XV.
Wachtmeister Kammer ist nicht unser Freund. Aber Lohmann nimmt uns stets in Schutz. Er hat sich überzeugt, dass auch Wilzki ein brauchbarer Kerl ist.
Es ist längst ausgemacht — auch für den stupidesten Sohn des Vaterlandes —, dass gleicher Lohn und gleiches Essen die Disziplin derer, die den Krieg als eine Badekur ansehen, so völlig zersetzen würde, dass der Krieg auch nicht einen Tag länger dauern würde. So ist denn überall dafür gesorgt, den hohen und weniger hohen Herren das Durchhalten zu ermöglichen.
Jede der drei Batterien stellt einen Verpflegungsoffizier. Die Abteilung stellt ihren Unteroffizier oder Offizier natürlich selbst. Im Abteilungsstab sind sehr viele der hohen Herren: der Abteilungsführer, ein Major mit Adjutanten, dem ganzen Stab von Offizieren und ihren Burschen. Ein weiterer Stab von Etappenbewohnern wird vom Abteilungswachtmeister dirigiert, dann kommen die Oberveterinäre und Veterinäre mit ihrem Anhang, die Ober- und Unterfeuerwerker. Dort wird gut gekocht, der Verpflegungsoffizier des Proviantamtes, der die Abteilung schlecht beliefert, kann bald in Differenzen mit dem Burschen des Majors geraten. Der Major kennt in bezug auf Missachtung seiner Person keinen Spaß, und der Verpflegungsoffizier des Proviantamtes ist nicht dumm genug, seinen Posten leichtsinnig aufs Spiel zu setzen. Er beliefert also vorerst die Abteilung so, dass Beschwerden ausgeschlossen sind. Dann kommen die einzelnen Batterien.
Die Batterie kommt mit ihrem Bestand bis an die Räume des Verpflegungsunteroffiziers der Batterie. Der Verpflegungsunteroffizier — Futtermeister Pock — bedient erst den Offiziersburschen der Bagage, der für zwei Leutnants, einen Revierarzt usw. zu kochen hat — und natürlich so, dass er zufrieden ist. Dann kommt die Offiziersküche der Feuerstellung: Hauptmann, zwei Leutnants, Offizierstellvertreter, Bursche. Dann ist noch der „Etatsmäßige", einige Vize und Unteroffiziere. Dann kommt die Küche der Bagage, und zuletzt bekommen die Mannschaften der Bagage den ihnen „zustehenden" Teil.
Der Rest geht in Feuerstellung.
Dort holt der Offiziersbursche sein schon bereitgestelltes Quantum ab. Dass er für alle, vom Unteroffizier aufwärts, mitkocht, ist schon berücksichtigt. Das übrige wird in die Unterstände verteilt, und zwar ohne Schiebung. Die Köche der
Unterstände müssen sich in Zweifelsfällen umdrehen, und einer der abgewandten kann bestimmen, welcher Unterstand den Teil erhalten soll, auf dem der Finger des Vizewachtmeisters liegt. Der Rest wird also „ehrlich" verteilt. — Es lohnt sich auch nicht mehr, davon zu klauen.
Die Besatzung des L-Wagens steht bei den Mannschaften schlecht angeschrieben. Sie soll alles auffressen, verschieben, trotzdem der Verpflegungsoffizier der Batterie schwarz auf weiß hat, was empfangen worden ist, und der Verpflegungsoffizier des Proviantamtes sehr knapp wiegt. Der Futtermeister der Bagage lässt sich nicht betrügen, denn jedes Pfund Butter, das vordem gestohlen ist, geht ihm aus der Nase.
Um den Kameraden reinen Wein einzuschenken, hat nun Wilzki den Verpflegungszettel an sich gebracht, damit die gemeinen Muschkoten sehen, was für sie empfangen wurde und was sie erhalten.
Es war frisches Fleisch empfangen — und sie bekamen nur Klippfische. Es war Schmalzersatz empfangen, und sie bekamen nur stinkende Rübenmarmelade. Es war viel mehr Butter empfangen als verteilt. Überhaupt: Die ganze Rechnung stimmt nicht, stimmt nie, kann nicht stimmen!
Von diesem landesverräterischen Beginnen, den betrogenen Muschkoten zu beweisen, wo die Langfinger sitzen, erfuhr der Herr Wachtmeister durch die „Einjährigen". Über zwanzig Stück von diesen Herrensöhnen hat die Batterie. Sie kennen nur eine Sorge: Beförderung. Sie fragen nicht so viel nach dem gestohlenen Fleisch und Fett, Vater schickt ja.
Futtermeister Pock macht Gustav dann darauf aufmerksam, dass seine Kanoniere ihm auf der Nase herumtanzen, dass er sich keinen Respekt zu verschaffen wüsste. Gustav sagt darauf trocken: „Ich glaube, die haben vor mir mehr Respekt als vor Ihnen, Herr Sergeant."
Der Sergeant spürt den Hieb und wird ganz Vorgesetzter: „Nehmen Sie die Knochen zusammen, wenn Sie mit mir sprechen." Gustav erlaubt sich zu antworten, dass er im Moment keine Zeit habe. Er schmiert gerade seinen Wagen für den morgigen Empfang. Wilzki und ich haben Wache.
Als wir anderntags losfahren, erzählt Gustav, was gespielt wird. Es ist wieder sehr kalt, wir gehen zu Fuß neben den Pferden. Als Begleitung und Oberaufsicht ist zum ersten Mal Unteroffizier Armbrecht dabei, ein streng katholischer Kaufmannssohn. Er bleibt auf seinem Pferd sitzen. Seine Vorgesetztenpflicht fällt ihm nicht leicht.
„Nun haben sie uns auf dem Kieker", sagt Gustav, „wir werden noch allerhand erleben, aber lass sie man kommen. Wenn sie glauben, sie können mich einschüchtern, irren sie sich. Ich hab das bis hier." Er deutet dabei an, wie weit er es hat.
Wilzki ist sprachlos. Er hat sich nicht träumen lassen, dass der Verpflegungszettel, den er klaute, soviel Staub aufwirbeln könnte. „Zum Piepen", murmelt er kopfschüttelnd.
Wir sind uns bewusst, dass unsere Tage, die wir noch zusammen sein werden, gezählt sind. Ich frage Gustav: „Meinst du nicht, dass man die ganze Schose mit dem Kriegsschwindel ganz anders anpacken müsste? Was kann man schon verlieren?"
Gustav stampft grübelnd und stolpernd weiter und schlägt sich die an die Absätze gefrorenen Schneebatzen ab. „Ich weiß, was du meinst, Hans, weiß längst, was du bist. Aber glaub mir, kein Hahn kräht danach, wenn sie ein paar wegbringen. Ich hab das oft erlebt, aber ich lass mir trotzdem nichts gefallen. Die Bande frisst und säuft hier auf unsere Kosten." Er ereifert sich zusehends. Sein zu Nebel gewordener Atem schlägt in Wolken durch seinen vereisten Bart.
Ich weiß, was er meint, kenne den letzten Brief seiner Frau. Es ist so furchtbar, schreibt sie, so schwer, alles zusammenzuhalten. Das Zweitjüngste, ein Mädel, ist immer krank. Er hat es nur einmal gesehen, vom Lazarett aus. Den Jüngsten kennt er überhaupt nicht. Seine Frau ging noch mit ihm schwanger, als er wieder fort musste.
Wilzki sagt nach jedem Satz: Man nich? „Das müsste man alles in die Zeitung bringen, man nich? So eine Bande!"
Ich muss über die Naivität des enttäuschten Kellners lachen. Er fragt entrüstet: „Etwa nich?l" Selbst Gustav wird das zuviel: „Bist du all in Krieg west, Werner?" fragt er ihn. Werner bleibt stehen und meint: „Wieso?"
„Ick mein man, du hest noch nicht viel sehn."
„Ich danke! Die Halunken!" quittiert Werner verächtlich.
Gustav sagt nach einer Weile: „Lot se moken, wat se wüllt, dat ward all nich so heit eeten, as dat kokt ward."
Der hinter uns fahrende Futterwagen überholt uns. Wir müssen aufsitzen, um zu folgen. Ein halbstündiger Abstecher in die Kantine ist eine angenehme Abwechslung.
Es geht alles glatt, wie immer; sogar Wilzki feixt wieder. Ich weiß nicht warum.
„He ward dat schon weten", meint Gustav. Recht teuer ist schon alles und schlecht. Das bayrische Bier macht trübe Augen, der Tee schmeckt uns nicht. Immer Tee!!? Werner knöpft den Trinkbecher von Gustavs Feldflasche und gießt ihn aus seiner Feldflasche voll. Dann meinen und zuletzt den seinen. Ganz schwarz ist das Zeug, wie Tinte. „Willst du uns vergiften?"
„Hast du 'ne Ahnung?! Den musst du mit Verstand trinken! Prost Gustav!"
Gustav nimmt, kostet, leckt und sagt: „Düwel ok, so'n hew ick lang nich drunken."
Es ist süß-süffiger Likör. Auch der Vorderreiter ist ganz begeistert.
„Ich werd unserm Unteroffizier auch einen einschenken", sagt Werner.
„Verfluchter Hund!" sagt Gustav und trinkt aus. Werner hält die Hand an den Mund, dass Gustav mit seinen Ohrfetzen sein Flüstern vernimmt, und meldet breit feixend: „Davon ham wa fünf Liter überzählig." Dann erhebt er sich und schleicht an den andern Tisch, an dem Unteroffizier Armbrecht sitzt.
„Dat is keen Schnaps, is prima Likör!" redet er mit fachmännisch-komischem Ernst auf Armbrecht ein. Der schaut zu Gustav hin und dann nach dem Unteroffizier des Futterwagens. Er kämpft zwischen seiner Pflicht und dem Bedürfnis, bei uns als anständiger Kerl zu gelten. Unterdessen nimmt Gustav den stehengebliebenen Rest von Werner, reicht ihn dem Unteroffizier des Futterwagens und sagt: „Trink mol en Lütten, dat wärmt!" Der trinkt aus, die andern fragen: „Habt ihr für uns kein' übrig?" So muss Werner eine zweite Feldflasche voll holen. Alles trinkt. Unterwegs wird weiter geprostet. Der „Überzählige" kann ja vertrunken werden.
Eine halbe Stunde vor Ankunft fliegt der leere Ballon vom Wagen in den Schnee. Wir singen aus vollen Kehlen das Lied von den drei Lilien und dem stolzen Reiter. Vorläufig dämpft die Kälte noch den heißen Schädel, die Wirkung zeigt sich erst später.
Die Fahrer sitzen wie Schwerverwundete auf den Gäulen. Zwei Pferde gehen über die Stränge. Der Wachtmeister steht schon vor seinem Quartier und empfängt uns. Er kann gar nicht warten, bis wir vorgefahren sind, kommt uns schon entgegengerannt und brüllt uns an: „Ihr seid wohl alle blödsinnig geworden?" Nun sieht er zum Unglück noch die Pferde über die Stränge gehen.
„Unteroffizier Armbrecht!"
Armbrecht rutscht unmilitärisch von seinem Gaul, will sich vor dem Wachtmeister aufpflanzen. Aber die Angst kämpft vergeblich gegen den Schnapsrausch. Armbrecht versucht verzweifelt, das Gleichgewicht zu erzwingen, rutscht aus und fällt dem Wachtmeister vor die Füße. Als er sich erhebt, zittert er am ganzen Körper, ist bestimmt schon wieder vollkommen nüchtern, aber er kann vor Schreck nicht sprechen.
Als der Wachtmeister ihn anbrüllt: „Sie sind besoffen, Unteroffizier Armbrecht!" bleibt der Versuch Armbrechts, etwas zu erwidern, in einem kläglichen Zucken um den Mund stecken.
„Das übrige wird sich finden", entlässt der Wachtmeister Armbrecht.
Wir spannen die Pferde aus, um möglichst rasch unser Quartier zu erreichen.
„Wilzki und Betzoldt!" „Herr Wachtmeister!"
„In einer Stunde feldmarschmäßig auf der Schreibstube!"
„Jawohl, Herr Wachtmeister!"
Dann beginnt jene unbeschreibliche Art, zu „beweisen", wie viele militärische Übertretungen und vorschriftswidrige Mängel unsere Ehrenkleider nebst Ausrüstung aufweisen. Der Futtermeister fasst mich vorn am Leib, schüttelt mich und sagt mit idiotenhaftem Lachen: „Ihr Vagabunden!" Er selbst steht in Hemdsärmeln vor uns und raucht großspurig eine gestohlene Offizierszigarre. Als ich ihm ganz ruhig sage: „Ich bin für Herrn Sergeanten Kanonier Betzoldt und verbitte mir Handgreiflichkeiten!" erstarrt sein blödes Lachen für einen Augenblick. Er steht unschlüssig lauernd vor mir, der Wachtmeister sieht mich ebenfalls „genauer" an.
Ich mache kehrt, trete drei Schritte zurück und pflanze mich wieder auf.
Der Sergeant bleibt vor Verblüffung stehen, der Wachtmeister schreit: „Was fällt Ihnen ein — Sie— Verbrecher!"
„Kanonier Betzoldt, Herr Wachtmeister! — Es ist Vorschrift, dem Vorgesetzten drei Schritte gegenüber zu stehen."
Ich stehe an der Tür, habe den Rücken frei. Wilzki ist stehen geblieben, der Wachtmeister stürzt vor und stellt sich zwischen uns.
Ich sehe ihm ruhig in die Augen. Im Notfall sind zwei gegen zwei.
„Treten Sie drei Schritte zurück", schnauzt der Wachtmeister nun Wilzki an, und dann: „Ihr meldet euch sofort bei Unteroffizier Manteuffel in der Wachtstube und tretet morgen früh um zehn Uhr wieder hier an!"
Wir ziehen auf Strafwache. Die Filzstiefel und Schaffelle schützen vor Kälte, die Wachtstube ist warm, man kann wenigstens einige Stunden schlafen und überlegen. Wilzki ist verdattert und verschüchtert und schimpft, dass die Fahrer nicht aufgepasst haben und Armbrecht sich so tollpatschig benommen hat. Er ist froh, mit einem blauen Auge davon zu kommen. Ich empfinde keine Reue. So etwas wie Genugtuung erfüllt mich: Wie soll etwas entstehen, wie die Muschkoten aufgerüttelt werden, wenn nicht einer wagt, wider den Stachel zu lecken?
Morgens um zehn Uhr treten wir wieder an und werden nach der Feuerstellung kommandiert. Auch Armbrecht ist dabei. Es ist drei Stunden Weg, ein furchtbarer Schneesturm hat alle Straßen und Wege verweht, jede Orientierung ist schon nach einer Stunde unmöglich, auch den Weg zurück finden wir nicht mehr. So stehen wir — Stunde um Stunde nach erschöpfendem Irren — unter einer Eiche und warten auf ein auftauchendes Orientierungszeichen. Der Sturm heult um uns, der Schnee wird in Wogen hin und her geschoben. Weiß ist die Erde, der Himmel, die Luft, die Bäume. Wir werden müde — und stumm. Die Nacht naht, trotzdem es erst vier Uhr nachmittags ist. Wir sind verloren, wenn wir keinen Ausweg finden.
Wir beschließen, nach zwei Seiten auszuschwärmen. Einer bleibt immer zurück, um durch Rufen die Verbindung aufrecht zu halten. Eine Taschenlampe des Zurückgebliebenen soll den Weg nach rückwärts ermöglichen.
Armbrecht und ich stapfen zuerst fort. Nach einiger Zeit höre ich den Rückruf Wilzkis. Armbrecht hat Licht entdeckt, auf das wir zuhalten wollen.
Wilzki kann jedoch mit einem Male nicht gehen. Seine Füße scheinen eingeschlafen. Wir stützen ihn, lassen ihn dann wieder los. Da fällt er vornüber in den Schnee, kommt nicht wieder hoch. Ich bleibe bei ihm, Armbrecht watet durch den Schnee auf das Licht zu und bringt auch Hilfe. Es ist ein Unterstand des Artillerie-Meßtrupps.
Wir schneiden Wilzki die ihm zu knappen Schäfte — er hatte nur ein Paar Strümpfe an, hatte keine Lappen und kein Stroh in den Stiefeln — von den Füßen, weil er so furchtbar schreit, als er warm wird.
Sie waren ihm nicht nur „eingeschlafen". Der rechte Fuß war zu einem Klumpen zusammengefroren und hinter dem Ballen durchgebrochen.
Wir bleiben die Nacht da und verabschieden uns am Morgen von Wilzki. Er sieht so alt, so verbraucht, so zerbrochen aus.
Ein Wagen bringt uns zur Feuerstellung. Armbrecht macht Meldung — wir werden dem vierten Geschütz zugeteilt. Wir sind schwarz angeschrieben. Unteroffizier Armbrecht trägt schwer daran.
Er ist entschlossen, es bei der ersten Gelegenheit wieder „gutzumachen".
Die Batterie muss gemeinsam mit der Nachtbatterie abwechselnd eine Baumbeobachtung besetzen, die dauernd mit Schrapnells befunkt wird. Die Russen sitzen in einer zerschossenen Glasfabrik, jenseits des Kanals. Der Unteroffizier vom Dienst der Beobachtung hat sich krank gemeldet.
Armbrecht meldet sich freiwillig und erwirbt sich sofort die Achtung unseres Hauptmanns.
Nach einer Stunde — zehn Minuten nach Besteigung der Eiche — meldet der Telefonist: „Unteroffizier Armbrecht ist tot."
Eine verirrte Granate explodierte in den Ästen einer Baumkrone. Ein Fetzen von ihr durchschlug Armbrecht die Halsschlagader, er stürzte vom Baum und verblutete.
Die Batterie kann die Namen ihrer ersten Helden auf ihre Fahne schreiben. |
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