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Adam Scharrer - Vaterlandslose Gesellen (1930)
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XXIV.

Sophie erwartet im Januar ihre Niederkunft. Wir haben schon eine „eigene Wohnung", eine bis dahin leerstehende Mansarde mit „Stube und Küche".
Sophie sucht die schon zweimal zurechtgelegten Kinderhemden hervor, trifft die sonstigen Vorbereitungen. Einen Teekessel müssen wir noch haben, eine Badewanne, Betten. Wie sie aus Altem die „Aussteuer" zusammenstückelt, die paar Stückchen „Friedensseife" liebkost — ganz entrückt scheint sie dann dem grauen Jammer. Ich bringe in meinem Essköfferchen täglich etwas Holz mit, genau nach Maß hineingeschnitten, dreißig Zentimeter lang, fünfzehn Zentimeter im Quadrat. Zur Nachtschicht riskiere ich öfter stärkere Kloben, in Papier gewickelt, wie Arbeitszeug. Sophie schichtet alles sorgfältig an der Wand in der Stube auf. Diesen Winter werden wir nicht mehr so furchtbar frieren! Bis wir heizen müssen, kommt noch allerhand hinzu.
Was mich bedrückt, dass sie wieder allein daliegen könnte, behalte ich für mich. Ich bin Vertrauensmann geworden und nehme an allen Verhandlungen der Vertrauensmännerkonferenz teil. Auch in die Kommission bin ich gewählt, die mit der Betriebsleitung verhandelt.
Die Herren sind immer sehr freundlich. Sie haben nicht nötig, grob zu werden. Wenn einer dabei ist, der ihnen zu „anmaßend" wird, macht man unter seinen Namen in der Kartothek des Reklamationsbüros ein Kreuz, und die Sache ist erledigt. In „schwierigen Fällen" kann die Betriebsleitung nicht ohne die Direktion entscheiden, und wenn der Herr Direktor einmal Zeit hat, sind die Herren von der Betriebsleitung verhindert.
Die Vertrauensmännerkonferenz nimmt Kenntnis von den resultatlosen Verhandlungen.
„Wie lange soll denn das Theater noch dauern?" fragt ein Zwischenrufer höhnisch.
Er wird in die Kommission vorgeschlagen, lehnt aber ab.
„Dann red hier nicht klug, dazu brauchen wir keinen!"
„Wir haben mit der Direktion und der Betriebsleitung nicht mehr zu verhandeln", erklärt er ruhig, „wer das nicht begreift, kann mir leid tun!"
„Sehr richtig!"
„Quatsch! — hinterm Ofen sitzen und alles laufen lassen, ist sehr bequem, da lauern die Herren gerade drauf."
„Aus euch wird man verdammt nicht mehr klug, was wollt ihr eigentlich?"
„Die Kommission verdächtigen, unter der Belegschaft wühlen, und dann noch den Radikalen mimen, aber nirgends dabei sein. Ich mache das Theater nicht mehr mit!"
Alle, die die „Kommission" in Schutz nehmen, sehen mich an, als erwarteten sie eine Bestätigung. Der Obmann schlägt auf den Tisch und droht sein Amt niederzulegen. „Unerhört!" schwirrt es durch den Raum. Die Rufer stehen, gestikulieren mit den Händen. „Wenn da man nicht etwas anderes dahinter steckt?" fragt einer wichtig. Ein alter Arbeiter meldet sich zum Wort und hält eine lange Rede über die notwendige Einigkeit.
Auch ich gehöre zu den „Helfershelfern der Direktion", und fühle mich verpflichtet, mich zu verteidigen.
„Genossen, ich muss als Mitglied der Verhandlungskommission bestätigen, dass die Direktion mit uns Katz und Maus spielt. Sie kann mit jeder Kommission Katz und Maus spielen, solange die Belegschaft das duldet. Meine Meinung ist, der Belegschaft darüber klaren Wein einzuschenken!"
Die Kommissionsmitglieder — außer einem — schütteln die Köpfe und erklären dann, dass sie jede Verantwortung ablehnen. Die Minderheit bleibt ruhig und gefasst, und schickt einen Sprecher vor:
„Auch unser Betrieb ist nur ein Teil des Proletariats. Die proletarische Klasse kommt um die Frage der Stellung zum Kriege nicht herum. Diese Grundfrage verschleiern, heißt den Kopf in den Sand stecken. Wer für den Krieg ist, muss sich klar sein, dass er in einer Front steht mit den Kapitalisten und Militaristen. Warum denn mit verdeckten Karten spielen?"
„Wer ist denn für den Krieg?I"
Der Redner zieht eine Nummer des „Vorwärts" hervor und liest vor: „Sammelt Wollsachen und Winterkleidung für unsere tapferen Feldgrauen. Der vierte Winterfeldzug steht bevor!"
„Hört! Hört!"
„Wer sich zu dieser Auffassung bekennt und nicht begreift, dass keine Einigung möglich ist, ohne darüber Klarheit zu schaffen, wie man die Interessen des Proletariats vertritt, der verwechselt den Kampf um den Sozialismus mit der Tätigkeit eines Pfeifenklubs. Kein Wunder, dass die Herrschaften eine Kommission nicht ernst nehmen, von der sie wissen, dass sie in ihrer Mehrheit durch ihre eigene Taktik schachmatt gesetzt ist. Es handelt sich hier nicht um die parlamentarischen Qualitäten geschickter Unterhändler, sondern um den Bankrott der Burgfriedenspolitik der Scheidemann-Sozialdemokratie und der Gewerkschaften. Und dazu muss das Proletariat, und auch unsere Belegschaft Stellung nehmen!"
„Schon hundertmal gehört!"
„Das wollen sie bloß, Parteistreit und Zank! — Schluss!"
Der alte Obmann streicht in erzwungener Ruhe seinen schwarzen Bart und sagt: „Kollegen, so kommen wir nicht weiter! Wir müssen der Belegschaft Bericht erstatten über die Verhandlungen. Wozu den alten Streit immer wieder ausgraben.
Wir müssen trotz aller politischen Gegensätze eine gemeinsame Basis finden, um die Interessen unserer Belegschaft zu vertreten."
„Sehr richtig!"
„Sollen unter sich bleiben, wenn sie nicht praktisch arbeiten wollen!"
„Raus! — Quertreiber!"
Der Obmann will seine eigenen Kollegen beruhigen, aber es gelingt ihm nur mangelhaft.
Da steigt ein Genosse der Opposition auf eine Bank und erklärt: „Wir verlangen eine Betriebsversammlung, vor der der Obmann der Kommission Bericht erstattet. Wir selbst legen unsere Funktionen als Vertrauensleute nieder, weil unsere ehrliche Absicht, die Interessen des Proletariats zu vertreten, hier angezweifelt wurde. Die Belegschaft soll entscheiden!"
Alles steht schon, spricht, schreit. Manchen ist alles völlig unverständlich. Riedel, der Obmann, packt niedergeschlagen seine Mappe zusammen, ist blass, als wäre er krank. Der Protokollführer, der immer sorgfältige Berichte schrieb und in ihnen alle „Misstöne" ausmerzte, sitzt mitten in dem Krach wie ein Schiffbrüchiger. Er geht als einer der letzten und sagt zu Riedel: „Unsereiner sitzt die Nächte und schreibt, und die Hornochsen schlagen alles kaputt und quatschen noch von Idealismus. Ich hab die Nase voll!"
Hunderte von Arbeitern und Arbeiterinnen füllen den Saal. Riedel berichtet. Seine Stimme zittert, er klagt die Direktion an, dass sie durch ihre unsoziale Einstellung, durch ihr Unverständnis der Belegschaft gegenüber selbst Unruhe in die Belegschaft trägt. Er verwahrt sich gegen den Vorwurf des Hochverrats und ruft mit Prophetenstimme in den Saal, dass es Hochverrat sei, den Konflikt mit der Belegschaft auf die Spitze zu treiben.
Aber selbst unter den Vertrauensleuten herrsche keine Einigkeit. Ein anderer solle versuchen, ob er es besser könne. „Ich lege mein Amt als Obmann hiermit nieder."
Brunner unterstützt die Ausführungen des Obmanns. „Immer im Dunkeln hetzen, anonyme Zettel in den Betrieb schmuggeln, die berufenen Vertreter der Arbeiterschaft herunterreißen — das kann jeder dumme Junge. Damit muss Schluss gemacht werden. Ich fordere diejenigen auf, die immer feige im Hintergrund hetzen und schüren, sich hier zu verantworten. Wenn sie nicht den Mut haben, hier anzutreten, dann muss die Belegschaft kurzen Prozess machen mit diesen Elementen."
Er hat sich in Erregung hineingeredet, durch Zwischenrufe gereizt: „Großschnauze!" — „Durchhalter!" — „Möchtest wohl noch mehr in den Schützengraben bringen!" Als er endet, schreit ein jugendlicher Arbeiter von hinten: „Du Lump hast kein Recht, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zu verhöhnen!"
Die Versammlung gerät in Erregung. „Runter da! Halt die Schnauze!"
Riedel redet noch einmal. Er versucht zu beschwichtigen und kann sich auch leicht Gehör verschaffen. „Ich bin weit davon entfernt, an den lauteren Absichten der andersdenkenden Kollegen zu zweifeln. Wir dürfen uns aber nicht gegenseitig zerfleischen, sonst lacht nur die Direktion." Er ermahnt zur Ruhe und Einigkeit.
Der Versammlungsleiter unterstreicht die Ermahnung Riedels und fordert auf, Ruhe zu bewahren. „Nur Einigkeit führt zum Ziel!"
Ich zittere am ganzen Leib. Wer ist denn hier feige? Ist das Feigheit, dass wir in der Wohnung eines Genossen Zettel druckten:
„Arbeiter, Arbeiterinnen!
Wollt ihr weiter dulden, dass Millionen hingeschlachtet werden: eure Väter, Brüder, Söhne! Wollt ihr euch weiter mitschuldig machen an dem langsamen Hungertod eurer Kinder? Wollt ihr noch länger dulden, dass die ,Durchhalter' jeden in den Schützengraben, ins Gefängnis schleppen können? Sollen Karl Liebknecht und Genossen noch länger von jedem Kriegsgewinnler als Spion beschimpft werden können?
Rafft euch auf 1 Stellt euch geschlossen hinter die Genossen, die mit ihrem Leben für eure Sache einstehen.
Nieder mit dem Krieg! Nieder mit den Durchhaltern! Nieder mit der Regierung!"
Ich sitze auf einer Tonne, nahe an der Bühne, schaue in die Massen der Arbeiter. Sie haben alle unsere Zettel bekommen.
Ein Schmerz würgt in der Brust. Ich kann nichts mehr unterscheiden. Die Augen der Versammelten tanzen wie Irrlichter.
Ich weiß nicht, was der folgende Diskussionsredner dort oben spricht, höre nichts, stehe neben ihm, einen Zettel in der Hand.
Der Diskussionsredner tritt ab. Ich höre meinen Namen rufen, höre die Aufforderung, weiter vorzutreten.
Ich versuche zu sprechen, aber der würgende Schmerz in der Brust legt sich wie ein Rückschlagventil auf meine Lungen, die Brust droht zu bersten, als ich in das grinsende Gesicht Brunners sehe, der auf der Bühne am Tisch sitzt.
Ein prickelndes Zucken läuft mir durch die Adern. Sein widerwärtiges Grinsen setzt meine Füße in Bewegung, hebt meine Arme. Brunner wird unsicher, sein Lachen verschwindet, er will zurückweichen, erhebt sich — aber zu spät.
Als mich viele Hände auf einen Stuhl zwingen, sehe ich ihn vor mir zwischen den ersten Stühlen im Saale liegen. Sie bringen ihn hinaus. Er flog im großen Bogen hinab.
Riedel steht vor mir. „Betzoldt! Was machst du?" Er schnauft wie ein gehetztes Pferd.
Einer wischt mir Blut aus dem Gesicht. „Ist dir schlecht?" fragt Riedel.
„Nein, ich möchte jetzt sprechen!"
Ich sehe vor mir die niedergeschlagenen Hamsterer, sehe in die Gesichter der polnischen Arbeiter. Sehe die Kameraden meiner Batterie, sehe Sophie, sehe die französische Proletarierfrau, sehe die polnische Mutter. Ich sehe die zerschundene Menschheit und ihre Feinde, sehe Walter im Granatfeld irren, fange an zu sprechen, spreche zu allen. Ganz hinten, scheint mir, sehe ich Karl Liebknecht, das unbestechliche Hirn, seine Augen, wie Lote hängen sie in den Tiefen dieser verlogenen Welt, holen die Wahrheit, die dieser harte Mund spricht. Ich sehe die Kolben der russischen Arbeiter auf die Kriegshetzer niedersausen, höre sie um Hilfe rufen. Zu ihnen allen spreche ich.
Erst an den Zwischenrufen merke ich wieder, dass ich in Berlin, auf dem Flugplatz bin. Als ich ende, bricht ein hundertfaches Hoch auf Liebknecht los.
Walter, der als „Gast" in der Versammlung ist, steht neben mir und sagt: „Du musst sofort verschwinden, Hans!"
Wir gehen. Ein Gewerkschaftsbeamter versucht noch zu sprechen, kann sich aber kein Gehör mehr verschaffen. Eine Minderheit bestätigt provisorisch die alte „Kommission" und Riedel nimmt wieder als Obmann an. Ein Trupp Arbeiter und Arbeiterinnen begleitet mich zur Bahn. Als wir aussteigen, sagt Walter: „Hans, sieh dich beizeiten um, wo du bleibst." „Werd schon sehen! Sage Sophie vorderhand nichts!" „Nein", sagt er, „ist auch besser. — Grüße sie von mir, leb wohl! — Bis Montag."
Immer wieder müssen Genossen fort oder verschwinden. Die Repressalien gegen die „Miesmacher" werden immer rücksichtsloser, es sickert durch, dass es unter den Matrosen gärt, man statuiert ein Exempel: mit Zuchthaus und Standrecht will man die „Manneszucht" retten. In den Parlamenten wird mit „Erfolg" darum gekämpft, dass die „tapferen Feldgrauen" nicht mehr an Kanonenräder oder Bäume gebunden werden. Kein „Volksvertreter" in den Parlamenten solidarisiert sich mit den standrechtlich Verurteilten. Selbst die „Radikalsten" unter ihnen entrüsten sich über den Vorwurf, dass sie die Meuterer unterstützen und rücken immer wieder von Liebknecht ab.
Es wird jedoch immer schwerer, die Arbeiter niederzuhalten. Das kommt in allen Berichten zum Ausdruck.
Wir gehen, wie in unserer Besprechung vom Montag verabredet, zu einer Branchenversammlung der Dreher. Der Saal ist überfüllt. Es ist Sonntag, schon fröstelnder Herbst. Der Vorsitzende eröffnet die Versammlung:
„Kollegen und Kolleginnen! Wir sind uns wohl der schweren Verantwortung bewusst, die auf uns allen lastet. Wir haben hier Stellung zu nehmen zu dem Ergebnis der Lohnverhandlungen. Die rasende Teuerung zwingt uns, einen Ausgleich zu suchen. Ich hoffe, dass ihr uns die Arbeit nicht unnötig erschwert mit unfruchtbaren Diskussionen. Sollte wider Erwarten der Versuch gemacht werden, nicht in eine Gewerkschaftsversammlung gehörende Reden zu halten, sieht sich die Versammlungsleitung leider gezwungen, im Interesse der Sache rücksichtslos durchzugreifen. Ich hoffe auf die Unterstützung aller vernünftigen Kollegen."
Ein ironisches „Red nicht lange!" unterbricht ihn öfter, oder ein Zuruf „Komm selbst zur Sache!" Als er sich setzt, herrscht hörbare Unruhe. „Merkt ihr was?" schreit einer durch die hohle Hand in den Saal. „Sehr richtig!" lautet die mehrstimmige Antwort.
Der Verbandsbeamte erstattet den Bericht. „Die Verhandlungen haben zu keinem positiven Resultat geführt. Die Unternehmer suchen immer wieder zu verschleppen. Der Verband wird aber die letzten friedlichen Mittel nicht unangewendet lassen. Sollte wider Erwarten auf der Gegenseite kein Entgegenkommen zu verzeichnen sein, werden wir vor dem letzten Mittel nicht zurückschrecken. — Die Schuld fällt dann auf jene, die kein Verständnis für die schwierige Lage der Arbeiterschaft haben."
„Du ahnungsloser Engel!"
Dieser Zwischenruf löst gleich schallendes Gelächter aus. Der Redner weiß nicht, ob er sich mehr über den Zwischenrufer oder über die Lacher ärgern soll und sagt: „Lass deine faulen Witze, wenn du was willst, komm hier herauf!"
„Zur Geschäftsordnung!"
„Kollegen, wir haben den Bericht gehört. Ich bin jedoch der Meinung, dass wir die Diskussion darüber zurückstellen, bis wir den zweiten Punkt: ,Der Konflikt in der Branchenleitung' entgegengenommen haben. Wir wissen doch gar nicht, ob die alte Branchenleitung das Vertrauen der Kollegen noch besitzt. Ich erhebe das zum Antrag."
Es wird für und gegen den Antrag gesprochen. Die Mehrzahl stimmt für Erledigung der vorgeschlagenen Tagesordnung. „Das Wort hat der Genosse Hünemann." „Kollegen, ich kann trotz der Abstimmung nicht umhin, den zweiten Punkt zu berühren. Wenn wir Stellung nehmen sollen, wie die Verhandlungen zu führen sind, kommen wir um die Streitfrage in der Branchenkommission nicht herum. Wir können doch nicht über ein Vertrauensvotum abstimmen, ohne über das Thema zu sprechen." „Sehr richtig!" „Zur Sache!"
„Kollegen, ich will ja eben zur Sache sprechen, aber hier soll wohl über die Sache nicht gesprochen werden, bevor die
Branchenleitung ihr Vertrauensvotum in der Tasche hat------."
Der Vorsitzende erhebt sich klingelnd und fällt dem Redner ins Wort: „Kollege, ich muss dich zur Ordnung rufen. Ich fordere dich auf, der Abstimmung Rechnung zu tragen!" „Schieber! Halunken!" „Zur Sache!!"
Einige erheben sich, werfen die Arme in die Luft, brüllen: „Verzapf deine Phrasen woanders — verstehst du! — — Runter!"
„Weiterreden! — Weiterreden!!"
Hünemann steht mit seinem Zettel und kann die Unruhe nicht überschreien.
Der Beamte des Metallarbeiterverbandes erhebt sich: „Kollegen! Ich weiß nicht, ob ihr euch überlegt, dass jedes Wort
hier öffentlich gesprochen wird.------Wer hier nicht sachlich
bleiben, nicht Maß halten kann, ist ein Dummkopf!------Kollegen! — Ich will keinen schärferen Ausdruck gebrauchen —." Er sagt das gutmütig, schauspielernd, weiß sich Ruhe zu verschaffen und fährt nach erreichter Ruhe mit geballten Fäusten fort: „Wir wissen, was vorgeht! Wir müssen auch an dieser Stelle erklären: Wir haben mit den Machenschaften von Elementen, die außerhalb des Verbandes stehen, nichts zu tun!
Wir werden nicht dulden, dass die Branchenversammlung zum Tummelplatz von Elementen wird, die — Kollegen !! — nichts danach fragen, ob die Versammlung gesprengt wird, oder der Verband zum Teufel geht. — Hier wird ganz systematisch gearbeitet-------." Er schwingt ein Flugblatt in der
Luft. „Was hat dieses Machwerk in einer Branchenversammlung zu suchen?"------
„Machwerk?"
„Jawohl!"
„Ihr seid die Verräter!"
„Ru--he!!"
„Kollegen!" — fährt der Redner fort und überschreit die Zwischenrufer. „Ich bin ein Menschenalter in der Arbeiterbewegung tätig!------Solche Zustände sind unerhört. Ich rufe
die alten Kollegen zum Zeugen an: Bin ich ein Lump? Ich fordere im Interesse der Sache Disziplin — weiter nichts. Sonst ist keine praktische Arbeit möglich."
Er setzt sich pustend. Man sieht ihm an, dass er froh ist, den Sturm mit knapper Not gemeistert zu haben.
„Kollege Hünemann, ich bitte dich von neuem, dich zur Sache zu halten", fährt nun der Versammlungsleiter fort.
Hünemann lacht achselzuckend. Als es ruhig geworden ist, sagt er: „Kollegen, ich lehne es ab zu sprechen, wenn hier nicht zur Sache gesprochen werden darf. Was hier gespielt wird, ist eine widerwärtige Komödie!" Er tritt ohne ein weiteres Wort ab. Die Folge ist sichtliche Verwirrung.
Walter sitzt neben mir und knirscht: „Sind die Hunde da
oben verrückt!------Hat der Mensch Worte?" Dann steht er
auf und gibt auf einem Zettel seine Wortmeldung ab.
Die folgenden Redner erschöpfen sich in lärmender Polemik gegen die Opposition, gegen die Zersplitterer. Aber sie reden um den Konflikt herum. Nur bei gelegentlichen Kraftworten hagelt es Proteste.
„Es ist jetzt zwölf Uhr. — Um ein Uhr muss der Saal geräumt werden."
Protestrufe und ein vielsagendes Aha! sind die Antwort auf die Mitteilung des Versammlungsleiters. Da kommt Walter zum Wort.
Er steht in seinem alten Soldatenmantel, die eine Hand auf dem Tisch, schief, er ist zu groß, um sich in gerader Haltung aufstützen zu können. Er sucht im Raum, wie nach einem Halt, scheint ihn nicht zu finden, sieht zu Boden und wieder hoch, tritt von einem Fuß auf den andern. Es ist still im Saal. Der große, unbeholfene Walter, der schon so vielen Halt war im mörderischen Granatfeuer, ist kein Redner. Die Versammlung scheint das zu merken, wartet.
„Kollegen!" kommt es ganz leise aus dem Munde des Riesen, so leise, dass prompt das „Lauter!" folgt. Walter stutzt, als wäre er erschrocken. „Kommt noch!" sagt er dann wieder, als spreche er zu einem Kameraden im Granattrichter.
„Kollegen, ich bin kein Redner. Aber ich glaube, es kommt darauf gar nicht an!"
In den letzten Satz legt er alle seine Energie. Es fällt ihm sichtlich schwerer, als zwei Zentner von der Bühne in den Saal zu schleudern. Die Versammlung scheint das zu fühlen. Das „Sehr richtig" klingt wie eine Ermunterung. Walter wird sicherer und fährt fort: „Ich weiß nicht, Kollegen, ich komme mir hier vor wie ein Fremder. Das ist doch alles so lächerlich, was ihr hier vorbringt." „Sehr richtig!" „Nanu!" „Maul halten!"
Walter zittert. Die Zwischenrufe bringen ihn sofort aus dem Konzept. Aber nur einen Augenblick.
„Jawohl, so lächerlich!"-------
„Genossen!" beginnt er dann wieder, lauter, aber ruhig: „Ihr müsst euch einmal vorstellen: ein Kollege kommt von draußen. Ist vielleicht mit fünfundzwanzig Mann zurückgekommen von einer kriegsstarken Kompanie. Die andern zweihundert liegen im Dreck, verbluten oder sind tot. Und andere Kompanien treten an, denselben Weg. Jeden Tag, jede Stunde. Und der Soldat kommt nun nach Deutschland. Er sieht seine Kinder, krumme Beine, Falten wie Greise, in Papierfetzen gewickelt, verhungern. Und er sieht die Kriegsschieber, das Pack in den Fress- und Saufpalästen, wie sie ,Deutschland, Deutschland über alles' singen."----------
Der Versammlungsleiter erhebt sich, klingelt leise, Walter wird irre, stockt.
„Ich muss dich bitten, Kollege, zur Sache zu sprechen."
Walter ist vollkommen sprachlos, ringt nach Worten, bringt aber nur ein saures Lachen zustande. — Ein Lachen, das wie Sprengpulver wirkt.
„Saubande!"
„Schnauze halten!"
„Schmeißt sie raus!"
Ein Proletarier springt auf die Bühne und fuchtelt mit der Faust vor den Nasen hinter dem Tisch. Andere suchen zu beruhigen, schieben die Erregten sanft beiseite. Ein glatzköpfiger Soldat muss mit Gewalt entfernt und an seinem Platz festgehalten werden. „Merkt euch das!" schreit er immer. „Merkt euch das ein für allemal! — Ihr Halunken!"
Der Vorsitzende ermahnt von neuem: „Kollegen, wir müssen in einer halben Stunde den Saal räumen. Wir müssen doch unsere Tagesordnung erledigen!"
„Halt jetzt endlich die Schnauze mit deiner Tagesordnung."
„Ruhe!"
Walter kommt wieder zu Wort und beginnt: „Gehört denn das nicht zur Sache, Kollegen?"
Ein vielstimmiges „Sehr richtig!" ist die Antwort.
„Geht das, wie die Kollegen draußen verrecken, euch nichts an? Geht euch das nichts an, wenn Reichpietsch und Köbes an die Wand gestellt werden?
Wenn in unserer Zeitung jeder infame Schwindel noch unterstützt wird?
Wenn eure Frauen in den Munitionsfabriken zusammenbrechen?
Wenn ihr selbst schon bald verhungert seid?
Wenn alle Kollegen, die ein Wort sagen, den Schein bekommen?"
Walter hält erregt inne. Er schrie das hinaus wie einen Protest auf die Aufforderung, zur Sache zu sprechen.
Als die Zustimmung sich legt, verfällt er wieder in seinen Ton. Erzählt leise, wie für sich: „Kollegen, ihr streitet euch hier um einen Dreck! Seht ihr denn nicht, was los ist! Man kommt hierher, aus dem Leichenfeld. Hunderttausende gehen jeden Tag hinaus und wissen nicht, was ihnen blüht. Kollegen, wir begehen ein Verbrechen an uns selbst! Sollen wir denn zu erbärmlichen Schuften werden?"
Walter fischt mit den Händen vor sich in der Luft, als wolle er das, was er besser aussprechen möchte, ausbreiten. Sein knochiges Gesicht ist blass; als rede er für seine Kameraden draußen, steht er da — und stockt wieder. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn, besinnt sich, man sieht es ihm an, er möchte einen Abschluss finden.
„Wisst ihr, wer wirklich zur Sache gesprochen hat? Wisst ihr das?" schreit Walter mit einemmal. Er lauert wie nach dem aufbellenden Abschuss einer Kanone, steht da, als wolle er sich hinwerfen. Da löst sich das Echo. „Liebknecht!" ruft einer, dann bleibt es wieder still. Auch Walter sagt nichts mehr.
Der Vorsitzende erhebt sich wieder: „Kollegen! Die Versammlung ist als gewerkschaftliche Versammlung angemeldet. Wir sind dafür verantwortlich, dass der Rahmen nicht überschritten wird. Ich muss dem Kollegen das Wort entziehen." Walter steht immer noch wie vor dem Sprung und schreit dann in den Saal: „Kollegen — ich habe euch auch nichts mehr zu sagen!" Springt von der Bühne und geht rasch durch die Stühle, der Tür zu. Einige Genossen folgen ihm.
„Kollegen, wir kommen nun zum zweiten Punkt: Der Konflikt in der Branchenkommission. Das Wort hat der Kollege----------"
„Ich denke, der Saal muss geräumt werden?" „Wir haben um die Erlaubnis nachgesucht, eine Stunde länger zu tagen!" „Na, dann tagt man!" Die Versammelten erheben sich.
Eine Militärpatrouille erscheint in der Tür, begibt sich an den Tisch der Versammlungsleitung und fragt irgend etwas.
Ich laufe rasch, aber unauffällig, nach der Toilette, um nach Walter und den anderen Genossen zu suchen, aber sie sind bereits verschwunden.
Sophie war schon unruhig. „Bleibst ja so lange, Lütting!" begrüßt sie mich.
„Ja, es hat etwas länger gedauert!"
„Hast du wieder gesprochen?"
„Wieder?" Ich stutze. „Wieso wieder?"
„Hast doch in der Betriebsversammlung gesprochen!"
„Woher weißt du das?"
„Fräulein Blank, hier im Hinterhaus, ist auch bei euch. Sie war heute morgen hier. Sie ist ganz futsch in dich. ,Sie können stolz sein auf Ihren Mann', hat sie gesagt!"
„Bist du mir böse, dass ich dir das verschwieg?"
Sie steht ungezwungen vor mir, ihr starker Leib hebt sich unter der weißen Schürze prall und hoch ab.
„Nein, Lütting, ich bin dir nicht böse! Nur erzähle mir bitte immer alles. Wenn ich weiß, dass du mir etwas verschweigst, das ist dann noch schwerer."
Wir essen — es ist Sonntag — unsere Fleischration für die ganze Woche. Ich muss mir die Versammlung vom Herzen reden. Sophie hört zu, wird ernst, sieht durch das kleine Mansardenfenster über die Häuser.
„Bist du traurig, Sophl?"
„Ein bisschen, ja. — Ich möchte immer dabei sein, möchte mehr helfen können."
Ich verstehe das nicht ganz. Denkt sie nicht an die Gefahr? An ihre Stunde?
Vielleicht verstehe ich das nie.

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