| X.Ich bin nun weit vom Schuss, kann mich nicht mehr überwinden, meine  Füße richtig zu „behandeln" — und bin in drei Wochen zum  Ersatzbataillon entlassen.Aber das Vaterland braucht sie alle. Die  Munitions- und Kanonenfabriken fordern Facharbeiter an. Die Frauen,  Kinder und Dienstuntauglichen allein schaffen es nicht. — Ich werde zur  Firma Krupp in Essen beurlaubt.
 „Letztes Arbeitszeugnis!?"
 Ich lege es vor und beteure vergebens, dass ich schon etwas anderes getan  hätte, als Granaten geschruppt.
 „Erledigt! — Neunte mechanische Werkstatt!"
 Man führt mich an eine Riesendrehbank, auf der Kurbelwellen schwersten Kalibers  vorgeschruppt werden.
 Die Arbeit ist lebensgefährlich. Vier elektrisch transportierte  Supporte sind auf die zu bearbeitenden Flächen zu verteilen, damit alle  Stähle — zwei Supporte arbeiten von oben und zwei von unten — möglichst  gleichmäßig beschäftigt sind; einmal, um möglichst rationell zu  arbeiten, zum andern, um durch die von unten und oben schneidenden  Stähle die zu bearbeitende Welle gleichmäßig unter Druck zu halten.  Eine nur einseitige Bearbeitung hat ein zu starkes Vibrieren zur Folge.  Die Berechnung und Überlegung vor Beginn der Operation ist das  Wichtigste.
 Mein Ablöser ist über meine Hilfe nicht sehr erfreut. Solange er allein  seine Kurbelwellen vorschruppte, fühlte er sich geborgen. Ist erst ein  Zweiter eingearbeitet, kann der schon wieder — im Falle eines Falles —  einen Dritten anlernen. Hoffentlich vermauert der so eine Welle — das  mögen die geheimen Gedanken meines Kollegen sein. Die Angst vor dem  Schützengraben — vor dem Heldentod — ist groß bei ihm.
 Die Stähle nehmen eine Schnittfläche von zirka fünf Zentimetern mit  zwei Millimetern Vorschub per Umdrehung. Die riesige Welle vibriert wie  eine gestreckte Riesenschlange. Die Planscheibenkolben sind mit  schweren Schlüsseln und mit Hilfe von Rohren (als  Schlüsselverlängerung) aufs höchste angespannt. Die Exzenter der Welle  bewegen sich drohend. Der Arbeiter, der die Späne fortschaufelt, muss  gut aufpassen, dass er ihnen nicht zu nahe kommt. Die fast glühend  heißen, in allen Farben schillernden Späne springen oft wie  abgeschossen fort. Wenn sie ins Gesicht fliegen und sich ins Fleisch  brennen: ein unsagbarer Schmerz.
 Hier kann man auch den Heldentod fürs Vaterland sterben. Braucht nur  ein Support unter eine Kurbel zu fahren, die Planscheiben kolben  nachlassen, ein Schraubenkopf durch den unerhörten Druck ab- und dir an  den Kopf fliegen oder durch irgendeine sonstige Lockerung das  Gleichgewicht gestört werden — dann geht alles kopfüber.
 An einem großen Bohrwerk werden riesige Turbinengehäuse ausgebohrt. Ein  Dreher kroch in dieses Gehäuse, um die Späne zu entfernen, wurde  erfasst und zur Unkenntlichkeit zerrissen und verstümmelt.
 Mein Helfer hat eine ganz gute Meinung von mir. Wir gehen behutsam zu  Werke, als wir eines Abends die erste Welle selbst aufnehmen. Nur  wenige sind in der Riesenhalle zur Nachtschicht anwesend, nur die  Besatzung ganz schwerer Maschinen arbeitet mit Ablösung. Sie kennen  sich nicht, sind örtlich ziemlich weit voneinander entfernt, und der  Meister wacht argwöhnisch darüber, dass die kostbare Zeit nicht durch  unnötige Visiten vertrödelt wird. Er kriecht zwischen den rohen und  fertigen Kanonenrohren umher, wie ein treuer, wachsamer Hund.
 Auf uns, die wir unser Marmeladenbrot verzehren, schaut er von weitem  herüber, absichtlich so lange, bis wir ihn sehen. Er ärgert sich: diese  lächerliche Scheibe Brot — kann man doch verdammt nebenbei essen, mag  er denken.
 Mein Helfer meint: „Mit dem werden Sie noch manchen Strauß auszufechten  haben. Wen der nicht riechen kann, den ekelt er bald raus. Ihr Ablöser  aber ist sein Freund. Er schuftet
 wie toll, nimmt sich gar keine Zeit zum Essen."—Er muss seinen Meister  wohl kennen. Er ist zweiundsechzig Jahre alt, ungefähr so alt und  ebensolange bei Krupp wie dieser, das heißt von Kindesbeinen an. Wenn  sie Glück haben, sterben sie zwischen Kanonenrohren. Das ist bei einem  ordentlichen Arbeiter nach Kruppschen Begriffen so der Brauch.
 Am Morgen läuft die Welle. Alle Supporte arbeiten, alles ist in Ordnung.
 Mein Ablöser kommt schon eine Viertelstunde früher — er hat wohl die  Nacht gar nicht richtig schlafen können. Ich sehe ihm sofort an, dass  er enttäuscht ist — oder wenigstens so tut. Er grüßt kaum, geht an den  Schrank und beginnt in den Arbeitszetteln zu wühlen, zu rechnen, zu  kalkulieren. Ich sehe sofort, was ich für einen Pappenheimer vor mir  habe und frage ihn: „Wie ist es denn hier mit der Verrechnung? Wieviel  verdient man in einer Schicht von zwölf Stunden?"
 Er ist ob meiner Neugierde offensichtlich verblüfft, vielleicht auch  wegen meiner „Unverschämtheit" erstaunt. „Wenn wir eine ganze Schicht  mit Aufnehmen zubringen, nicht den Schichtlohn", meint er, und macht  ein Gesicht, als hätte ich ihn durch meine Faulheit schon um ein  Vermögen betrogen.
 Ich bin schon wieder unvernünftig und sage: „Bescheiß dich man nicht.  Scheinst auch so ein Allerweltskünstler zu sein, der überall sofort  Bescheid weiß. Hast sicher schon in der ersten Schicht zwei Wellen  heruntergehauen."
 Das hat er sicher nicht erwartet. Er sieht mich an und wird ganz blass. Dann  sagt er: „Ich verlange jedenfalls mein Geld."
 Ich werde noch unvernünftiger und antworte: „Verlange, was du willst,  nur verlange nicht von mir, dass ich mir hier leichtsinnigerweise meine  Knochen verbiegen lasse."
 „Ich verlange, dass du arbeitest!"
 Ich kann nun nicht mehr folgen und behelfe mich in Ermangelung eigener  Argumente mit einem Wort aus Goethes „Götz von Berlichingen". Mein  Ablöser rennt zornentbrannt zum Meister. Dort fuchtelt er mit den  Zetteln. Ich wasche mich und gehe „nach Hause". — Ich will nicht noch  unvernünftiger werden.
 Mein „Zuhause" ist das Hotel „Zum Muschelhaus". Zwei Tage habe ich  Wohnung gesucht. Dann ergatterte ich ein teures Zimmer für zwei  Personen, in das ich gegen viel Geld einziehen durfte, wenn ich noch  einen Kollegen mitbringen würde. Ich fand aber keinen passenden  Partner, und als ich eines Abends wiederkomme, wird mir eröffnet, dass  meine Wohnung ab morgen an zwei Herren vermietet sei, da ich die  Vereinbarung nicht eingehalten hätte.
 Eine geschäftstüchtige Frau, bei der ich Ansichtskarten und Zigaretten  kaufe, nimmt sich meiner an, als ich ihr mein Leid über die  Wohnungsmisere klage, und stellt mir anheim, zu ihr zu ziehen. Auf ihr  Häuschen wird ein Vorbau aufgesetzt. Fenster sind noch nicht drin,  Türen auch nicht. Eine Feldbettstelle steht da, zugedeckt mit Säcken,  damit nicht allzu viel Maurerdreck darauffällt. In einer Kiste steht  die Waschschüssel.
 Die Frau macht's billig. Vier Mark die Woche. Wenn alles fertig ist und  es nicht mehr hereinregnet, kann man weiter reden. Ganz nett ist die  Frau!
 Aber ich bin zu verwöhnt. Draußen liegen sie im Dreck, und ich klage  schon, weil ich im Neubau wohnen soll. Ich bin absolut darauf verpicht,  dass ich nach zwölfstündiger Arbeit einen Platz für mich, ein Bett  haben muss.
 Die Zehntausend, die morgens und abends aus Dutzenden von Fabriktoren  hinein- und herausströmen — das ist das Antlitz des Krieges in Zivil.  Das Gespenst des Schützengrabens verfolgt sie bei Tag und bei Nacht.  Sie sind vom Hunger gezeichnet. Sie gehen alle — scheint mir — als  trügen sie eine schwere Last. Sie wohnen in dichten Massen in Löchern,  blicken finster, wie die Farbe der Mauern. Auf ihren Gesichtern liegt  es wie Kohlenstaub. Sie gehen stumm, nur hier und da murrt einer, aber  so, dass es kein Unbefugter hört.
 Im Restaurant „Muschelhaus" sitzen sie und warten — auf den Frieden.  Sie essen Muscheln, vor Hunger, nur um den Magen zu füllen. Die gibt es  noch ohne „Karten". Die Leute sind reklamiert aus allen deutschen  Ländern. Ich spreche mit
 diesem und jenem. Jeder sagt: „Besser als im Schützengraben!" Sie  wollen sich nicht verdächtig machen, sind vorsichtig. — Wie die  Bewohner des besetzten Gebiets.
 Vor der Kantine stehen sie wie Bettler, wollen Marken haben, aber nur eine  beschränkte Zahl kann „verpflegt" werden.
 Mich würgt diese Atmosphäre von Lüge, Heldentum. Abends gehe ich zur  Nachtschicht. In meinem Hirn reift ein Entschluss.
 Der Meister kriecht zwischen den Kanonenrohren umher. Ich gehe auf ihn zu.  „Kommen Sie, bitte, einmal mit!"
 Er ist erstaunt, aber er folgt mir.
 „Ich möchte einmal wissen, was ich hier verdiene", beginne ich. Er  stutzt, stiert mich an und sagt: „Wenn Sie eingearbeitet sind, soviel  wie Ihr Ablöser, solange das nicht der Fall ist, Schichtlohn."
 „Wieviel ist das?"
 „Sechs Mark die Schicht!"
 „Wer bestimmt das?"
 „Vorderhand ich, wenn Sie nicht einverstanden sind, gehen Sie zum  Betriebsleiter!"
 Mein Ablöser grinst. Ich überlege, ob ich den Meister ohrfeigen soll,  beherrsche mich aber.
 Der Meister trottet, schwer schleppend an seiner Autorität, von der Bank fort.  Ich rücke ein. Lass laufen die Karre!
 Eine halbe Stunde mag vergangen sein. Zwischen den Kanonenrohren, den  Riesenlafetten, den riesigen Türmen der Schiffsgeschütze laufe ich  umher. Meisterhaft ist die Maschinerie für die Zerstörung alles  Zerstörbaren entwickelt und organisiert. Die Menschen opfern sich für  dieses „große Werk" bis zur Selbstvernichtung.
 Als ich komme, hat sich ein Stahlhalter gelockert. Die rohe Welle wurde  immer stärker, der Stahlhalter gab nach, aber er stand im schrägen  Winkel zur Welle und konnte rückwärts nicht abkommen, auch nicht durch  die Klaue, weil diese zu stark gerippt war. Er mahlte sich in die Welle  hinein, tief, einen Arm kann man hineinlegen.
 Ich hole meinen Meister. Er sieht die Bescherung und—kann
 nicht sprechen vor Schreck. Nur soviel höre ich, dass das sein Unglück sein  kann.
 Dann drehen wir hinter der Vertiefung auf Maß aus, so dass ein starker  Rand daneben stehen bleibt. Mit einer hydraulischen Walze walzt er dann  die Bescherung zu und jammert in einem fort, ich solle nichts verraten  und ihn nicht unglücklich machen.
 Morgens gehe ich zum Betriebsleiter. Der hört mich an, kratzt sich  hinter den Ohren und sagt: „Vorschuss können Sie bekommen, den dritten  Teil des verdienten Lohnes." Ich rechne: Abzüglich Knappschafts-,  Pensions-, Invaliden-, Kranken- und sonstiger Kassen ist das soviel,  dass ich einmal im „Muschelhaus" Abendbrot essen und schlafen kann.
 „Meine Frau hat entbunden, große Auslagen, außerordentlicher Fall." Ich  kann nicht anders zu meinem Recht kommen, als dass ich den Patrioten  spiele, und bitte, meinen Fall als Ausnahme zu behandeln. Ich bekomme  auch glücklich vierzig Mark Vorschuss, wasche mich und hole aus dem  „Muschelhaus" meinen Koffer.
 Abends, schon spät, klopfe ich bei Sophie.
 „Lütting?"
 „Tag, Sophl. — Die haben kein Eisen mehr bei Krupp."
 Sie ist nicht sonderlich erstaunt, schüttelt den Kopf und sagt lächelnd: „Bist  eben ein Zigeuner!"
 Das Reden nützt bei mir nicht viel. Das weiß sie schon.
 Ich sende meinen Pass zur Anmeldung ein, nachdem ich mir andere Arbeit  in einer neu eingerichteten Granatenfabrik gesucht habe, bekomme  natürlich — wie erwartet — den Gestellungsbefehl. Ich war ja nur für  die Firma Krupp beurlaubt.
 Mir kann niemand helfen, nicht Klaus, nicht Sophie, nicht Anna.
 Lazarett, Gefangenschaft, Festung, Zuchthaus! Sophie ist schon froh,  dass ich alles von der humoristischen Seite nehme, und verabschiedet  mich: „Hals- und Beinbruch, Hans!"
 Man würde mich ein wenig näher ansehen, werde ich empfangen. Aber dazu  blieb keine Zeit. Sie sterben draußen wie die Fliegen. Wir haben noch  lange nicht genug gesiegt.
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