VII.
Sophie ist krank. Sie hat das Kind nicht ausgetragen. Beinahe wäre sie verblutet, schrieben Anna und Martha. Es war kein Arzt zu finden in der Nacht. Zwei Tage habe ich ihren Tod erwartet, bis ein Brief von Sophie mich erlöste. „Es ist alles wieder gut, Hans, ängstige dich nicht! Wie geht es dir?"
Wie es mir geht, Sophie, das darf ich dir nicht schreiben, auch nicht, wenn die Zensur unserer Vorgesetzten nicht so argwöhnisch über Landesverräter wachen würde.
Die Herren hinter der Front wollen sich hier anscheinend auf Lebenszeit einrichten. Ganze Dörfer werden ausgeplündert, alles nur Denkbare herangeschleppt. Offizierskasinos entstehen, hübsche Schwestern nehmen der Etappe das männliche Einerlei.
Auch der Schützengraben bringt mancherlei Abwechslung. Für ein französisches Gewehr gibt es eine Mark Prämie. Die armen Teufel kriechen nachts im Gelände umher, unter den Leichen. Was sie den toten Franzosen sonst noch stehlen, gehört ihnen. Das Geschäft ging so gut, dass es jetzt nur noch fünfzig Pfennig gibt. Manchmal bringen sie auch Briefe mit, die in der Brieftasche verborgen sind. Die wandern ins Feuer oder sonstwohin.
Mantey brachten sie ins Lazarett. Er betete zuletzt ununterbrochen. Beinahe hätte ich ihn um Verzeihung gebeten, dass ich ihm den Schädel einschlagen wollte. Wollmers war verwundet, konnte nicht geholt werden, ist in Gefangenschaft.
„Ich hatt' einen Kameraden"? Mag sein, dass manch einer Trost darin findet, seine eigene Tragödie zu besingen. Ich gehöre nicht zu diesen Glücklichen.
Wenn die Granaten über uns krepieren, die zerschundenen Nerven den Angriff erwarten, Patrouillen nach vorn schleichen oder ein Angriff bevorsteht, dann gibt dir der Leutnant eine Zigarette, der Bauernsohn oder Gutsbesitzer ein Stück Wurst. „Nimm, Kamerad!" sagen sie dann. Was wollen sie noch damit, wenn die Kugel sie trifft? Es ist dann gut, einen Kameraden zu haben, auf den man sich verlassen kann.
Sie ist billig, diese Kameradschaft — und hört sofort auf, wenn wir etwas weiter vom Schuss sind. Dann essen die Habenichtse, die Proletarier, wieder ihr trockenes Brot.
Die Leutnants rauchen ihre Zigaretten selber. Die Bauern und Geldleute suchen mit ihrem Überfluss ebenfalls allein fertig zu werden.
Wer ihnen die dreckigen Stiefel putzt, ihre dreckigen Hemden wäscht, der kann mal einen Brocken erben, aber nicht von dem „Kameraden", der Herr bezahlt seinen Knecht.
Die Kameradschaft im Kriege ist die größte Lüge, die je erfunden wurde. Sie war niemals eine freiwillige, sondern immer nur eine Gemeinschaft von Todeskandidaten.
Und doch habe ich zwei gute Kameraden verloren. Das waren der Tischler Franz Daimler und der Landarbeiter Döring.
Daimler, Döring und ich waren gerade zum Bau von Brunnen kommandiert. Recht langsam ging die Bohrerei, zweimal haben wir das Saugersieb durch unser Würgen in dem harten Boden zerrissen. Aber wir haben Zeit. Nach fünfundzwanzig Umdrehungen sind wir immer drei Zentimeter tiefer. Da kann man schon die Tage hinbringen, wenn man acht Meter bohren muss.
Franz Daimler, der Landwehrmann, spricht nicht viel. Er denkt immer an seine Kinder in Schlesien und an seine Frau. In seinen Briefen, die er aus der Heimat empfängt, sind öfter Zeitungsausschnitte, die er sorgfältig studiert. Lange habe ich gezögert, ehe ich offen mit ihm sprach.
Den Frieden wollen zwar alle — aber wie, darüber scheinen wenige nachzudenken. Franz wird immer skeptischer. „Die Partei scheint Wege zu beschreiten, gegen die man unbedingt und konsequent Front machen muss. Die Sache mit dem ,Verteidigungskrieg' ist faul. Es gibt keinen Burgfrieden, solange es Kapitalismus gibt", meint er. Die paar Worte genügen, wir reichen uns die Hand.
Der Landarbeiter Döring half uns bei unserem Brunnen. Noch nie hat er vordem anderes von den Hetzern, den vaterlandslosen Gesellen gehört, als dass sie an den Galgen gehören. Er verstand auch jetzt nicht viel von dem, was wir besprachen — aber er ahnte, dass wir seine wirklichen Kameraden sind. Er wusste nicht recht, wie er uns seine Achtung beweisen sollte, er war der gute linkische Landproletarier. So versuchte er es mit eifriger Hilfsbereitschaft, wo immer er nur Gelegenheit hatte.
Die französische Artillerie streute schon seit Tagen in die Stellung, immer nur einige Schuss, immer um dieselbe Zeit. Eines Tages beginnt sie bereits am frühen Morgen in kurzen Unterbrechungen mit schweren Kalibern zu schießen. Alles flüchtet in die Unterstände, auch wir. Während hinter dem Graben und in der hinteren Stellung schweres Feuer aus großen Kalibern liegt, wird die Grabenbesatzung überrumpelt.
„Raus, nach vorn!"
Die Hintersten brüllen und sind froh, dass sie nicht durchkönnen und einen Grund haben, sitzen zu bleiben. Franz schaut misstrauisch durch die Tür. Dann holt er aus einer Kiste ein Paket hervor, das er tags zuvor bekam. In ein vierkantiges Klötzchen sind mit dem Zentrumsbohrer kunstgerecht drei Löcher gebohrt; in jedes Loch ist ein Fläschchen Schnaps gepresst. „Trink, Hans", sagt er, „ehe ihn vielleicht die andern aussaufen!" — „Trink, Junge", sagt er dann zu Döring, „trink, eh dir schlecht wird!"
Dann steckt er das Holz mit zwei noch fast vollen Fläschchen hinten in die Schlitztasche. Die Granaten toben um den Unterstand — ein Treffer, und wir sind erst recht erledigt in dieser erbärmlichen Bude. Wir sehen uns nur noch einmal stumm an. Daimlers roter Stoppelbart, der bis über die Schläfen läuft, lässt die Hautfarbe schlecht erkennen. Mir scheint, er ist ganz blass.
Ratsch a ha! — Ein Einschlag, ganz dicht, wirft uns auf den Bauch.
„Sprung auf, marsch, marsch!"
Wir müssen den Laufgraben erreichen. Von unserem Graben schießt schon französische Besatzung.
Neben mir schreit einer auf und stürzt vornüber.
Diese Hunde!
Schnellfeuer!
Kein Mensch kann sich ohne Deckung halten.
„Sprung auf, marsch, marsch!"
Der Unteroffizier stürzt vor, wirft sich wieder hin und krümmt sich wie in Krämpfen. Ich bin hinter ihm, sehe mich um — und sehe, dass hinter mir nichts ist. Aber ich habe Deckung, werfe mich hinter einen Haufen Sand.
Drüben im Laufgraben ist nichts zu sehen. Ob sie schon vorn sind ? Aber die Franzosen schießen wie verrückt. Rechts vor mir stürmt ein Trupp, so an zwanzig Mann vielleicht. Sie schießen ganz ohne Ziel, einer nach dem andern schreit auf und bleibt liegen. Sechs Mann haben sie schon niedergeknallt.
Himmelkreuzdonnerwetter! — Hunde!
Ganz fein, aber deutlich sehe ich einen Gewehrlauf vorkriechen, ein Käppi hinter ihm auftauchen.
Warte, du Schwein!
„Peng!" und schon wieder fällt einer der Unseren und wälzt sich; mir scheint, als wäre es immer dasselbe Gewehr.
Habe ich ihn erwischt? Sein Käppi fliegt fort.
Klatsch!
Sand spritzt mir ins Gesicht.
Ein neues Käppi taucht auf.
Patsch, er wankt hintenüber.
In drei Sprüngen bin ich im Laufgraben. Er ist vollgepfropft. Keiner will vorgehen, keiner will der erste sein, keiner als Deckung für die anderen dienen; ich bin der erste und werde geschoben.
So, schleichend, die Kugel erwarten?
Feiges Gesindel!
Eine unbeschreibliche Wut packt mich.
Hunde!
Als ich den Graben erreiche, ist er von dem stürmenden Trupp, von dem die Hälfte totgeblieben ist, von rechts her bereits aufgerollt und gesäubert. Ich springe über zwei Tote; dort brüllt einer jämmerlich, ein gurgelndes Brüllen. Er hat einen Halsschuss und kann, trotzdem ihm bei jedem Schrei das Blut aus dem Halse spritzt, nicht sterben. Neben ihm liegt ein anderer, scheinbar ganz ruhig. Ich versuche, ihn aufzuheben — da wimmert er schwach.
— Ich fasse in Blut und Därme, die nur durch den Waffenrock notdürftig verdeckt sind.
Unsere Verluste sind nicht „groß". Vielleicht so an die dreißig Mann. Die der Franzosen sind größer. Behrend hat allein sechs niedergeschossen, die aus einem Granatloch überlaufen wollten. Die jungen verschüchterten Bürschlein schleppten nichtsahnend ihre Gewehre an den Läufen mit. Jeder sah, dass sie nichts wollten, nur Behrend nicht. Er wollte — als Elsässer — jeden Verdacht abschütteln, dass er nicht zuverlässig sei. Er hätte noch mehr niedergeknallt, wenn ihm nicht einer das Gewehr aus der Hand geschlagen hätte.
Die Franzosen erreichten ihren Graben nur zum Teil, die andern hocken noch vor uns in den Löchern und müssen sich ergeben.
Ich gehe wieder zurück, an den beiden Toten vorbei. Der Kopf ist ihnen über den Augen aufgerissen.
Helm ab zum Gebet! Ein großes Massengrab nimmt sie auf. Mütter, Frauen, Bräute, Brüder oder Schwestern erhalten die Nachricht: „Fürs Vaterland gefallen!"
Der Hauptmann kommt, nimmt die Meldung entgegen, schaut in das Loch voll Menschenfleisch und sagt: „Kerls! — Ihr wisst, ihr seid mir alle ans Herz gewachsen, und jedes Aas, das ins Gras beißen muss, kann mir aufrichtig leid tun!"
Döring hat einen Schulterschuss und kann „abhauen", aber von Daimler fehlt jede Spur. Er ist vermisst. Die letzte Hoffnung schwindet, als die Gefangenenbegleiter zurückkehren, er ist nicht dabei. Ob er doch hinüber ist in den französischen Graben ? Ich werde in den Büschen nachsehen, vielleicht ist er links vom Laufgraben vorgestürzt und hat die Orientierung verloren. Nicht weit mehr nach links läuft unsere Stellung aus. Die Verbindung mit dem Nachbarbataillon ist nur ein schmaler Laufgraben, der ständig unter Gewehrfeuer liegt, weil er eine tiefliegende Waldstraße kreuzt.
Ich krieche hindurch und sehe schon von weitem die Umrisse eines Schattens an der Erde. Als ich ihn berühre — ganz vorsichtig, ich zittere noch bei dem Gedanken, wieder in warmes Menschenfleisch zu fassen —, fällt aus der Schlitztasche das Holzklötzchen mit den beiden Fläschchen heraus.
Die Nacht ist so hell und so ruhig. Der aufgehende Mond leuchtet durch die Bäume. Der Kopf Franz Daimlers ist über den Augen aufgerissen.
Die Post kommt; zitternd greife ich nach dem Paket, zitternd durchwühle ich den Inhalt, lese den Brief Sophies, esse, was sie mit ihren Fingern berührte.
Bis ich meine schmierigen, blutigen Hände sehe. Ich habe sie seit der Berührung des zerfetzten Soldaten nicht gewaschen. Ein furchtbares Brechen schüttelt mich, aber das, was mich so unbarmherzig würgt, immer würgt, bleibt unten. —
Ich werde dir nichts davon schreiben, Sophie. Ich werde dir schreiben, dass alles ausgezeichnet geschmeckt hat.
Lange kann das sowieso nicht mehr so weitergehen. Denn auch wir wissen, dass einer von den Einhundertzehn, die wir in den Reichstag sandten, unseren Schrei weitergab. Der Schrei Karl Liebknechts am 2. Dezember war unser Schrei!
Weihnachten rückt näher. Frieden muss werden — das ist
unsere Meinung. Frieden mit den „Feinden" da drüben, die auch den Frieden wollen.
Ein Kolben steigt aus ihrem Graben hoch, bewegt sich hin und her. Ein zweiter, ein dritter, die ganze Front entlang. Ein Kopf wird sichtbar. Ein französischer Soldat steigt aus dem Graben. Ein zweiter, ein dritter — die ganze Front steht vor dem Graben. Die Augen leuchten, die „Feinde" gehen aufeinander zu; ihre Hände greifen ineinander. Die ganze Front Flirey—St. Baussant „fraternisiert mit dem Feinde". Ihr Schlachtruf ist, hüben wie drüben: Friede!
Sie deuten auf die Leichen! Was ist das? Die zuckenden Schultern versuchen die Verantwortung abzuwerfen. Nichts dal Die Gebärden sind verständlich auch ohne Worte. „Wir sind Brüder!" sagen sie, wir wollen nicht mehr schießen! Statt zertrümmerter Hirnschalen tauschen wir Schokolade für Tabak und Zigaretten. Kein Offizier wagt einzuschreiten.
Zwei Tage später fällt von drüben ein Schuss. Sofort springen mehrere der Alpenjäger über den Graben und bedeuten uns, dass — sie greifen an die Schulter — ein Offizier geschossen hat.
Aber der Friede kommt nicht — wohl aber Ablösung der französischen Meuterer. Unsere Artillerie rührt sich, damit auch wir nicht „einschlafen". Liebesgaben werden verteilt, jeder bekommt sein Päckchen. Meine Spenderin ist ein fünfzehnjähriges Mädchen aus Finkenwärder, das mir ein frohes Fest wünscht. —
Die Nacht ist hell. Das „neue" Jahr wird bald beginnen. Zwischen den Fronten hocken die Raben und hacken den toten Helden die Augen aus den Schädeln. |
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