XVIII.
Von sechzig Mann aus unserm Kursus fuhr die Hälfte zurück, ohne Decken, ohne Mäntel, ohne Schnürschuhe. Sie melden, dass ihnen die Sachen gestohlen sind. Einige haben sich eine Geschlechtskrankheit zugelegt für einen Teil des Geldes, das die Sachen einbrachten. Die Drohung mit Strafe zieht nicht mehr. Sie kalkulieren schon genau so wie Gustav: von heute auf morgen.
Man spricht auch viel von Liebknecht und seiner Rede. „Der Mann ist irrsinnig, komplett irrsinnig", sagt Unteroffizier Fingerhut, „dass sie den nicht wegbringen, ein Skandal ist das."
„Wieso irrsinnig?" frage ich. Wir liegen in einem Unterstand mit Fingerhut zusammen. Es ist schon dunkel, das Licht ausgelöscht, wir müssen sparen.
„Da fragen Sie noch? Haben Sie nicht gehört, was der Mensch für einen Quatsch verzapft?"
„Nicht gehört, aber gelesen! Haben Sie gelesen, Herr Unteroffizier?"
„So einen Dreck zu lesen, müsste mir einfallen. Damit wische ich mir noch nicht einmal den Hintersten." Herr Fingerhut ist von der Durchschlagskraft seines letzten „Arguments" so überzeugt, dass er jede weitere Entgegnung für überflüssig hält, und wirft sich geräuschvoll auf die andere Seite.
Roggenbrot erscheint in der Tür. „Schon so früh im Bett? Ich dachte, wir könnten einen kleinen Skat machen."
„Haben Sie Licht?" fragt der „Einjährige" Bohne.
„Werde welches besorgen!"
Ich überlege, wie ich unserm Unteroffizier beikomme, und sage: „Ich glaube, dass die Behauptung, dass Liebknecht irrsinnig ist, nicht genügt. Man muss den Soldaten den Irrsinn nachweisen, sonst gerät man in den Verdacht, etwas zu behaupten, wofür der Beweis fehlt."
„Diskutieren Sie, mit wem Sie wollen, aber nicht mit mir und nicht in meiner Gegenwart!"
„Stören wir?" Roggenbrot kommt wieder und hört, dass man irgend etwas nicht in irgendwelcher Gegenwart tun dürfe.
„Nein", sagt Fingerhut einladend. „Betzoldt möchte wieder einen Vortrag halten. Er möchte uns zu Liebknecht bekehren. Er denkt, er hat Kinder vor sich."
„Ach so! — Na, das mein ich auch, wir sind doch alle Männer, die wissen, was sie wollen!" Roggenbrot sagt das mit einem ironischen Unterton und macht Licht.
Mau, ein etwas schwerfälliger Mecklenburger, der jedoch aus seiner „Schwerfälligkeit" schon manchen Vorteil zog, meldet sich: „Etwas Richtiges hat Liebknecht bestimmt gesagt. Die machen Krieg noch und noch, wenn nicht einer einmal dazwischenfährt. Und vor allen Dingen: Der Mann hat Mut und imponiert mir. Was uns der Kriegsbericht erzählt, daran glaubt ja schon kein Mensch mehr."
„Wir werden vorschlagen, dass Sie nächstens die Kriegsberichte schreiben, Mau", meint Fingerhut.
„Halten Sie die Kriegsberichte für Wahrheit, Herr Unteroffizier?"
„Wie können Sie bloß so dumm fragen, Sie scheinen... "
Weiter kommt Fingerhut nicht. Ein dröhnendes Gelächter schallt aus allen Betten. Selbst Roggenbrot lacht mit, aber er lacht natürlich nur, weil wir alle so „grundlos" lachen. Unteroffizier Fingerhut ist entrüstet über unser „albernes Gelächter" und schreit: „Am vielen Lachen erkennt man die Narren!" Mau ist überrascht von seinem Erfolg und antwortet: „Dann hat ja Liebknecht hier eine ganze Masse Anhänger,Herr Unteroffizier."
„Sie sind ein kompletter Idiot", ruft Fingerhut, durch die neue Lachsalve aufs höchste gereizt.
Er steht auf und geht fort.
Als er kaum von der Tür weg ist, fällt Mau in ein neues Gelächter.
Gefreiter Bohne wird zornig. „Lach doch nicht so dumm, du fällst einem wirklich auf die Nerven!"
Er macht, als Mau weiterlacht, mit dem Finger drei Kreuze in der Luft.
Es ist bekannt, dass Mau Mühe hat, seinen Namen leserlich hinzumalen. Mau sieht das und wird blass vor Wut. Der Landproletarier ist an seiner empfindlichsten Stelle getroffen.
„Weißt du auch, Bohne, dass ein Mensch, dessen Vater einen Sack voll Geld hat, trotz aller Weisheit, die man ihm eintrichterte und die er kritiklos und papageienhaft nachplappert, ein ausgemachter Dummkopf sein kann?"
„Wie meinst du das, Betzoldt?"
„Nun, ein Rittergutsbesitzer hat einen Sohn, den der Vater mit viel Geld und allen Hilfsmitteln dazu bringt, dass er glücklich das ,Einjährige' macht. Der Rittergutsbesitzer hat auch einen Tagelöhner, den er so schlecht bezahlt, dass dieser seine vielleicht sehr intelligenten Jungen so zur Arbeit antreiben muss, dass sie noch nicht einmal die Volksschule regelmäßig besuchen oder schlecht lernen, weil sie zu müde sind. Findest du nicht auch, dass die eingepäppelte Schulweisheit des reichen Söhnchens kein Maßstab sein kann für dessen Intelligenz? Oder, dass es eine Frechheit ist, sich mit der ,Bildung' zu brüsten, die man sich auf Kosten der Proletarierkinder errafft? Vielleicht siehst du daran, dass moderne ,Bildung', Frechheit und die unglaublichste Dummheit sehr gut zusammen harmonieren können?"
„Neid der besitzlosen Klasse", sagt Bohne, und haut die Karten auf den Tisch. Unteroffizier Koch, der „dritte" Mann, schreit: „Haltet endlich die Schnauze mit eurem Quatsch." Er hat ein Spiel verloren.
Ich fühle mich aber zu einer Antwort auf Bohnes letzte Bemerkung verpflichtet und sage: „Das ist allerdings eine eigenartige Moral. Der Dieb sagt zu dem Bestohlenen: ,Sei nicht so neidisch auf meinen Besitz, das ist hässlich!'"
„Ich verbitte mir jetzt diese fortgesetzten Beleidigungen,
sonst----------!" Bohne macht eine unmissverständliche Geste,
dass er sich beim Häuptling beschweren werde.
„Die Sache ist doch ganz harmlos, Bohne, Betzoldt hat doch nur ganz allgemein gesprochen. Was ziehen Sie sich die Jacke gleich an." Roggenbrot verzieht dabei keine Miene.
„Du bist also der Meinung, Bohne, dass der Dieb der Ehrenmann ist, und dass es ganz in Ordnung ist, die Bestohlenen zu bestrafen, die dieses ,Recht' anzweifeln?"
„Aber Betzoldt! Ich bitte Sie!" Roggenbrot klatscht zornig die Karten auf den Tisch, als wolle er fortfahren: Sei doch vernünftig, Mensch, bringst mich ja in eine unmögliche Lage! Unteroffizier Koch — seines Zeichens Referendar — blinzelt nervös durch seine Brille und sagt: „Kennen Sie denn gar keine Grenzen, Betzoldt? Ist doch einfach unerhört!"
„Die eigentliche Frage ist, ob Liebknecht irrsinnig ist. Hier geht es, wie bei dem Sohn des armen Tagelöhners. Die Arbeiter sind ,brav', solange ihnen nicht zum Bewusstsein kommt, dass sie nur den Reichtum anderer vermehren oder verteidigen. Sobald sie dagegen rebellieren, sind sie irrsinnig. Aber die Szene hat gründlich gewechselt. Die Helden sind nicht die, die sich feige dem Irrsinn unterwerfen, sondern die, die mutig dagegen aufstehen, auch wenn sie bespien und begeifert werden. Millionen Soldaten sind mit Liebknecht — auch ihr hier bleibt nicht freiwillig, ihr geht alle nach Hause, wenn der Zwang, die Angst vor der Strafe fällt. Ich habe keine Angst. Ich bin ein armer Teufel, dumm und ungebildet, und habe nichts zu verteidigen. Ich mache aus meinem Herzen keine Mördergrube und sage euch ganz ungeniert, wie ich denke. Nieder mit dem Krieg! __ Wie
Karl Liebknecht!"
Die Kartenspieler machen eine Pause und schauen mich entgeistert an. Ich gehe, etwas erregt, hinaus, um meine Wut wieder abzukühlen.
Kurz hinter mir verlässt Roggenbrot den Unterstand, ich höre noch sein typisches „Gute Nacht, meine Herren!"
Mit immer größerer Erregung warte ich auf die Nachrichten aus der Heimat. Merkwürdigerweise ist meine Post recht spärlich. Aber die Urlauber der Infanterie bringen Nachrichten mit. Die Sozialdemokratie fällt auseinander. Liebknecht verteidigt sich heldenmütig und mit unglaublicher Zähigkeit. Demonstrationen, Streik der Berliner und Braunschweiger Arbeiter sind die Antwort auf das Zuchthausurteil. Die schneidende Logik der Spartakus-Briefe hebt mich hinaus aus den furchtbaren Qualen weltabgeschiedener Isoliertheit. Die Kräfte von unten wachsen, bäumen sich gegen den dritten Kriegswinter. Die Propaganda fällt schon in hellhörige Ohren, und ich fühle mich als Teil dieser Propaganda, dieses von unten aufquellenden Lebens, das nicht mehr von Tod und Grauen und Angst erstickt werden kann.
Sophie hat zum zweiten Male entbunden, mit sieben Monaten, ein totes Kind. Immer wieder betont Martha, dass Sophie weiter nichts fehle, dass sie sich bald wieder erholen würde. Sie wissen wohl, dass es nicht leicht sein wird, mich zu „trösten".
Ihr Freund hat sie also beim Nieten doch nicht genug „schonen" können. Die spärlichen Paketchen, die ich immer noch von ihr erhielt, hätten ihren geschwächten Körper vielleicht doch um ein weniges widerstandsfähiger erhalten, so dass er nicht zwei Monate vor der Zeit versagt hätte. Man nimmt, freut sich und isst, und wird zum Mörder seines eigenen Kindes.
Einen Augenblick kommt mir der Gedanke, um Urlaub nachzusuchen — aber nur einen Augenblick. Die Leute sind knapp. Eine „Ausnahme" liegt nicht vor. Sophie ist sogar auf dem Wege der Besserung. Was sollen Sie dann noch da? würde man mich fragen.
Sie ist auch wirklich auf dem Wege der Besserung. Ich sehe es an ihren Bildern, die sie mir einige Wochen später von der Heilstätte sendet. Sie sitzt im Kreis mit anderen kranken Frauen. Die Anstaltskleider hängen ihr schlotternd um den zusammengefallenen Leib. Sie ist nur noch sehr schwach, schreibt sie, „aber nun bin ich ja über den Berg. Hoffentlich bist auch Du gesund?"
Ihre welken Wangen lassen die Backenknochen stark hervortreten. Die Hände auf den Knien, zusammengekauert, schaut sie über die Weiden am Bach, wie niedergehalten von ihrem Leid, von dem sie schweigt, um mich nicht zu „beunruhigen".
Du würdest manchmal erschrecken, Sophie, wenn du mich so sehen würdest. Ich bin nicht immer in der Batterie. Ziehe zeitweilig mit dem Feuerwerker die Front entlang, um die Geschütze der einzelnen Batterien abzunehmen. Sie sind oft schon völlig auf den Hund. Der Rücklauf so ausgeleiert, dass sie ganz unkontrollierbar streuen, oft in den eigenen Graben. Die Rohre sind zerschlissen, ganze Felder ausgerissen.
Jede Differenz wird sorgfältig mit Präzisionsinstrumenten gemessen, gebucht — und dann kommen sie, in Ermangelung von Ersatz, oft wieder in Stellung. Wir gehen von Batterie zu Batterie, überall dasselbe: zwei Mann an einem Geschütz.
Man kann oft den Fünfundzwanzig jährigen nicht vom Landsturm unterscheiden. Die Gesichter stecken in wildwuchernden Bärten.
Wir sind keine gern gesehenen Gäste. Wenn einer nicht wiederkommt, oder gar ein paar, dann kommt manchmal auf den einzelnen ein Häppchen mehr beim Empfang. Aber wir sind immer gesunder Zuwachs, immer überetatsmäßig, wo die armen Teufel schon so nicht wissen, wie sie ihren Magen beruhigen sollen.
Sie pflegen und ziehen allerlei Vögel, Spatzen, Stare usw., nur um einmal „Schlachtfest" machen zu können. Katzen gibt es auch da nicht mehr, wo früher einige Exemplare als letzte Erinnerung an ein anderes Leben zurückgeblieben sind oder irgendwo hergeholt wurden.
Vor einigen Tagen haben sie in einer von uns besuchten Batterie eine im Kochgeschirr geschmort. Erst die eine Hälfte — man muss auch an den andern Tag denken. Aber sie schmeckte — in ihrem eigenen Saft, mit Zwiebeln und Gewürz geschmort — so gut, dass man beschloss, die andere Hälfte auch noch vorzunehmen. Das war ein Fest!
Alle überlegen, wie in den eintönigen Fraß einmal eine Abwechslung zu bringen ist. Ob Maulwürfe essbar sind? Es lohnt sich doch nicht, ist doch nichts dran, sagt einer. Ein anderer meint, dass man es doch einmal mit Ratten versuchen soll, die gebe es in Hülle und Fülle, man kann sich gar nicht vor ihnen retten. So mit Zwiebeln und Pfeffer und so—man kann doch nicht wissen.
Noch ist es nicht so weit, aber Gott, wir sind doch Helden, müssen irgendwie durchhalten. Mit den Ratten würden uns auch unsere Toten noch nützen können. Letzten Endes fressen Aale doch auch Menschenfleisch. So denken sie, wenn sie von ihrer schweren Arbeit heimkehren und nichts vorfinden als schlechtes Brot und stinkende Marmelade.
Sie würgen einen Kanten hinunter zu ihrem „schwarzen Kaffee" und gehen hinaus. Man kennt jede Wurzel, jeden Stein, jeden einzelnen Baum. Der Geist ist rettungslos gefesselt — das hält keiner aus, es sei denn, er ist schon lebendig tot, wie einige von der Munitionskolonne, die immer größere Mengen von dem „Rum" trinken; im Dusel ihre Balken schleppen, schlafen, essen. Sie sind vertiert, zerbrochen.
Andere machen aus Granatsplittern Briefbeschwerer, Dolche, wer weiß, was alles. Andere lassen von Kupferringen Fingerringe, Broschen, Kunstwerke aus jungen Birkenstämmen entstehen. Andere legen den Löffel aus dem Mund und sitzen jede freie Minute beim Skat. Die Photographen photographieren die verwesenden Russen in den Drahtverhauen, das sind die „Gebildeten", die Offiziere und Einjährigen, die teure Apparate hier haben. Halbverweste Menschen im Bild als Kriegsandenken, deren Knochengerüste wie Vogelscheuchen in den spanischen Reitern hängen — ist doch mindestens originell!
Es ist so schwer, hier Abwechslung zu finden. Man weiß, dass eine Pferdelaus auf eine Menschenlaus losgeht und amüsiert sich bei diesem Ringkampf. Wenn alles nicht mehr befriedigt, statten sie sich gegenseitig Besuche ab. Machen sich Kragen und Vorhemd aus Papier, drehen den Rock ihres Ehrenkleides um und empfangen „Gäste". Sie leben sich in das Theater hinein, reiten auf ihrer Phantasie in die Heimat, greifen sich den Schnapsballon in der Ecke — an nichts ist Überfluss, außer an Schnaps — und saufen, saufen!! Saufen heißen Rum, weil kalter Rum in heißem Wasser eine zu schwache Mischung ergibt, wenn sie heiß bleiben soll. Die „Kapelle" tritt in Funktion.
Alte Gießkannen, einige Töpfe, Schlagzeug von Topfdeckeln. Über einige Bretter sind Telefondrähte gespannt, das sind die Geigen. Die Trommelstöcke wirbeln in den Gießkannen, die Paukenschlegel hauen auf die Töpfe, die Geigen quietschen, die Topfdeckel fallen krächzend ein. Auf einer Tonne wird noch getrommelt. Einer sucht den andern zu
ü berschreien: .
„Wenn das so weitergeht
im nächsten Jahr, ham wir 's Delirium, Hallelujah!"
Manchmal bringt einer auch seine „Braut" mit nach Hause. Immer onanieren ist zu eintönig. Und immer noch einen Becher heißen Rum.
Ich sitze am Ofen, schaue in die Glut, Minute auf Minute: der Wahnsinn grinst aus den verzerrten, kindischen, vertrottelten Gesichtern. Das Gehirn droht zu platzen. Ich greife nach einem Becher und trinke, trinke, saufe, bis zur Bewusstlosigkeit.
Der Posten horcht in die Nacht. Was schnarcht da so furchtbar? Sie finden mich im Zementschuppen auf den Säcken, völlig bewusstlos, bei zehn Grad Kälte.
Stellungswechsel!
Die Batterie packt, zieht fort, kein Mensch weiß, wohin. Im Westen verschlingen die Granaten täglich Zehntausende — keiner sagte nein, fragte man ihn, ob er hier fort und dorthin wolle. Sie gehen auch hier zugrunde, nur langsamer, noch qualvoller.
Aber wir ziehen nur ein wenig nach rechts oder links; heute wieder nach rechts. Die Infanterie hat schon Wochen vordem gerüstet. Minenwerfer sind in Stellung gegangen. Die alte Stellung soll wieder genommen werden.
Wir fahren in der Nacht durch einen sandigen Hohlweg, dann durch ein Dorf, dessen Häuser aus anderen Dörfern zusammengeholt und wieder aufgebaut wurden. Hinter dem Dorf deckt uns eine Allee alter Laubbäume. Die Batterie soll dann rechts über die Sanddünung auffahren, vor der ein großer Teich liegt. Unter dem Schutz der alten Bäume machen wir halt, die Munitionskolonne hält im Hohlweg.
Zweihundert Meter in der Sanddünung ist die Stellung für uns ausgeworfen, vor einer sich wellig hinziehenden Anhöhe. Dahinter erhebt sich eine etwas höhere Hügelkette, aus der es wie Steinbrüche herausleuchtet. Die Russen drücken hier dauernd auf die deutsche Infanteriestellung. Der erste Graben ist schon geräumt, er lag vor der Hügelkette. Ein weiterer erfolgreicher Durchbruch durch die Reservestellung macht das Dorf mit seinem Proviantamt, Verbandplatz und der Krankensammelstelle zum direkten Ziel der russischen Maschinengewehre. Die Hügelkette muss wieder frei von Russen sein.
Wir sollen noch in der Dunkelheit auffahren und um 4,30 Uhr feuerbereit sein. Über uns liegt ein klarer Himmel, über dem kleinen See eine Eisschicht, die schon trägt. Vorn lebt schon gleich nach Mitternacht das Gewehr- und Maschinengewehrfeuer auf, dazwischen die dröhnenden Einschläge der Minen. Das Konzert der einsetzenden Artillerie läuft von links und rechts her zusammen. Russische Granaten und Schrapnells tasten sich von links an dem See herauf, kommen näher; eine Granate explodiert auf dem Eis und wirft eine Riesenfeuersäule hoch, die klatschend auf das Eis zurückfällt.
Die Batterie sitzt auf, fährt im Trab auf die Sanddünung — bricht durch die dünne Decke, die Räder sinken ein, die Last zwingt die Pferde zum Schritt. Sie ziehen schnaubend, immer tiefer versinken die Kanonen. Die Steigung macht sich bemerkbar, das erste Geschütz sitzt schon fest, hundert Meter vor der Stellung. Munitionskörbe fliegen in den Schnee.
Wir schaufeln frei, die Pferde ziehen von neuem an. Ein Gaul wiehert laut in den dämmernden Morgen. Vor uns, hundert Meter vor der ausgeworfenen Stellung, heulen zwei Einschläge auf. Steinbrocken poltern zu Tal, Batzen gefrorener Erde springen aus dem Wald und werfen sich hart vor uns hin. Der stählern singende Ton der Brisanzgranaten kriecht warnend an unseren Ohren vorüber, über den Weiher, als schon der Abschuss der zweiten Salve aufzuckt. „Wui wui owuiee — Kramssss — Ha Summ!"
„In die Speichen!"
Am zweiten Geschütz schlägt ein Mittelpferd unausgesetzt hintenaus, steigt dann vorn hoch, springt trotz aller Hiebe über die Stränge, will zurück, fällt um und schlägt im Liegen um sich. Man schneidet es aus den Strängen; es springt schreiend auf und beißt dem Fahrer, der es halten will, den Oberarm durch. Dann stürzt es davon, überschlägt sich, springt wieder auf, kommt bis zum Weg am Weiher, überschlägt sich noch einmal. Dann kommt es nur noch mit Kopf und Vorderbeinen hoch, scheint sich dauernd auf die herabhängenden Stränge zu treten oder auf das Sattelzeug, das ihm unter dem Leib zu hängen scheint. Gibt dann seine Anstrengungen auf und fällt schwer auf die Erde.
Das erste Geschütz ist in Stellung; sämtliche Mannschaften liegen in den Speichen oder schieben. Eine neue Salve setzt einen Volltreffer zwischen die Munitionskörbe. Die Fetzen fliegen in die Luft. Es explodiert zum Glück nur eine Granate.
„Kanoniere hierher!"
Am zweiten Geschütz sammeln sie sich nicht mehr vollzählig. Einer liegt über dem Haufen zerrissener Geschoßkörbe auf dem Rücken, als ging ihn das alles gar nichts an. Einer erhebt sich langsam, wankt und schreit: „Ich verblute! Ich verblute 1" Wir haben keine Zeit zu sehen, was ihnen fehlt. Wir müssen in Deckung — um jeden Preis. Die Pferde werden ausgespannt, abgeprotzt und die Lafetten über den gefrorenen Boden geschoben. Es geht alles durcheinander, zwei Richtkanoniere fallen aus. Die Hälfte steht wie vom Schreck gebannt, immer auf dem Sprung, sich hinzuwerfen.
Die Telefonisten ziehen Drähte hinter die Stellung unter die hohen Bäume, hinter denen der Hauptmann liegt. Roggenbrot führt die Batterie und meldet „feuerbereit", nachdem er erst von Geschütz zu Geschütz gelaufen ist und sich eigenhändig überzeugt hat, dass alles stimmt.
Die Batterie feuert mit den wenigen, die weniger gute Soldaten sind, und die — nicht nur hier — den Kopf nicht verlieren.
Der Graben vorn wird wieder ausgebogen — weil es drüben nicht besser ist. Die Batterie kehrt zurück und hat neben zwei Toten fünf Verwundete verloren, unter ihnen Unteroffizier Fingerhut. Ein Granatsplitter riss ihm den rechten Oberschenkel auf, auch vorn am Fuß ist der Stiefel zerfetzt. Er schreit vor Schmerzen, das Blut quietscht im Stiefel. Ich bringe ihn nach hinten.
„Nun bin ich doch ein Krüppel —", sagt er erschöpft, „was soll ich bloß machen."
Ich blicke in ein von der Angst zerwühltes Gesicht. Die Haare hängen ihm unter der Schirmmütze hervor. So jung ist das Gesicht des Einjährigen-Unteroffiziers, ein Flaum läuft über die Oberlippe. Vielleicht denkt er an sein Mädchen und hat Angst, dass sie den jungen Krüppel nicht mit dem stattlichen Unteroffizier oder Leutnant vertauschen will.
Als ihm der Sanitäter den Stiefel herunterschneidet, ihm die Fetzen von Strümpfen aus der Wunde zieht und dann sagt: „Ist nicht so schlimm, ohne große Zehe können Sie noch länge leben, und das Loch im Oberschenkel hat nur das Fleisch erwischt!" läuft schon wieder ein Lachen über sein Gesicht.
Deutschland, die Heimat, winkt.
Ich weiß nicht, was mit den andern ist; die Batterie wechselt zurück in ihre alte Stellung. Das verendete Mittelpferd liegt noch da, man sieht nun, dass der Klumpen Geschirrfetzen, in die es sich verfing, als es immer wieder aufstehen wollte, die Därme waren, die ihm aus dem Leib quollen. Der Winter zieht ein.
Die Batterie bekommt Ersatz, der oft nicht einmal eine Woche aushält. Die Ruhr packt sie, trotz aller Impfungen, einen nach dem andern. Zahnreißen grassiert wie eine Epidemie, die Zähne werden lose, fallen aus, alle Berührungen des Gaumens mit Flüssigkeiten oder Speisen über oder unter der Bluttemperatur verursachen unheimliche Schmerzen.
Urlaub gibt es, einer nach dem andern fährt — einmal muss man sie ja fahren lassen. Sie kommen zurück, ausgehungert und stürzen sich auf das Brot. Brot haben wir — im Gegensatz zur Infanterie — genügend.
„Nehmt euch Brot auf Urlaub mit!" ermahnen sie alle, „in Deutschland müsst ihr noch mehr hungern als hier." Die Phantasie lebt auf — von Frauen und Mädchen und Liebe ist viel die Rede. Von der Treue der Liebsten daheim, der Frau. Jeder schwört und legt die Hand für die Seine ins Feuer.
Auch Berg, der neue Koch, der von der „Kolonne" zu uns kam. Knöhnagel ist fort, ist unter den Kranken. Berg hat eingereicht, sollte schon Weihnachten dran sein. Aber er saß zu Weihnachten auch hier — wie ich — und empfing mit den Pechvögeln „Liebesgaben" zum Trost. Aber nun soll es werden.
Da bekommt Berg das „Laufen". Heimlich schleicht er sich zu der Latrine; es soll ja keiner sehen, dass er krank ist. Hat noch Schwein gehabt, dass das Kommando für die Grabenkanone glücklich weg ist. Zwei waren dabei und kommen auf diese saubere Art um ihren Urlaub. Berg kann die Zeit gar nicht abwarten — er ist eifersüchtig, und die andern wissen es. „Die wird gerade warten, bist du kommst. Hast du 'ne Ahnung!"
Wie bei Menschen, die sich an der bloßen Erinnerung an eine Frau erhitzen, werden Bilder ausgemalt, in denen Bergs Frau mit Männern die Nächte durchlebt, gewissenlos, jauchzend.
„Denkst, die lötet sich das Ding so lange zu! — Vielleicht lässt sie dich gar nicht mehr heran." Berg wird stutzig und still. — Vielleicht doch?
Er fiebert in Ungewissheit, will ihr unbedingt eine Freude machen. Er buddelt die früher einmal vergrabene Wäsche aus: Hemden, Unterhosen, Strümpfe. Die Einjährigen und Unteroffiziere hatten, als die Batterie hier ankam, noch Überfluss. Sie ließen sich einfach neues Unterzeug schicken und vergruben das verlauste. Berg ist beim Umgraben des „Gartens" auf Fetzen gestoßen, hat weitergegraben, und nicht ohne Erfolg. Hat dann alles gewaschen und geflickt, und will es mitnehmen. Daheim müssen sie alles sündhaft teuer bezahlen — und bekommen es nur auf Bezugsschein.
Und gespart hat Berg, seine gesamte Löhnung, seit langer Zeit. Wenn sie dann sieht, seine Frau, was sie für einen Mann hat, wird sie es sich doch überlegen, ob sie es mit ihm verderben soll. Er sieht sie schon vor sich, wie sie strahlt, wenn er ankommt, mit den Fettigkeiten, die er in Warschau einkaufen will. Er kann die Zeit nicht mehr abwarten, ist nervös. Er ist überhaupt so herunter, auch körperlich. Ob er sich erkältet hat?
Gegen die Ruhr hilft nur „Stopfung", hat er einmal irgendwo gehört, vielleicht von dem Teufelsbraten von Offiziersburschen, der für alles Allerweltsrezepte hat und der sich nicht entgehen lässt, ihm einen Bären aufzubinden:
„Du musst Pudding essen, viel Pudding, Berg, das stopft."
„Pudding! Leicht gesagt, aber mit was?"
„Hast doch Graupen oder Grieß, oder was. Musst die Sache nur schön dick anrichten."
Berg isst einen Napf nach dem andern, geht dann hinaus und kommt kreidebleich wieder herein. Sein Magen behält nichts mehr; aber Berg ist hartnäckig, greift sich einen neuen Napf voll — er hat vorgesorgt — und isst wie ein Verzweifelter. Der Posten erwischt ihn, als er einmal in den Unterstand sieht, wie er zitternd löffelt.
„Pass auf Berg auf, der ist schon total verrückt", sagt er zu mir, als ich ihn ablöse. „Der muss weg, aber schleunigst. Ich habe ihn ins Bett geschickt."
Schon nach der ersten Runde geht die Tür des Unterstandes,
in dem Berg schläft, von neuem auf. Er sucht zur Latrine zu kommen, wankt aber, tritt auf sein langes Nachthemd, das auch aus seinem ausgegrabenen Wäscheschatz stammt, und fällt hin. Als er mich kommen sieht, bettelt er: „Verrat mich nicht, Betzoldt, es ist nichts, ich muss nur brechen, mir ist so schlecht." Dann versucht er wieder hineinzukommen, fällt aber mit den Händen gegen die Tür. So, mit dem Gesicht an die Tür gelehnt, bricht er alles wieder aus.
Ich bringe ihn hinein, decke ihm noch ein paar Decken über und sage: „Berg, mach keinen Quatsch. In der Kälte hinauslaufen, kann dein Tod sein. Morgen früh meldest du dich krank, sonst muss ich dich krank melden, und lass das Graupenfressen sein, willst dich wohl mit Gewalt kaputtmachen!"
Berg kriecht stöhnend in sein Bett, kommt auch nicht mehr zum Vorschein, meldet sich auch nicht, als ich den Rest des Graupenpuddings nehme und draußen in die Latrine kippe. Als ich ihn frage, ob er etwas braucht, bevor ich mich hinlege, sagt er: „Nein, mir fehlt jetzt gar nichts mehr, nur ein bisschen schwach, Erkältung!"
Er wartet aber nur darauf, bis ich einschlafe. Als er glaubt, dass er nicht mehr beobachtet wird, kriecht er heraus an sein Spind und greift sich eine Konservenbüchse voll „Pudding", die er dort noch verstaut hatte. Als ich die Taschenlampe anknipse, versucht er seinen Schatz schnell auf den Schemel vor dem Tisch zu bringen, damit ich nichts sehen soll, aber die Büchse fällt ihm aus den Fingern, er sinkt erschöpft in seinen Pudding hinein und stiert mich mit irren Augen an.
„Berg, mach keine Dummheiten!" Was soll ich weiter sagen zu einem Schwerkranken, den die Ruhr um den Urlaub bringt und der nun vor Eifersucht verrückt zu werden droht. Er gehorcht wie ein ertapptes Kind und tappelt stumm wieder in sein Bett.
Morgens tritt Berg mit an. Er ist weiß wie Mehl, kann sich kaum auf den Beinen halten, lässt schon Blut. Der Unteroffizier meldet ihn krank, aber Berg will nichts davon wissen. Zwei Mann bringen ihn auf einen Wagen, er muss sofort weg. „Meine Sachen!" lallt er noch, „meine Sachen!"
Man packt sie ihm auf den Wagen, auch seine Brieftasche und seine Uhr, und fährt mit ihm los. Zwei Tage später war er tot.
Viele, sehr viele erwischt die Ruhr. Sehr viele kommen nicht wieder, sterben einen unrühmlichen Heldentod. Die Alten, die von Anfang an hier sind, sind nur ein kleines Häufchen, und der neue Ersatz „bewährt" sich noch schlechter. Oft schon genügt das Gift der Riesenmückenschwärme, die im Frühling die Sümpfe bevölkern und die Menschen anfallen. Die Gesichter schwellen an, als hätten sie alle „Ziegenpeter". Bei einigen produziert der eigene Körper die Gegenkräfte, die den Körper immun machen. Viele jedoch weiden sofort krank und verschwinden wieder. Die physisch geschwächten Körper fallen dem Klima zum Opfer. Sie werden auf „humanere" Art als im Westen um die Ecke gebracht.
Ich fahre als einer der letzten der „alten Leute".
Gustav ist bereits vom Urlaub zurückgekommen; er hat Sophie besucht und sagt: „Et geit bös her in Deutschland, Hans, nimm mit, wat du an Brot erwischen deist, in Deutschland, hauptsächlich in de Stadt, verhungern de Lüd einfach. Ok Sophie sieht nich gaut ut. 'n beten hew ick ehr jo doaloten, aber dat langt nich wiet. 'n beten Geld hett se mi mitgeben, für Fettigkeiten, un sie freut sich so up di."
Wieviel kann ein Soldat nun schleppen? Er hat Tornister, Karabiner, Gasmaske, Helm, Seitengewehr, Mantel, hat mit allem Drum und Dran schon an sich zu schleppen. Ich lasse, was irgend möglich ist, zurück und verstaue die fünf Pfund Butter, den Speck, den Käse, alles, was Gustav beim Empfang aus der Kantine besorgte. Gustav kommt mit zur Kleinbahn; er trägt mir den Sack mit dem Brot, siebzehn kleine Kommissbrote sind darin. Dort wirft er mir den Sack auf die offene Lore und sagt: „Komm gaut hen, Hans! Lot juch dat gaut schmecken."
Die Kleinbahn torkelt los. Gustav winkt noch mit seiner verschrumpelten Fahrermütze wie ein alter Bauer und stampft dann davon; langsam, gebeugt geht er den Berg zurück, gar nicht wie ein Soldat.
Ich stehe müde, abgespannt neben meinem Sack auf dem offenen Wagen. Wer schläft wohl die Nacht vor der Fahrt auf Urlaub? Ein kalter Regenschauer nach dem andern geht nieder. Ich breite meine Zeltbahn über meinen Brotsack, setze mich darauf und denke: Jede Stunde bringt dich jetzt der Heimat näher; in zwei Tagen bist du da. Was innerhalb der zwei Tage ist, muss ertragen werden; Hauptsache, du kommst — wenn auch halbtot — hin.
In Swatajawolja muss ich auf eine andere Kleinbahn umsteigen. Ich nehme meinen Brotsack auf die Schultern und laufe im Trab über die Geleise. Die Bahn wartet auf die Urlauber, aber nur, bis der letzte an irgendeinem Wagen hängt. Aufspringen müssen sie im Fahren. Ich muss also, da ich erst meinen Sack hinaufbugsieren muss, soviel schneller laufen als die andern, und bin, als ich glücklich auf dem Wagen sitze, dem Umfallen nahe. Aber ich habe meinen Sack gerettet — und fahre! In Iwatzewitzi muss ich den Fernzug abwarten. Ich liege in jenem Schuppen, den ich von meiner Fahrt nach Warschau her kenne. Ich weiß, dass fünf Minuten Schlaf genügen, dass mir mein Sack mit dem Brot geklaut wird. Ich werde mich schwer hüten!
So liege ich, den Sack neben mir wie eine Liebste, und warte die Stunden der Nacht ab. Ich weiß nicht, wie ich in die Bahn kommen werde.
Ich sehe aber, wie sie schon um vier Uhr morgens — eine Stunde vor Eintreffen des Zuges — antreten, und schleppe meinen Sack ebenfalls rechtzeitig an die Bahn. Ich habe so eine geschlagene Stunde Zeit zu überlegen, wie ich meinen Sack elegant in ein Kupee bugsiere. Hoffentlich komme ich nicht gerade zwischen zwei Wagen zu stehen?
Der Zug kommt, die Tür wird aufgerissen — da fliegt mein Sack auch schon, hinein, auf Köpfe, Knie, Bäuche.
Nun kann nichts mehr schief gehen! Wenn auch zwanzig Stunden Fahrt nach zwei schlaflosen Nächten eine starke Nervenprobe sein mögen: am Ende steht Sophie vor siebzehn
Kommissbroten, einem großen Käse, zwei Pfund Speck und fünf Pfund Butter. Das ist schon einige Unannehmlichkeiten wert.
Der Zug rast durch Warschau, durch Polen. Ich sitze rittlings auf meinem Sack. Mantel, Zeltbahn, Tornister liegen darauf, dass niemand durch den Inhalt gereizt wird. Alle Augenblicke schrecke ich auf, kämpfe schon verzweifelt gegen den Schlaf.
Aber wir fahren schon über die deutsche Grenze. Feldarbeiter winken, Kinder grüßen. — Nur die Posten an den Brücken demonstrieren die „Größe" der Zeit. — Doch daran denkt jetzt niemand. Sie erheben sich vom Fußboden, packen, einige steigen schon aus.
Es ist abends, in der zehnten Stunde, als wir in Berlin eintreffen. Der Zug nach Hamburg geht um elf. Ich gehe nach einem verkehrten Bahnsteig — dem der Stadtbahnzüge —, erkundige mich noch einmal nach dem Fernbahnsteig, bleibe aber auf der Bank sitzen. Ich bin zu müde, um mich noch einmal zu erheben und meinen Sack überzunehmen.
Ich weiß nur noch, wie mir mit einem Male alles vor den Augen tanzt: die Menschen, die Züge, die Bahnhofshalle, einen närrischen, höhnischen Tanz, tausend Grimassen mich anstaunen, als wollten sie mich foppen.
Als ich unweit vom Schlesischen Bahnhof in einer Station des „Roten Kreuz" erwache, merke ich sofort, dass ich meinen Sack nicht mehr habe. Ich sehe um mich. Ich liege ganz allein auf einem Strohsack an der Erde. Soll ich schreien?
Da kommt eine Schwester auf mich zu und lächelt: „Sie suchen wohl Ihren Sack?"
„Ja." Ich fühle, wie mir das Herz stehen bleibt.
Aber sie beruhigt mich, geht mit mir in ihre Bude, zeigt mir meinen Sack und gibt mir „Kaffee".
Ich muss mich erst setzen, muss mich zusammenreißen. Dann nehme ich ein Paket Butter, schneide es durch und gebe ihr die Hälfte, und dazu ein Brot. Sie nimmt es, bedankt sich und sagt: „Sie haben Glück gehabt. Sie fielen von der Bank, sprangen dann wieder auf, wollten Ihren Sack nehmen und torkelten. Dann fielen Sie mit Ihrem Sack über den Bahnsteig, auf das Gleis.
An Ihren Papieren sind Sie erkannt und hierhergebracht worden. Hier liegen Sie und schlafen von gestern abend elf Uhr bis jetzt."
Ich sehe nach der Uhr, es ist acht Uhr abends. Ich habe also ununterbrochen zwanzig Stunden geschlafen. Zehn Tage habe ich Urlaub, drei sind schon um, ehe ich bei Sophie bin.
Sophie steht während dieser Zeit in Hamburg am Bahnhof und sieht mich nicht unter den Urlaubern, die aus den Zügen steigen. Sie steht die ganze Nacht, den ganzen Tag, und geht traurig nach Hause. So nehme ich meinen Sack auf die Schultern und gehe durch die menschenleeren Straßen. Die Schritte meiner eisenbeschlagenen Stiefel klatschen an den Mauern hoch. In zwanzig Minuten hocke ich auf meinem Sack vor der verschlossenen Haustür und warte. Als die ersten Arbeiter öffnen, stampfe ich die Treppe hinauf und klopfe. Mein Sack fällt mit einem lauten Bums auf den Flur.
„Wer ist da?"
„Ich, Sophl!"
Da fliegt auch schon die Tür auf und Sophl auf mich zu, aber sie erreicht ihr Ziel nur stolpernd, sie hat den Sack nicht gesehen.
„Was hast denn da, Hans?" fragt sie nun und mustert das Etwas, das vor ihr im Dunkeln liegt.
„Brot, Sophl."
„Bro—o—oot?"
„Ja, Brot!"
Sie tastet ungläubig durch die Leinwand, aber ich mache kurzen Prozess, nehme den Sack und schütte die Brote in die Stube, die Butter, den Speck und den Käse packe ich auf den Tisch. Sie betastet alles, sieht ungläubig auf den Reichtum, dann immer wieder auf mich, als wolle sie in meinem Gesicht lesen, weiß gar nicht, was sie sagen soll, lacht und weint zu gleicher Zeit. Es dauert eine Weile, bis wir wieder zur Besinnung kommen. Sie wird zuerst „vernünftig" und sagt: „Komm, Lütting, steh auf! Du hast doch das Brot nicht mitgebracht, damit wir uns darauf herumwälzen." |
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