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Adam Scharrer - Vaterlandslose Gesellen (1930)
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XXVI.

Unser Holzvorrat ist aufgezehrt. Der kalte Wind pfeift um die alten morschen, undichten Fenster. Die kleine Bertha saugt hungrig an den leeren Brüsten der Mutter. Gustav lag drei Monate in Köln, ist nun zu Hause. Er hat den rechten Fuß verloren.
Ich bin noch nicht unter denen, die hinausbefördert wurden. Jeden Tag luge ich horchend zur Tür herein, wenn ich heimkehre, suche auf Sophies Gesicht zu lesen. Jeden Tag ist die Galgenfrist verlängert — bis zum nächsten Tag.
Jeden Tag habe ich vor mir die Arbeit, knifflig und interessant, wäre sie für einen anderen Zweck bestimmt. So aber wird die Ausführung kompliziertester Mechanik zur lächerlichen Farce. Ich versuche, das Interesse in mir krampfhaft wach zu halten — bis die ganze mühsame Konstruktion in meinem Schädel wieder einstürzt. Einen Hammer müsste man nehmen, einen großen Hammer! — und Bank und Arbeit in Trümmer schlagen. Wozu den langweiligen Umweg erst wählen. Ist doch alles bestimmt, zu vernichten und vernichtet zu werden.
Ich versuche langsam zu erfassen, dass die Niederlage keine Niederlage war. Genosse Kerr setzt das ausführlich auseinander. „Das Auf und Ab der zersplitterten Streiks in Deutschland, in Österreich, in Ungarn", sagt er, „ist das Wetterleuchten des großen revolutionären Gewitters."
Wenn er so steht und spricht, selbst vertrieben von Frau und Kind, und ermahnt, den Kopf, nicht hängen zu lassen, kommt von irgendwoher ein frischer Luftzug. Er steht da wie ein Abgesandter des russischen Proletariats, ermahnt, ermuntert, erklärt, als öffne er ein Fenster, aus dem wir hinausschauen auf das gigantische Ringen im Osten, wo das Proletariat in den Arbeiter- und Soldatenräten die Tatze des Löwen zeigt. Wir sehen die abgrundtiefe Heuchelei der deutschen Militaristen, deren „Friede" im Osten zum Ziel hat, die revolutionäre Basis mit einem Ring von Vasallenstaaten zu blockieren, um die Kraft des kämpfenden Proletariats zu isolieren und zu ersticken.
Dann finden die gehetzten Nerven wieder Halt, findet das Hirn wieder Perspektiven — um vor der Frage zu landen: „Wie können wir helfen?" Und wieder sind alle Aussichten verdüstert: Wer sich rührt, wird stumm gemacht.
„Fleischlose" Wochen werden eingeführt. Im Westen beginnt die große Offensive, die die Entscheidung bringen soll.
Sophie steht Stunden, Tage, das Kind auf dem Arm, nach einem Hering, nach ein paar Bouillonwürfeln, kommt dann oft mit leeren Händen zurück, möchte mir so gern eine kleine Überraschung, eine Freude machen, knickt zusammen, erwartet mich mit leeren Augen, wie gelähmt.
Dann ist an mir wieder die Reihe, ihr zu sagen: „Wenn ich dich nicht hätte, Sophl, und unseren Schreihals, dann müsst ich verzweifeln."
„Ist das wahr, Lütting?"
„Ja, so wahr ich vor dir stehe!"
Ich habe das Bedürfnis, meine Worte durch eine Tat zu beweisen und sage: „Ich werde doch einmal zu Gustav fahren." Sie legt ihre überschlanken Hände um meinen Hals, senkt den Kopf und beichtet: „Mitunter denke ich, du hast mich nicht mehr lieb."
„Das darfst du nicht denken", sage ich mit Nachdruck.
Sie schaut hoch und ist etwas froher: „Sei mir nicht böse, Lütting!"
Die Züge sind überfüllt. Die Gesichter der Reisenden sind verschlossen. Die patriotische Propaganda hockt niederträchtig aufdringlich an allen Wänden. Truppenteile aller denkbaren Kategorien bevölkern Bahn und Bahnhöfe. Auf den Feldern arbeiten die Bauern schon.
Ich gehe zwei Stunden von der Bahnstation zu Fuß, sehe das Dorf auftauchen, frage nach der Adresse, trete in den Hof vor einem kleinen Haus. Ein Knabe kommt dicht hinter mir, strohborstig, mit schweren Holzschuhen an den Füßen.
„Bist du ein kleiner Lohmann?"
„Ja!"
„Ist dein Vater zu Hause?"
„Er kommt eben — dort!"
Ein Einspänner biegt vom Felde her ab. Auf dem Wagen ein Mann, kommt auf das Häuschen zu, fährt links um den erhöhten Hof herum, hält vor der Scheune, springt herunter, sein Stumpen steht ab beim Sprung.
Ich weiß nicht, warum ich solange zögere, ihn vorbeifahren lasse, zusammengeduckt, die alte Soldatenmütze weit über der Stirn, die Peitsche lässig in der Hand, die Ellenbogen auf den Knien, nicht rechts und links schauend. Ich sehe dann von der Straße hinauf zu ihm, wie er den Gaul ausspannt, ihm die Stränge über den Rücken wirft und mit einem einsilbigen Befehl den Gaul verabschiedet, der zum Stall trottet.
Ich habe das Wort nicht verstanden — aber den Ton. Warum folge ich dem impulsiven Verlangen nicht, zu ihm hinzugehen, ihn zu begrüßen? Warte vielmehr, bis er selbst herunterstampft zwischen Garten und Stall, an seinem Stock — und mich sieht? „Hans!" „Gustav!" „Komm rin, Jung!"
Er humpelt schwerfällig die Steinstufen hoch. Seine alte Militärhose schlenkert um das Holzbein herum. Sein Chinesenbart ist wie zwei Garben im Stoppelfeld. Seine Narbe auf der Stirn leuchtet wie Schwefel. „Mutter!"
Eine Frau, aufgekrempelte Arme, in geflickter Arbeitsschürze, erscheint auf dem abgetretenen Flur. Ihre Haare sind glatt nach hinten gekämmt, ihr Gesicht welk und knochig. „Wir haben Besuch. Hans Betzoldt!" Sie wischt ihre nasse Hand an der Schürze ab, ihr verkniffener Mund wird freier. „Guten Tag, Herr Betzoldt!"
Der Junge lugt aus der Stubentür und reicht mir schüchtern die Hand. Wir treten ein. Ein Mädchen von zwölf Jahren räumt den Tisch ab. Zwei kleinere stehen staunend links am Ofen. Sie grüßen schüchtern und huschen zur Mutter in die Küche.
„Sind das alle, Gustav?"
„Nein, der Große ist schon in der Lehre, er lernt Tischler." „Fünf— gerade genug!"
„Dat sowieso — setz dich, Hans! — Was macht Sophie?" „Danke, weißt ja selbst, wie das geht — wir haben ein kleines Mädchen!"
„Dat lot ick mi gefall'n! Möcht se gern mol sehn, mut'n fein Deern sin."
Der Tisch wird gedeckt. Es gibt Kartoffeln und weißen Käse.
„Was macht die Batterie, Gustav?"
„Die macht wohl gar nichts mehr", sagt Gustav und pustet über ein Kartoffelstück im Mund. „Die haben sie gleich richtig eingetaucht."
„Wo wart ihr?"
„An der Somme!"
„Seit wann?"
„Seit November, die Russen hebben jo Schluss mokt, die sin schlauer!"
„Seid gleich richtig in den Schlamassel hineingekommen?"
„In zwei Tagen waren wir fertig. Zwei Geschütze Volltreffer, den letzten Rest haben wir bekommen, als wir abgehauen sind. Da hab ich auch meinen Denkzettel bekommen."
Ich bin etwas überrascht. Weiß mir den trockenen Gleichmut nicht recht zu erklären und sage: „Scheinst dich abgefunden zu haben, Gustav, wer das kann, wohl dem!"
Gustav antwortet unmittelbar: „Mitgegangen, mitgefangen. Wir haben gesehen, wie die Russen herüberwinkten, wie: ,Geht nach Hause, Brüder !' Wir sind geblieben, haben ,ausgehalten'. Gefangene Russen hinter der Front wollten durchbrechen, sie wurden zurückgetrieben.
Dann begann der Vormarsch im Osten von neuem, sie wollten wohl halb Russland haben. Und nun — da die Russen nicht mehr mitmachten — kam alles an die Westfront. Nun wollen sie im Westen den ,Frieden' machen. Unsere da oben sind eben nicht eher zu belehren, bis sie völlig auf dem Kreuz liegen."
Ich muss lachen. „Gustav", sage ich, „du fühlst dich wohl selbst schuldig?"
„Gott", sagt Gustav, „ganz unschuldig sind wir alle nicht. Wenn's passiert ist, ist es zu spät. Was nützt da noch das Zähneklappern. — Nich, Mutter?"
Mutter lacht seufzend durch ihre Runzeln, als wäre sie froh über den robusten Ton ihres Mannes. Als sie den Tisch abräumt, sagt Gustav: „Muss eben zum Bürgermeister gehen, komm bald wieder, bleibst doch die Nacht hier?" Gustav stampft fort. Seine Frau melkt, macht den Kühen die Streu und erzählt mir dabei:
„Das ist noch ein Glück, dass alles so gekommen ist. Er hatte einen feinen Arzt und der schrieb mir, dass ich kommen soll. Sein Bein war ein Klumpen Fleisch und Lumpenfetzen. Es lag in einer Gazetrommel, man konnte es ja gar nicht verbinden. Der Arzt wollte ihn durch Bestrahlungen, durch Licht heilen, wollte das Bein erhalten — wenn er das aushält. Er konnte das Beste essen. Aber der Eiter floss ja nur so, nahm die ganze Kraft mit, er war nur noch Haut und Knochen. Der Arzt hat ganz genau ausgerechnet, wie lange er noch macht. Und da hat er mich gerufen und gesagt: ,Liebe Frau, Ihr Mann gibt die Einwilligung zur Operation nicht. Wenn ich noch zwei Tage warte, ist es vielleicht schon zu spät.'
Da habe ich ihn doch überreden können. ,Wenn du willst, Luise', hat er gesagt, ,wenn du einen Krüppel magst, dann lass absägen. Ich wollte nicht so zu dir kommen!'" Sie stellt den Schemel beiseite, gibt mir einen großen Becher voll Milch, trägt die frische Milch fort. Gustav kommt wieder in den Stall, hockt sich auf den Schemel, schmaucht an seiner Pfeife. „Hest ok mitstreikt?" „Ja!"
„Nützt ja nichts!" sagt er trocken. „Die Russen wissen besser, was zu tun ist, die hauen zwischen. Wenn ick nu so an denk: sind doch andere Kerls!" „Ja, das sind sie!" „Dei wet, wo se anfoten!" „Hm!"
Verdammt! — Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll. Mich reizt die Diskussion nicht, ehe ich Gustav den Grund meines Kommens nahe gebracht habe. Ich suche vorsichtig vorzustoßen: „Wie geht dir das sonst, Gustav?"
„Man haut sich durch! Das ist nicht leicht. Jeden Tropfen Milch stöbern sie auf, jede Kartoffel, jedes Gramm Butter. Sieben Mann brauchen was. Die Großen lassen den Gendarm gar nicht erst rin. Aber bei uns sind sie dauernd am Schnüffeln. Ich kann mich nun ein bisschen rühren, als Kriegskrüppel, da können sie nicht so recht ran. Den andern Kleinen geht das nicht gut. Sie arbeiten bloß für die andern."
„Ist deine Frau wieder auf dem Posten?"
„Danke! — Hett väl durchmokt, wenn ick sie nich hewt hett, war ick ok nich mehr froh worn." Gustav fällt wieder in sein Plattdeutsch.
„In der Stadt sieht dat woll doll ut?" fragt er weiter.
„Ja, sieht bös aus. Wird immer schlimmer. — Das verfluchte Fressen!"
„Hew di 'n beten besorgt. Mit dem Schicken is dat hier man schlecht. Sie suchen alles durch. Fleisch haben wir selbst fast keins mehr. Sie loten uns jo nix."
Als ich in dem Bauernbett liege, in der kahlen Kammer — Gustav im andern Bett mit dem Stumpen neben seiner Frau —, bin ich froh, als beide gute Nacht wünschen. Ich kann nicht mehr sprechen.
Gustav fährt mich zur Bahn, obwohl ich abwehre. Sein magerer Gaul zog auch schon Kanonen, ist nun „d. u.". Aus den Stalltüren schimmert Licht. Die Milchkannen stehen auf den Höfen. Die Hunde bellen in den frischen Morgen.
„Hewt wohl orntlich upräumt nach 'n Streik", beginnt Gustav wieder.
Ich bin froher, denke an den Augenblick, wo ich vor Sophie hintrete, berichte ausführlich.
„Die Arbeiter in der Stadt schaffen dat allein nich", sagt Gustav nachdenklich. — „Kiek mol!" — er zeigt auf große Flächen Ackerland, über die schon der Dampfpflug zieht — „wat brukt de dat all för sich. De wet, worüm Krieg is, de scheffelt. Ick hew mi dat öberlegt, hew väl lest un öberlegt: wenn dat richtig anners warn schall, möt de Herrn verschwinden. Dat kann de Allgemeinheit moken. Dann wet se, worüm. De kriegt den Hals nie vull. De gewt freiwillig kein Schaufel vull aw. De lot all Kriegskrüppel glatt verhungern!"
„Du bist wohl angesteckt von den Bolschewiki?"
„Jo, Hans — bin immer still west, aber so ganz sachteken bin ick dorhinner komm'n. Wi quäln uns doch bloß för nix.
Uns Kinner möt wi all in de Stadt schicken, wenn wi em grot hebben. Dor hebben se erst recht nix. Un wenn dat mol losgeit, richtig, denn möt se in de Stadt ok doran denken. Süs ward dat bloß'n halben Kram!"
Die Sonne kommt schon höher, als wir diskutierend den Bahnhof erreichen. Über den Wiesen verzieht sich der Nebel. Dann gibt mir Gustav meinen Rucksack voll Kartoffeln, meinen Speck, einige Eier, ein wenig Butter und Brot. Dann einen Zettel vom Bürgermeister, auf dem bescheinigt ist, dass die Dinge regelrecht verdient, abgearbeitetes Deputat sind. „De mokt dat ok so, un kannt mi doch nu ok nich awschlog'n", grient Gustav. „Seh, nu könn se di dat nich wegnehm. Nu grüß Sophie recht schön von mi und de Deern!"
Ich reiche Gustav die Hand zum Abschied. Er schüttelt meine Hand immer wieder, als ergötze er sich an meiner Unbeholfenheit, sieht mich lachend an, klopft mir dann auf die Schulter und sagt: „Nu mok man, süs verpasst du noch den Zug!"
„Vielen Dank, Gustav! — Und grüße deine Frau recht schön von mir!" Ich spreche die Bitte langsam hin, möchte, dass er das so ausrichtet, wie ich es bestelle. Er scheint das zu verstehen. Er steht vor mir, als mustere er mich, horche auf den Ton. Sein Gesicht wird weich. In seinen Augen glänzt es.
Sophie erwartet mich, obwohl ich erst gegen Mitternacht eintreffe. Ich bin froh, vor ihr auspacken zu können, gehe hastig die Treppen hoch, begrüße sie unter der Tür.
„Tag, Sophie!"
„Tag, Lütting!"
Sie steht beiseite, als ich auspacke, sieht auf die Leckerbissen, setzt sich, ist blass, als friere sie.
„Dir ist wohl nicht gut, Sophie? Sieh dich vor, dass du dich nicht erkältest. Möchtest du noch etwas essen?"
„Nein!"
Ich stutze. Nicht der Gruß von Gustav, nicht das Gefühl, sich satt essen zu können, nicht meine Rückkehr, nichts vermag sie zu erfreuen. Ich sehe genauer hin, mir scheint, sie hört gar nicht auf meine Erzählung, oder nur nebenbei. Als quäle ich sie, schaut sie über die ausgebreiteten Sachen fort.
„Sophl, du bist krank — oder ist etwas vorgekommen? — Ist die Kleine gesund?"
„Ja!"
„Aber du bist so anders 1"
Sie wird noch blässer, scheint sprechen zu wollen, oder aufzustehen — ihre Hände heben sich schwer, als suchten sie mich zu fassen, dann fällt sie mit dem Gesicht auf ihre Arme und schluchzt.
Mir wird unheimlich zumute. Ich laufe nach der Kammer, sehe nach der Kleinen — sie schläft ruhig und fest. Dann leuchte ich mit der Lampe um den Wecker, sehe einen Brief und öffne:
„Sie haben sich am... in... vormittags 10 Uhr... "
Ich stelle die Lampe in der Küche auf den Tisch, auf dem Sophie liegt, hebe langsam ihren Kopf, schaue ihr in die gequälten Augen. Sie sagt nichts und will nichts, scheint niedergebrochen von dem Schlag, dem letzten. Liegt vor mir, zertreten nach aller verzweifelter Gegenwehr.
Butter und Speck und Kartoffeln und Eier vor ihr auf dem Tisch. Was kann es weiter sein, als Hohn für den, dem man sagt: Der Mensch, der dir alles ist — wird wahrscheinlich erschossen!
Ich bin überzeugt, dass ich gemaßregelt bin, gehe aber trotzdem mit meinem Schein zum Reklamationsbüro. Herr Zickel — die rechte Hand der Direktion in allen Angelegenheiten — nimmt den Schein und sagt: „Ausgeschlossen, Herr Betzoldt! Sie bleiben bei uns. Wir haben viele unserer besten Leute schon abgeben müssen. In Ihrer Sache werden wir alles daransetzen. Sie können ganz beruhigt sein."
Ich weiß nicht, ob ich ihm ins Gesicht schlagen soll oder ob es dennoch Menschen geben könnte, bei denen sich die innere Aufrichtigkeit in derart widernatürlichen Formen äußert — und gehe. Hohenstein sieht merkwürdig ernst zu mir herüber. Er ruft nicht nach mir, obwohl er sonst immer einige Worte mit mir wechselte.
Als ich am Abend das Tor passiere, höre ich seinen Anruf. Ich bleibe stehen, gehe dann mit ihm.
„Ich wollte Ihnen sagen", berichtet er, „dass Herr Zickel weiter nichts will, als Sie bis zum letzten Tag in der Hoffnung wiegen, es würde etwas für Sie unternommen!"
Ich sehe nicht ganz klar. Ist Hohenstein kaltgestellt? Ich lasse durchblicken, dass ich meine Beurlaubung seiner Initiative zu verdanken habe und frage, ob eine Änderung eingetreten sei.
„Ja!"
„Müssen Sie auch fort?"
„Ich hatte des öfteren Differenzen, habe auf eigene Faust Maßregelungen verhindert, aber dieser Herr Zickel hat seine schmutzigen Finger in allen Dingen. Sie wären längst fort, hätte ich Ihre Notierung nicht einfach unterschlagen!"
„Müssen Sie auch wieder ins Feld?"
„Ich gehe freiwillig. Ich bin vielleicht in drei Wochen schon draußen. Wenn einmal die Rede davon sein sollte, dann wäre es mir lieb, dass die Arbeiterschaft erfährt, dass ich mich nicht von den den Werken überwiesenen Lebensmitteln bestechen ließ. Im Gegenteil: Was in meinen Kräften stand, Sie und viele andere zu halten, habe ich getan."
Drei Tage vor dem Termin gehe ich zum Reklamationsbüro. Herr Zickel empfängt mich grinsend und sagt: „Ich sage Ihnen noch einmal, Sie können ganz ohne Sorge sein!" — Dann zu der Sekretärin: „Die Sache mit Betzoldt ist doch als außergewöhnlich dringend erledigt worden?"
„Es ist alles erledigt, Herr Zickel." Sie vermeidet mich anzusehen.
Herr Zickel gafft mich von neuem an, als wolle er sagen: Gehen Siel Warum denn so misstrauisch? und dann, als ich noch zögere, verabschiedend: „Sie erhalten sofort nach Eingang Bescheid!"
Aber ich gehe noch nicht, auch nicht, als Herr Zickel sich demonstrativ anderen Dingen zuwendet. Ich lasse ihn erst fragen: „Wünschen Sie sonst noch etwas?"
„Ich wollte Ihnen sagen, Herr Zickel, dass Sie eine derart infame und dreckige Kreatur sind, dass ich mich wundere, dass Sie nicht längst mit dem E. K. erster Klasse hier sitzen!"
Herr Zickel setzt einige Male zum Reden an. Sein hässlicher Mund unter dem lächerlich dünnen Spitz- und Schnurrbart bleibt aber in einem blöden Grinsen stecken. Er möchte aufstehen, wagt es aber nicht. Er wagt noch nicht einmal zu rufen.
„Geben Sie mir bitte meinen Schein, er liegt dort in dem Kasten, so wie Sie ihn hineingelegt haben!"
Da fühle ich, wie man mich von hinten zu packen sucht. Ich bin mit einem Satz über der Barriere, fasse einen Stuhl mit beiden Händen und sage: „Meine Herren, der erste, der herankommt, riskiert seinen Kürbis. Ich verlange weiter nichts als meinen Schein, er liegt dort in dem Kasten!"
Ich bin gar nicht willens, es darauf anzulegen, mich von der leicht herbeizurufenden Wache überwältigen zu lassen, im Gegenteil: ich möchte am liebsten laut lachen. Aber man muss mich doch für einen außergewöhnlich gefährlichen Menschen halten und möchte einen Skandal vermeiden. — Deshalb rief man nach Riedel, der pustend auftaucht. Er hört, schaut unschlüssig zu mir herüber und sagt dann: „Betzoldt, mach keine Dummheiten, ich werde der Sache auf den Grund gehen!"
„Können wir gleich machen. Sieh dort den Kasten nach, darin liegt der Schein!"
Da springt Zickel, als brenne ihm der Stuhl unter dem Hinterteil, zu dem Sekretär hin und verschließt ihn. „Meine Herren!" sagt er dann, „ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie sich des Hausfriedensbruches schuldig machen. — Ich bitte nunmehr — sonst!" Er hat schon das Telefon in der Hand.
Riedel ist baff. Ich gehe lachend auf ihn zu und sage: „Komm, bist ein guter Kerl, aber dem Gauner bist du nicht gewachsen. Ich hab dir doch gesagt, wo der Schein liegt, warum langst du nicht zu!?"
Er braucht Zeit, um sich zu sammeln. Dann sagt er: „Magst recht haben, Betzoldt, aber man nimmt doch nicht immer das Schlimmste an. — Leb wohl!" Er geht über den Hof hin, lang und knickend. Wenn er hinfallen und nicht wieder aufstehen oder sich in irgendeiner Ecke verkriechen und weinen würde: ich würde mich nicht wundern.
Die letzten Tage und Stunden sind immer die schwersten. Der Händedruck der Genossen ist wortlos. Ermunterungen sind billig und lästig für den, der geht. Sie wissen das und schweigen.
Sophie weiß, dass viele schon in den Gefängnissen durch den Hunger umgebracht oder auf Festung zu Tode gehetzt wurden. Sie grübelt und schweigt auch.
Ich habe nur noch einen Wunsch: außer Sehweite zu sein. Dem, was da kommt, begegnen zu können, unbeachtet von ihren Augen. Ich bin so radikal fertig mit dem Vorsatz, nicht mehr hinauszuziehen, dass sich alle meine Gedanken auf zwei Möglichkeiten konzentrieren: Flucht oder Gefängnis. Alles andere scheidet aus.
Die Uhr geht mir zu langsam. Wenn schon, denn schon! Jeder Versuch, den andern aufzurichten, ist Täuschung — das kribbelt in den Fingern, den Zeiger mit einem Ruck hinzustoßen — Schluss!
Und dann kriecht es doch hoch, von den Zehen durch Schenkel und Brust, bleibt stecken im Hals. Ich fühle, wie die Muskeln in meinem Gesicht aus dem Spiel fallen. Ich habe mich nicht mehr in der Gewalt, darf jetzt keine Dummheit machen, nicht etwa versuchen zu lachen, wer weiß, welche Grimasse das werden könnte.
Ich nehme meinen Pappkarton, gebe Bertha und dann Sophie die Hand, drücke ihre Hand einmal, zweimal. Bertha streckt ihre Ärmchen, jauchzt auf und will Sophie vom Arm springen.
Ich versuche mich kurz umzudrehen — und es geht. Versuche den Arm zu heben, um die Tür zu öffnen. Auch das gelingt. Ich brauche mich nicht umzudrehen, um sie heranzuschlagen — und das ist gut so!
Ich bin draußen. Es ging besser, als ich dachte. Bis um die Ecke ist es nicht weit und Sophie kommt hoffentlich nicht nach. Ich möchte alles — wenn es über mich kommen sollte — allein abmachen.
Wir werden zum letzten Male aufgerufen. Fünf Mann von vierzig fehlen. Es fällt nicht mehr sonderlich auf. Wir gehen hinaus zum Hof, in ungleichmäßigen Reihen. Frauen, Kinder stehen auf den Fußsteigen, grüßen, gehen mit. Eine ragt hager über die anderen hinaus. Die Sonne scheint auf ihren blonden Scheitel, ein Kind auf ihrem Arm schaut staunend über den Bahnhof, zu den Posten, zu uns, zu seiner Mutter — zu Sophie.
Ich springe aus der Reihe, gebe ihr den Karton, nehme das Kind und sage: „Komm!" Der Unteroffizier läuft vor: „Das geht nicht, seien Sie doch vernünftig!"
„Meine Frau ist müde! Lassen Sie mich!"
Er dringt nicht weiter in mich, schüttelt nur den Kopf. Sophie geht neben mir, trägt meinen Karton, von Schöneberg bis zu einem versteckten Geleise irgendeines Bahnhofes im Innern der Stadt, von morgens zehn Uhr bis nachmittags um zwei. Wir essen an der Rampe unser vertrocknetes Brot. Mir ist es gar nicht, als nähmen wir Abschied. Ich bin der letzte, der einsteigt. Küsse Bertha noch lachend und sage zu Sophie: „Ich komme wieder!"
Sie nimmt ihr Kind und geht mit den andern Frauen von der Rampe fort, winkt, über den andern noch einmal an der Ecke, als winke sie für alle.

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