldt!"
„Morgen! — Warten Sie ein wenig — oder kommen Sie ruhig herein!"
„Ah, sieh! Morgen, Herr Betzoldt! Na, sind doch gekommen. Sophie war schon so niedergeschlagen."
Sophie lacht, greift dann in den Kleiderschrank, in dem das Brot aufgestapelt ist, gibt Frau Gramer ein Brot und ein halbes Paket Butter. Frau Gramer bekommt Augen wie ein Kind.
„Frau Betzoldt!" bringt sie nur hervor — und sieht auf das Brot und die Butter, als könne sie sich gar nicht mit dem Reichtum abfinden.
Sophie sagt: „Nehmen Sie nur, Sie haben mir so oft gegeben, machen Sie allen eine richtige Butterstulle." Da quetscht Mutter Gramer das Brot unter den Arm, nimmt die Butter an sich und stottert: „Vielen, vielen Dank!"
„Sie gibt mir öfter Milch", sagt Sophie, „sie hat sechs Kinder, kann die Milch, die sie bekommt, gar nicht kaufen."
„So viel?"
„Na, für die ganz kleinen einen halben, für die andern einen viertel Liter. Ihr Mann arbeitet in der Artilleriewerkstatt. Sie kann natürlich nicht alles bezahlen, was es auf Karten gibt."
„Und die Kinder?"
„Denen muss sie eben geben, was sie hat. Wenn sie nicht jede Woche ein paar Brotkarten verkaufen würde, käme sie gar nicht zurecht. Rechne dir doch aus: Acht Brote die Woche, die Milch, die Kartoffeln, die Butter und Margarine, auf acht Karten Fleisch. Dem Mann muss sie doch etwas aufs Brot legen, er ist von morgens fünf bis abends sieben Uhr unterwegs. Das muss sie hintenrum kaufen, und das ist teuer."
Mir spukt ein Zeitungsartikel, den ich in irgendeiner Gewerkschaftszeitung gelesen habe, im Kopf herum: „Sozialismus, wohin wir blicken!" Er verherrlichte die ideale Verteilung der Lebensmittel in Deutschland. Für jedes Kind ist gesorgt, amtlich registriert, auf welche Menge Milch, Fleisch, Brot usw. es Anspruch hat. Nur der kleine „Schönheitsfehler", dass der Vater bei vierzehnstündiger Schufterei die amtlich garantierten Sachen nicht kaufen kann, ist nicht berücksichtigt.
Da fängt es schon an: Wer Geld hat, kauft Milchkarten, Brotkarten. Frau Gramer kauft dafür mehr Kohlrüben. Der „Sozialismus", in den ich blicke, steht vor mir als der Gaunertrick, den Kindern das Brot aus der Hand, die Milch aus der Tasse zu nehmen, den letzten Rest menschlicher Nahrung, schon so winzig, um dabei zu verhungern.
Ich greife nach der Zeitung: „Zeichnet Kriegsanleihe!" Dann ein langer Schmus von der Friedensbereitschaft Deutschlands, dem unberücksichtigten Friedensangebot der deutschen Regierung schon 1916. „Deutschland will den Frieden, nur die Feinde wollen ihn nicht, deswegen müssen wir unbedingt
durchhalten.-------Streik ist Verbrechen am Vaterland. Die
Amerikaner werden sich schön wundern, ihre Truppen, die sie herüberschaffen wollen, werden einfach durch unsere U-Boote
versenkt.------Die Fronten stehen unerschütterlich. — Die
Stimmung der Truppen ist vorzüglich."
Ich werfe die Zeitung hin und sage: „Komm, lass uns gehen." Mir wird die Stube zu eng. Ich bin tags zuvor fast nicht fortgewesen. Vier Tage sind schon um. In drei Tagen muss ich wieder abdampfen.
Sophie räumt auf und wir gehen. Die Luft ist schon mild, der Frühling zieht nun zum dritten Mal ins Land.
An allen Läden stehen lange Reihen von Frauen, Männern, Kindern. Aus ihren hungrigen Gesichtern grinst der Krieg. Sie warten auf ihre „Gramm". Vor einem Pferdemetzgerladen ist Krach. Es soll da nicht reell zugegangen sein. Ich weiß nicht, was verschoben worden ist. Eine Frau deutet auf ihren Korb und schimpft: „Der Dreck ist ja für uns gut genug, Bande, die!" Ich sehe in ihren Korb. Sie hat Pferdeknochen darin; ein Stück Vorderfessel ist dabei, die Haare hängen noch daran.
Die ganze zum Viehhof führende Straße hinauf stehen Hunderte von Menschen. Einige haben sich Schemel oder zusammenklappbare Stühle mitgebracht, sitzen darauf, stricken, lesen oder plaudern. Sie warten hier auf „billiges" Fleisch. Deutschland spart, die Armen sind froh, für ihren sauer ver-
dienten Lohn von dem Abfall zu bekommen, einen Brocken Fleisch von krankem Vieh, das sich nicht mehr lohnt zu verschieben. Es wird schon dunkel. Als ich Sophie frage, ob heute noch verkauft wird, sagt sie: „Die stellen sich an zu morgen früh."
Anna lässt sich es nicht nehmen, uns zu bewirten. Gustav hat Sophie russischen Tee mitgebracht, den Sophie mit Anna teilte, so braucht sie mich nicht mit dem Kriegs„kaffee" zu quälen. Sie hat auch — durch Klaus — ein bisschen „Verbindung", hat ein paar Kartoffeln, die sie „brät". Als Sophie ihr ein Brot gibt und ein Stück Butter und Speck, sagt sie: „Deern, hest doch'n beten früher kommen könn, denn her ick to de Kartoffeln nich schwarten Kaffee nehmen brukt."
Klaus besohlt Schuhe. Er hat eine Zigarrenschachtel kleiner Lederschnitzel, länglich-rundlich gestanzt, vor sich und nagelt auf Marthas Schuhsohlen eines neben das andere. Martha kommt erst um halb elf Uhr. Sie hat die zweite Schicht. Als Klaus das Brot entdeckt und die Butter, legt er seinen eisernen Leisten fort, setzt sich an den Tisch und schmiert sich ein Brot. Anna legt das Brot für Martha vorsichtshalber weg. „Besser is besser", sagt sie mit komischem Ernst. Dann sitzen wir zusammen und essen.
Wie sich die Menschen doch verändern! Als wäre alle Aktivität in ihnen zerbrochen. Selbst Klaus, dessen Ruhe mir immer so wohltat, schleicht umher wie ein Gefangener. Anna ist so alt geworden, ihre Hände so welk, unter dem Kinn soviel überflüssige Haut. Nur ihre schwarzen Augen glänzen wie hinter einem Nebel.
Ich frage nach Alfred und Lotte. Die Tür war verschlossen, als wir klopften. „Alfred ist in der Heilanstalt. Er hat mit dem Kopf zu tun, schlägt mitunter alles kurz und klein. Lotte muss arbeiten, das Kind ist bei Lottes Eltern."
Ich bin erstaunt und sehe Sophie an. Sie hat nur berichtet, dass Alfred noch immer nicht auf dem Posten ist. Aber von „Kurz-und-Kleinschlagen"?
„Man muss dich ja behandeln wie ein Kind", verteidigt sie sich, als ich sie frage. „Kommst ja schon so aus der Aufregung nicht heraus!"
Klaus horcht hin, kaut den Brocken Brot erst bedächtig klein, ehe er schluckt und sagt: „Alfred ist mit den Nerven zu weit runter. Denk doch: Er kann sich nicht verständlich machen, kann ja kaum sprechen. Und wenn ein Mensch wie Alfred das mit ansehen muss und hinunterschlucken, sich vielleicht noch auslachen lassen — das erträgt so einer nicht. Als Former kann er auch nicht mehr arbeiten, und die Unterstützung reicht nicht zum Leben und nicht zum Sterben. Da muss ja ein Mensch verrückt werden."
„Und Tetsche?"
„Der ist in Gefangenschaft. Zwei Tage war er in den Argonnen, dann war er drüben."
„Der hat's am schlauesten angefangen", ergänzt Anna und schaut wie ohne Ziel über den. Tisch, „hat wenigstens was zu fressen!" Sie steht dann auf und räumt den Tisch ab. „Für die Brummochsen hier die Finger verbrennen hat ja keinen Zweck!" sagt sie kategorisch und verlässt die Stube.
„Wie sieht es denn draußen aus, haben sie die Nase noch nicht bald voll?"
Klaus hört aufmerksam zu und nickt. „Es geht zu Ende", meint er dann. „Da können sie machen, was sie wollen!"
Da drehen sich Schlüssel in der Tür. Martha kommt. Sie drückt mir freudig die Hand, legt ab und setzt sich dann. Sie isst hastig, scheint überhungert, hat vielleicht deswegen gar nicht sprechen, an nichts anderes denken können. Denn als sie mit einigen Bissen ihren Magen beruhigt hat, sagt sie: „Jetzt räumen sie aber wieder auf. Alle Vertrauensmänner holen sie in den Schützengraben, was irgendwie verdächtig ist, wird eingezogen."
„Das war vorauszusehen", sagt Klaus trocken. „Aber damit stoppen sie den Hunger nicht. Das nächste Mal wird es besser klappen."
Sophie erzählte mir schon von dem Hungerstreik, der im April 1917 durch die Fabriken in Deutschland fegte. Nun erst erfahre ich durch Klaus und Martha Einzelheiten. Ich habe mich immer gewundert über die Harmlosigkeit aller Briefe. Kein Wunder, alle Nachrichten, die auch nur etwas verdächtig aussahen, sind der Zensur zum Opfer gefallen. Die Soldaten im Felde dürfen nichts davon erfahren, dürfen nicht wissen, dass sich ihre Frauen und Kinder und Väter, vom Hunger gepeitscht, gegen den Mordpatriotismus auflehnen. Sie dürfen nur erfahren, dass der „Verbrecher" Karl Liebknecht mit einigen „unlauteren Elementen", „meist jugendlichen Burschen und Mädels", unschädlich gemacht ist.
Sonntags folgen wir einer Einladung. Sophie besucht ihre alte „Herrschaft" in Hamburg-Harvestehude. Sie war einmal wegen ihrer Entschädigung dort, musste viele ihrer Sachen in Helgoland im Stich lassen. Die Herrschaften wurden einwandfrei abgefunden — Sophie bekam nichts. Was eine Köchin schon hat, ist nicht der Rede wert. Mit solchen Kleinigkeiten gibt sich das Vaterland nicht ab.
„Kommst du mit, Hans? — Sonst sind die Leute ganz nett!"
„Gut, ich komme mit."
Ein Dienstmädchen öffnet und meldet: „Betzoldt und Frau." Madame Göricke empfängt uns: „Ist aber nett, dass Sie kommen!" Die Vorstellung beginnt: „Herr Göricke. Herr Leutnant Hohenstein und Frau — Herr Betzoldt und Frau."
„Sehr angenehm!"
„Auf Urlaub hier?" fragt der Herr Leutnant. Er ist der Schwiegersohn. Er trägt Zivil wie ich.
„Jawohl!"
„Warum haben Sie nichts davon wissen lassen, Sophie?" fragt die alte Dame vorwurfsvoll. „Herr Betzoldt hätte mir doch sicher etwas von Warschau mitbringen können?"
„Er kam so unverhofft."
„Soo — das ist schade. Wissen Sie, die Preise jetzt, nicht gutzumachen ist das. Ich zahle für Butter bereits fünfundzwanzig Mark das Pfund. Eine Gans, die uns mein ,Mann'" — sie meint damit ihren Lieferanten — „am Sonnabend brachte, kostete sechzig Mark. Das ist doch einfach toll! Für guten Holländer muss man bis fünfzehn Mark pro Pfund bezahlen. Sind die Sachen in Warschau auch so teuer?"
Wir setzen uns zu Tisch. Die Gans ist schon aufgegessen.
„Wissen Sie, mit fünf Menschen", entschuldigt sich Madame. Wir müssen uns mit Butter, Käse, Wurst, mit der kalten Platte „begnügen". „Hinterher trinken wir noch eine Tasse Kaffee", sagt Madame.
Ich esse! Der Käse wird klein und kleiner, das halbe Brot ist schon verschnitten, die Wurst wird immer hohler, bald liegt nur noch die Pelle da. Ich bin gar nicht so hungrig — ich esse aus Protest! Vielleicht können sich die Leutchen keinen hungrigen Menschen vorstellen, denke ich und pelle mir seelenruhig noch zwei Eier ab, obwohl mich Sophie ganz erschrocken ansieht. Als Madame in die Küche geht, um neues Brot zu holen, flüstert Sophie: „Lütting, du kannst doch gar nicht so hungrig sein?"
„Doch! Ich habe großen Hunger. Ich kann dir doch das bisschen Brot, das wir haben, nicht aufessen. Halt dich ran, das kostet hier nichts!"
Madame bringt noch Brot. Ich schneide mir noch eine kräftige Schnitte. Madame ist ganz erstaunt und sagt: „Hat's Ihnen tüchtig geschmeckt, wird wohl draußen auch schon knapp?" „Ja — ich bin in den letzten Jahren nie satt geworden. Wir hungern nicht, wir verhungern!"
Madame schaut mich gutmütig an und erwidert: „Ist nicht möglich, wo bleibt denn das ganze Zeug?" Dann, zu ihrer Tochter gewandt: „Da könnt ihr sehen!" Was wohl heißen soll: Und da seid ihr Gesellschaft immer noch nicht zufrieden. Ihr müsstet eure Mutter eigentlich auf den Händen tragen, die so für euch sorgt. Undankbare Geschöpfe.
Die Tochter bläst den Qualm ihrer Zigarette durch die beringten Finger und wirft den Kopf etwas zur Seite. Alte Singuhr! — mag sie denken.
Sophie ist in der Küche, bei dem Dienstmädchen, ich weiß nicht, ob nur aus Protest gegen mein Benehmen. Der Leutnant setzt sich zu Tisch. Herr Göricke rückt auch heran und verteilt Zigarren. Frau Hohenstein sieht auf ihre Armbanduhr und sagt: „Friedrich, wir müssen aufbrechen, rufe rechtzeitig nach dem Wagen!" Sie singt irgendwo in einem Theater, ich bin nicht neugierig, wo. Friedrich jedoch bleibt noch ein wenig.
Mein Bericht von der Ostfront scheint ihn zu interessieren. Er schüttelt öfter den Kopf, nickt dann wieder, als wolle er zu verstehen geben: Vorbei! „Was sind Sie von Beruf?" fragt er dann. „Dreher."
„Wollen Sie reklamiert werden?" Ich lache. „Das ist doch wohl nicht möglich." „Ich sage Ihnen, dass Sie binnen vierzehn Tagen zurück sind, wenn wir Sie persönlich vom Regiment anfordern. Nur dürfen Sie nichts von einer Unterredung mit mir verlauten lassen. Ich bin im technischen Büro bei den Rumpler-Werken in Berlin. Sollte man Sie fragen, ob Sie dort Bekannte haben, sagen Sie, dass es wohl möglich sei, dass Arbeitskollegen Ihre Adresse wussten. — Abgemacht?"
Er hält mir die Hand hin, ehe er geht, und ich schlage ein. Ungläubig noch, aber der Leutnant kommt mir gar nicht vor wie ein Leutnant, ich kann mir nicht denken, dass er nur aufschneiden will. Sophie steht ganz aufgelöst da. Als wir gehen, sagt sie: „Lütting, kannst du dir das denken?" Ich kann mir das zwar nicht gut vorstellen, aber ich bin entschlossen, meinen Urlaub nicht eigenmächtig zu verlängern, um nicht selbst einen Grund zu schaffen, meinen eingereichten Arbeitsurlaub unmöglich zu machen. |
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