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Adam Scharrer - Vaterlandslose Gesellen (1930)
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IV.

An der Zeitungsplantage stehen Menschen um einen Verwundeten, einen der ersten in der Stadt. Er trägt den Arm in der Schiene, liest die Kriegsberichte. Namur ist gefallen, Brüssel besetzt, die Maas an vielen Stellen überschritten. Ein Herr im eleganten Sommerpaletot sagt zu dem Krieger: „Das soll uns erst einmal einer nachmachen, was?"
Als der Soldat nur kurz auf ihn hört, und dann, ohne zu antworten, weiterliest, fährt der Herr fort: „Bande, die! Die müssen sie ausräuchern wie die Wanzen." Er sieht, dass der schweigsame Soldat die Berichte von den Greueln der Belgier liest, die sie an harmlosen deutschen Soldaten verübt haben sollen, von den Niedermetzelungen der braven ostpreußischen Bevölkerung durch entmenschte Kosaken. Aber der Mann bleibt stumm, obwohl aller Augen auf ihn gerichtet sind. Dann dreht er sich um, überfliegt rasch die neugierigen Zuschauer und geht fort.
„Dem ist scheinbar auch beim ersten Schuss das Herz in die Hosen gerutscht", sagt der feine Herr — aber niemand lacht.
Ich gehe hinter dem Feldgrauen her, an ihm vorbei und schaue ihm ins Gesicht.
Ich möchte mit ihm sprechen, weiß aber nicht, wie ich beginnen soll und bemerke: „Die haben gut reden."
Er mustert mich kurz und durchdringend, als wäre er in Feindesland und hätte Angst vor Spionen. „Räubergeschichten! Die Wahrheit sieht ganz anders aus. Von den Leichenhaufen der Unseren schreiben sie nicht", sagt er und biegt ohne ein weiteres Wort und ohne Gruß in eine Nebenstraße ein.
Ich denke an Georg und Tetsche, und deswegen verschweige ich vor Anna, was mich so aufwühlt, und sie wundert sich, dass ich so ganz ohne Freude bin über mein letztes „Glück".
Ich komme vom Bezirkskommando.
„Wo kommen Sie jetzt her?" fragte man mich. Da erzählte ich meinen Roman von dem Besuch in der Heimat, den gestohlenen Papieren und dass man mich in Nürnberg hinauswarf und mir sagte, dass ich zu meinem zuständigen Bezirkskommando gehen solle.
„Unverständlich, ganz unglaubhaft!" zeterte ein nervöser Feldwebel. Ich bleibe stumm und benehme mich, eingedenk der Instruktion von Klaus, blöd wie ein Soldat. Ein Schreiber notiert alle von mir gegebenen Aussagen und gibt mir eine Bescheinigung, dass ich vorschriftsmäßig gemeldet bin. „Das Weitere wird sich finden!" Ich hätte in der Tat Grund dazu, mir lachend die Hände zu reiben. Und Anna hat recht, ich bin ein rechter Trauerkloß.
Aber Anna kann eben auch nicht alles wissen: Sie hat nicht gehört, was wir „Männer" tags zuvor in Ohlsdorf besprachen, als die Frauen zurückblieben.
„Der Krieg", sagte Alfred, „wird furchtbar werden, der Einsatz ist zu groß. Die ganze Welt ist gegen Deutschland, und auf die Dauer erdrücken sie Deutschland einfach. Die ihn angezettelt haben, können ihn nicht beenden. Sie wollen doch alles bezahlt haben, und das kann ja niemand bezahlen. Und dann ist ihnen der Kamm geschwollen. Jetzt, wo sie bald ganz Belgien besetzt haben, kommt unseren Kapitalisten der Appetit auf dieses reiche Land. Und die Engländer werden alles daransetzen, dass der deutsche Militarismus nicht in den Himmel wächst. England und Frankreich bringen ihre Truppen langsam auf die Beine, aber sie bringen sie auf die Beine, und sie bringen, von den übrigen gar nicht zu reden, mehr auf die Beine. Und dann werden die Lebensmittel knapp, sie haben uns ja richtig in einem Kessel, und beherrschen die See.
Das ist es ja", meinte er dann mit Nachdruck, „das alles hat man doch kommen sehen, schon seit Jahren. Hat immer wieder betont, dass der Brand über die Erde unvermeidlich ist, wenn das internationale Proletariat den Brandstiftern das Handwerk nicht legt. Wo ist jetzt die Internationale? Die deutsche Sozialdemokratie hat ihr den Krieg erklärt. Sie ist tot. Wir müssen wieder ganz von vorn anfangen."
Klaus vergisst ganz, dass seine Zigarette zwischen den Lippen verglimmt und spuckt mit einem Male verzweifelt. Dann meint er: „Aber dat hebben die do boben doch ok wüßt, wotau hebben wi se denn wählt? Sünd dat luder Lumpen? Man könnt jo rein verzweifeln."
„Das nicht", sagt Alfred, „aber die Menschen leben sich langsam in eine ganz andere Welt. Man braucht ja, wenn man in der Partei etwas werden will, kein Sozialist zu sein. Die Hauptsache ist, man schreit recht laut davon. Und wenn man sich das überlegt: Wenn die Partei gegen den Krieg aufgerufen hätte, dann wäre sie verboten worden, aufgelöst, und alle Führer müssten gewärtig sein, kriegsgerichtlich abgeurteilt zu werden. Es gibt keinen anderen Kampf gegen den Krieg, als den Kampf auf Leben und Tod. Das ist eben der Kampf der Proletarier um den Sozialismus, das ist eben die Revolution. Und die Revolution ist für die Kleinbürger in der Partei genau so ,gefährlich' wie der Krieg. Die Revolution wird nur von denen gemacht werden, denen es sowieso an den Kragen geht. Die meisten da oben wollen keine Revolution und wollen auch keinen Krieg. Weil es aber danach nicht geht, was sie ,wollen', bewilligen sie die Mittel für den Krieg und ziehen den Kopf aus der Schlinge. Sie sitzen warm, und die Proletarier sind baff, weil sie nur Staffage waren. Ein großer Teil der Massen und auch der Führer haben natürlich gar nicht begriffen, was auf dem Spiel steht. Wir müssen wieder ganz von vorn anfangen."
Der große, herrlich angelegte Hamburger Friedhof steht im herbstlichen Schmuck; Blätter tanzen schweigend auf den Gräbern und Wegen und die halbkahlen Bäume werfen lange Schatten.
Ich drehe mich um und stoße auf Sophie. Sie war uns unauffällig gefolgt. Ihr Gesicht glüht erregt. „Wir wollen gehen", sagt sie, „es wird zu kalt für Lotte."
„Sie müssen auch fort?" fragt sie weiter. Ich sehe an ihr hoch, sie ist größer als ich. Ihr Mund ist fest geschlossen. Ihre Hände zerpflücken ein Blatt.
„Müssen muss niemand", sage ich.
Sie verzieht keine Miene, geht stumm neben mir, als erwarte sie noch eine andere Antwort. Ich fühle wieder den Ärger über mich selbst und sage: „Aber ich gehe!"
Nein, Anna konnte nicht alles wissen. Konnte nicht wissen, dass mir indessen durch den Soldaten mit dem steifen Arm Alfreds Worte so schrecklich klar wurden. Zu Leichenbergen kommen noch Leichenberge. Konnte nicht wissen, dass mit der Zertrümmerung einer letzten Illusion, der baldigen Beendigung des Krieges, an die ich mich klammerte, der Gang zum Kasernenhof mir vorkam wie die freiwillige Kapitulation eines flüchtigen Todeskandidaten, der, lückenlos umzingelt, keinen Ausweg mehr sieht und dem die Galgenfrist bis zum letzten Gang keine Freude bereiten kann.
Es ist mir schon gleichgültig geworden, warum Sophie auf dem Nachhausewege fast immer an meiner Seite ging, mit mir sprach, öfter als einmal vor sich hinsann, als wollte sie mir helfen, einen Ausweg zu suchen. Sie, die die Größe der Zeit am eigenen Leibe zu spüren bekam.
Aus dem Hotel „Zu den drei Ringen" flattern die schwarzweißroten Fahnen. „Feine Herren" stecken mit Fähnchen die Front auf großen Karten ab.
„Dort schickte man mich hin", sagte Sophie. „Ich war froh, Arbeit zu finden. Ich glaubte mich auch als Kellnerin gegen Zudringlichkeiten wehren zu können, selbst um den Preis magerer Trinkgelder, die der einzige Lohn waren. Aber meine Bescheidenheit, mich vorderhand mit einigen Mark zu der recht bescheidenen Verpflegung durchzuschlagen, befriedigte die zahlungsfähigen Herren nicht. Die Wirtin gab mir deutlich zu verstehen, dass sie nicht gewillt sei, sich von mir die Gäste ,vertreiben' zu lassen. ,Sie scheinen kein Geld zu brauchen!' sagte die Dame des Hauses kopfschüttelnd. ,Dann konnten Sie das gleich sagen. In diesen Zeiten gibt es Mädel genug, die froh sind, wenn sie etwas verdienen können und die nicht ein Essig-Gesicht mitbringen.'
Als ich fragte, ob ich für ein Bordell engagiert sei oder zur Arbeit, geiferte die Dame mit der schwarzweißroten Schleife auf ihrem aufgeschnürten Busen: ,Zum Beten habe ich Sie jedenfalls nicht engagiert, und eine Anstandsdame brauche ich auch nicht. Aber damit Sie nicht in Versuchung kommen, rate ich Ihnen, von morgen ab mein Lokal zu meiden. Ich möchte mich nicht schuldig machen an Ihrem Ruf.'"
Aber meine ohnmächtige Wut ist vollständig überflüssig. Ich bin nichts, ein Staubkorn im großen Orkan, das aufgewirbelt wird und fortgetragen.
„Ich kann dir das alles nicht sagen, Anna! Und so sage ich: Mag sein, dass ich ein Trauerkloß bin, sei mir nicht böse, vielleicht geht es wieder vorüber."
Sie mustert mich wie ein Arzt und erwidert: „Musst dich nicht so gehen lassen, Hans, bist doch noch ein junger Kerl!"
Sie hat recht. Sie hat eben so schwer, vielleicht noch schwerer zu tragen mit ihren fünfundvierzig Jahren. Sie ist für ihren um zwei Jahrzehnte jüngeren Georg mehr Mutter als Frau. Sie zittert um Tetsche wie um einen Bruder und erlebt alle meine Sorgen wie die eigenen. Sie selbst hat niemanden, der ihr, wenn ihr müder Kopf abends ins Kissen sinkt, eine liebe, kühlende Hand auf die fiebernde Stirn legt.
Ich habe Arbeit gefunden, freue mich und weiß nicht warum.
Anna macht mir alles zurecht und sagt: „Hest doch Schwein, wat wüllst du denn?" und lacht.
Ich drehe Granatkörper, das Stück eine Mark. Ich rechne: jede Schicht zehn Mark, kann ich täglich mindestens fünf Mark sparen, bis sie mich holen. Ich fühle wieder Eisen unter meinen Fingern, höre wieder das Schnalzen der Späne. Jede Granate kann ein Dutzend Menschen vernichten — ich denke keinen Gedanken mehr zu Ende.
Ich stehe regelmäßig auf, gehe zur Arbeit, komme regelmäßig zurück. Ich lebe in ständiger ängstlicher Erwartung, glaube jeden Tag den Befehl vorzufinden, mich stellen zu müssen. Zwei Tage, drei Tage, vier Tage vergehen, nichts kommt. Ich drehe weiter Granaten und werde mit dem Meister bekannt. Er fragt mich, ob ich Maschinen einrichten will, an denen Frauen arbeiten, und ich bejahe. Sie machen Zünderteile. Ich kann so Martha Arbeit besorgen, kann ihr helfen, sich einzuarbeiten.
Martha ist froh.
„Du kannst hier bleiben, Martha", sagte Anna, als Martha sagte, dass sie nicht mehr zu ihren Eltern zurück wolle, „aber du musst dir Arbeit suchen, wirst schon welche finden. Du bist noch nicht zu alt, brauchst nicht im Sumpf unterzugehen, wenn du nicht willst." So blieb Martha. Sie wohnt im „Bunker", dem kleinen Stübchen hinter dem Flur. Sie hat ihren billigen Schmuck fortgeworfen. Anna holt jeden Tag aus der Kriegsküche sechs Portionen Mittag à fünfzehn Pfennig. „Wat schall ick doa lang koken", sagt sie, „wenn wi mol Apptit up wat Schönet hebben, könn wi uns ja extra wat leisten."
Abends essen wir zusammen. Sophie war gestern hier und sagte: „Passen Sie auf, Sie haben Schwein."
Alfred und Klaus sind öfter zusammen.Kannst heute abend einmal mit herunterkommen, Hans", sagt Klaus. „Wir haben etwas zu besprechen. Die Opposition in der Partei gewinnt Fühlung untereinander. Die besten Genossen werden sich wieder finden."
Wir sind fünf Genossen. Alfred erzählt, dass die Arbeit gegen den Krieg in Gang kommen wird. Es gibt nur mündlichen Bericht. Klaus hat das Material oben bei sich.
Ich fühle mich wieder verankert in einer Idee, die über die Rauchwolken der Zerstörung und des Blutstroms hinaus der Zukunft der Menschheit dient.
Martha und ich gehen zusammen zur Arbeit. Marthas Gesicht blüht öfter flüchtig auf. Das Essen schmeckt ihr. Wir frühstücken zusammen, wie gute Kameraden. Mittags brüht sie Kaffee auf oder Kakao, und bedient mich — wie an dem Abend in ihrer Stube und in der Nacht in dem kleinen Hotel. Sie trägt keine zierlichen Hausschuhe, sondern Holzpantoffeln und eine Arbeitsjacke statt des bunten Schals. Aber sie gefällt mir so besser.
Manchmal nimmt einer Abschied; diese Woche schon zwei. Sie müssen „weg". Ich frage, wann sie Bescheid bekamen. „Gestern abend — was sollen wir noch arbeiten, wollen noch Spazierengehen, die drei Tage." Ich richte gerade neben Martha ein. Sie sieht mich so ängstlich an. Vielleicht auch bei dir, heute abend?" Sie sagt jedoch nichts, und ich arbeite weiter.
Wir bekommen Geld. Martha freut sich; ihr erstes „ehrlich" verdientes Geld nach Jahren. Sie will absolut „Einstand" geben, und ich willige ein. Eine Stunde sitzen wir schon, als Martha sagt: „Sophie könnte auch bei uns anfangen."
Ich selbst habe längst daran gedacht.
„Ich werde ihr Bescheid sagen, Hans."
Als ich nicht antworte, fährt sie fort: „Ich weiß, dass sie dich gern hat, Hans, und du hast sie auch gern, du verstellst dich nur, das ist doch nicht nötig."
Wir gehen. „Kannst ja heute abend zu ihr gehen und ihr Bescheid sagen." Ich bin froh, dass Martha diesen Gang übernimmt.
Etwas Unausgesprochenes liegt noch zwischen uns, etwas, das durch Aussprechen auch nicht anders wird. Man muss darüber hinwegkommen.
„Was mag es heute abend geben?" sagt Martha.
„Wird wohl Bohnen geben."
Wir gehen in die Stube. Der Tisch ist leer. Anna hat anscheinend kein Essen geholt. Martha geht in die Küche, aber Anna ist auch dort nicht. Als Martha ruft, kommt Anna aus der Schlafstube. Ihre schwarzen Haare sind zerwühlt, ihr Gesicht wie ohne Leben. Sie steht gebeugt, als hielte sie sich nur mit Mühe aufrecht. Sie sieht auf Martha, dann auf mich und geht wie eine Schwerkranke und ohne einen Gruß in die Küche. Wir gehen hinterher: „Anna, was hast du?"
Sie deutet auf den Tisch. Ein Brief mit ihrer Handschrift liegt dort an Georg. An der Vorderseite rechts von der Adresse ist mit Rotstift ein Kreuz gezeichnet, und darunter steht: „Zurück, fürs Vaterland gefallen."
Anderen Tages geht Anna wieder zur Arbeit. Um ihren Mund gräbt sich eine Falte. Klaus macht am Abend den Vorschlag, in die Anlagen zu gehen. Im Gewerkschaftshaus essen wir noch Abendbrot. Auch Sophie ist gekommen.
„Sieh, Anna, es ist grausam, es ist unmenschlich grausam", beginnt Klaus, „aber wenn es uns nicht erspart bleibt, dann ist es besser so, besser als ein elender Krüppel. Lass Georg ruhen. Du musst darüber hinwegkommen, darfst nicht lahm werden. Unsere Zeit kommt auch, und wir brauchen dich noch."
Dieser Klaus weiß mit Phrasen mehr anzufangen als ich — aber in seinem Munde sind diese Worte eben keine Phrasen. An ihm kann man sich aufrichten, von ihm geht soviel Kraft aus. Er will helfen, und man fühlt, dass er das will, und glaubt ihm. Wie er bedächtig anfing, zu berichten, dass doch nicht alles verloren ist, dass sich der Rausch bald legen und die Abrechnung kommen wird, dass man den Kopf hochhalten müsse, dass das die Pflicht der Genossen sei, die zurückbleiben, dass sie das den Opfern des Krieges schuldig seien, dann seine Art, sich von anfänglich kameradschaftlicher Teilnahme in ehrliche Entrüstung hineinzureden: das kann nur Klaus. Und Anna folgt ihm. Ihr starkes Kinn wird wieder hart. Sie seufzt kräftig, als wolle sie etwas abschütteln, und sagt dann: „Hoffentlich bin ick noch dorbi, wenn dat mol richtig losgeiht."
Anna hat den schwersten Schlag überstanden, und wir sind froh; was sollten wir ohne Anna machen? Aber der Schmerz überfällt sie immer wieder. Ihre Füße scheinen schwerer geworden. Sie schaut mitunter so über Menschen und Dinge fort, als suche sie eine Stütze.
Dass sie aber am andern Tag so übernervös ist, so zittert, mich anschaut, als erschrecke sie vor mir, kann ich mir trotzdem nicht erklären. Sie geht in der Stube an mir vorbei, als ertrage sie meine Gegenwart nicht; ihr Gruß klingt so überflüssig.
Martha kommt rein: „Du möchtest einmal zu Anna in die Küche kommen, Hans!"
Anna steht an den Küchentisch gelehnt, empfängt mich mit ihren guten, stumm auf mich gerichteten Augen und sagt: „Et is so wiet, Hans!"
Ich lese: „Sie haben sich am......in......mit Militärpapieren einzufinden. Zivilkleidung und Mundvorrat für einen Tag sind mitzubringen!"
Ich fühle einen Moment, wie mir der feste Halt schwindet. Dann kommt eine sonderbare Sicherheit über mich.
„Na, also, endlich", sage ich nach längerem Besinnen. „Werden sehen, was wird!"
Ich habe noch drei Tage Zeit. Sophie ist noch nicht „eingefuchst". So richte ich noch zwei Tage ein, dann schnüre ich meinen Pappkarton und nehme Abschied.
Alfred und Klaus sprechen mit mir: „Halt die Verbindung aufrecht und schreibe." Anna sagt: „Überleg dir, was du machst, Jung, kommst ja bestimmt auf Urlaub. Wir sehen uns ja noch öfter."
Ich gehe und schlage die Tür zu, ohne mich noch einmal umzusehen. Ihr gläserner Blick und ihr Lachen, das passt gar nicht zusammen, das tut mir weh.
Vorher nahm ich Abschied in der Fabrik. Martha ist nicht an ihrer Bank. Als sie kommt und mir die Hand gibt, sehe ich, dass auf ihrem weißen Gesicht, um die Augen, rote Flecke brennen.
„Ein Drehspan", sagt sie. Sie hat etwas gekühlt. „Komm gesund wieder, Hans!" sagt sie dann. Weiter nichts.
Sophie fragt mich, um welche Zeit ich mich einfinden muss. Ich sage es ihr.
Als ich um dreiviertel neun Uhr in „Kohlhöfen" einbiege, steht Sophie da. Sie ist erst etwas verlegen, fasst sich dann aber rasch und sagt: „Ich möchte Ihnen doch besonders adieu sagen. Sie haben mir soviel geholfen. Ich möchte Sie bitten, mir zu schreiben."
„Warten Sie doch noch, es sind ja soviel andere Angehörige mit. Wir können uns bestimmt noch sehen."
Sie kommt mit nach dem Bahnhof, trägt mir ein Paket, gehört zu mir, wie die anderen „Angehörigen" zu den anderen „Rekruten".
„Einsteigen!"
Ich geb ihr die Hand und drücke sie.
„Einsteigen!"
Sophie klammert sich an meine Hand, als wolle sie mich nicht fortlassen.
„Einsteigen!"
Als der Zug schon fährt, schaue ich noch einmal zurück, kann sie erst gar nicht finden! Bis ich sie doch entdecke. Sie muss, als ich sie losließ, ein ganzes Stück zurückgetaumelt sein. Dort steht sie — an die Mauer gelehnt — und winkt.

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