XXIII.
Langenscheid wird seiner Frau bestimmt sagen, dass er keine Kriegsanleihe gezeichnet hat und dass man ihn nun näher beobachten wird.
Auch ich muss mit Sophie darüber reden.
Ich komme aber nicht dazu. In der Stube sitzt ein Soldat und wartet auf mich. Als er mich sieht, steht er auf und streckt mir die Hand entgegen. „Tag, Hans!"
Ich suche mich zu entsinnen. Seine Stimme klingt mir vertraut, die Hakennase, die große Falte um sie beim Lachen? — „Walter! Bist auch hier in Deutschland? Urlaub? Heimatschuss?"
„So ähnlich", sagt Walter. Ich muss mich erst an ihn gewöhnen. Er ist ganz verändert, sein starker Schnurrbart ist weg.
„Hast Schwein gehabt, Hans!"
„Gott, wer weiß, wie lange es dauert, und dann — es ist auch hier genug Krieg."
Sophie brüht ein bisschen Tee auf und setzt sich dann zu uns.
„Bist du schon lange hier?"
Walter lacht vielsagend — und schweigt.
„Das hätte bös ausgehen können." Ich sehe unter seinem rechten Auge eine noch frische Narbe.
„Das war nicht schlimm", sagt Walter, „wenn es schlimm gewesen wäre, wäre ich nicht hier, die bleiben meist alle liegen."
„Geht wohl fürchterlich her draußen?"
„Da könnt ihr euch gar keinen Begriff machen. Die Menschen glauben das ja gar nicht, sonst könnte es nicht so ruhig bleiben."
„Sie meinen alle, dass bald Frieden wird!" sagt Sophie. „In der einen Hand die Peitsche, in der andern die Friedenspalme, das sieht so recht nach Frieden aus. Aber wenn die uns einmal die Rechnung präsentieren, werden wir staunen."
Walter fährt dann wie erklärend fort: „Vorigen Sommer war ich in Maubeuge. Wir bewachten die großen Industrieanlagen. Mächtige Kesselanlagen, moderne Industrie. Was haben die Deutschen mit den Maschinen gemacht? — Alles wurde vernichtet, zertrümmert, alles aus den Fundamenten gebrochen. Die Galle konnte einem überlaufen, wenn man das mit ansehen musste. An einem langen Seil war eine Riesenkugel von Eisen befestigt. Diese Kugel wurde an einem großen Flaschenzug hochgezogen, und dann sauste sie nieder auf die Maschinenteile, so lange, bis auch die stärksten Kolosse in Trümmer gingen.
Wochenlang hab ich das mit angesehen. Ein älterer Herr, der Bescheid wusste, ging immer in dem Trümmerhaufen umher, musste Auskunft geben. Ich sehe ihn heute noch in seiner kalten Verachtung. Er hat anscheinend einmal die Betriebe geleitet, sah nun diese sinnlose Vernichtung. Nur die Lokomobilen und Motoren wurden unbeschädigt fortgeschafft. So sucht man dort alles zu vernichten.
Die gefangenen Russen, die die verschrotteten schweren Brocken verladen mussten, waren schon halb verhungert. Trotzdem hat man sie mit Fußtritten zur Arbeit angetrieben. Schöne Friedensvorbereitungen. Ha-ha-ha-ha!"
Walter lacht blechern und sieht über die Stube hin. Er hätte ebenso gut sagen können: Dass ihr den Hohn dieser Friedensapostel nicht merkt, darüber überhaupt noch diskutiert
„Die werden eine schöne Rechnung aufmachen!" betont er kopfnickend noch einmal — „und bald, früher als mancher denkt!"
„Meinst du?"
„Ja", fährt Walter fort, „es ist aus. — Ich bin ein alter aktiver Soldat", erzählt er weiter, als wolle er sich eine Last vom Herzen reden — „aber auch wenn ich das nicht wäre; ich habe nie Feigheit gekannt. Es widerstrebt meiner Natur, anderen etwas vorzumachen. Wenn dicke Luft war, richteten sie sich alle nach mir, die ganze Korporalschaft. Ich hätte die Kerls gar nicht enttäuschen können. Überzulaufen, oder auszurücken, sie im Stich zu lassen: nein. — Der Gedanke schon war mir unerträglich.
Der gesunde Mensch sträubt sich, sich selbst zu verkrüppeln, weil das gegen alle Natürlichkeit ist. Ein gesunder und aktiver Kerl krepiert lieber, weil er sonst auch innerlich verkrüppeln müsste. Aber auch das schaffen sie fort, haben sie auch bei mir geschafft, das ist das schlimmste. Die nicht zerfetzt werden, werden innerlich getötet. Alle Disziplin, auch alle natürliche Disziplin geht zum Teufel. Mit den Menschen, die sich selbst vernichten, innerlich vernichten, ist kein Widerstand mehr möglich. Es fragt sich nur, wie lange es dauert, bis sie auch das noch gründlich besorgt haben."
Das klingt alles wie eine Beichte. Sophie steht seufzend auf, gießt noch Tee ein. Dann öffnet sie das Fenster, um den Qualm abziehen zu lassen, sieht mich an, wohl weil ich schweige, und sagt: „Genosse Walter kann doch hier schlafen? Er ist nicht sicher zu Hause!"
„Selbstverständlich. Er schläft auf dem Sofa." Walter schaut zu Boden, mag wohl nicht viel Wesens davon machen, dass er sich freut, und fragt: „Habt ihr hier von der Riesenexplosion gehört im Fort Douaumont, Anfang Mai dieses Jahres? Zwei Regimenter brandenburgischer Truppen sollen darin begraben sein." Und ehe wir Antwort geben, fährt er fort:
„Wir waren gerade auf dem Wege nach vorn, als wir davon hörten. Ihr könnt euch ja die Stimmung denken. Die Zivilbevölkerung sah uns stumm und verbittert nach. Jeder hat gegrübelt: Wie viele mögen dort eingemauert sein? Da machte ein französischer Junge so eine charakteristische Bewegung: mit der flachen Hand sägte er an seinem Hals, wie: Ihr werdet alle abgemurkst! Geschimpft und geflucht haben viele — aber noch mehr sind erschrocken. Sie fühlten: der Junge hat recht! Gleich am ersten Abend mussten wir antreten. Die Kompanie sollte Stollenhölzer nach vorn tragen. — Von den Offizieren kam keiner mit. Ein Feldwebel hatte das Kommando. Als wir in Reihenkolonnen aus dem Walde kommen, ist bereits die halbe Kompanie verschwunden. Ein Pionier führte uns, er kannte jeden Abschuss. Aber hier war gar keine Berechnung mehr möglich, alles lag unter Feuer. Ein Wirbel von Einschlägen, Vor uns und hinter uns brach es krachend in die Erde. Eine Wolke von Dreck und Eisen prasselte über uns nieder. Wir lagen in einem niedrigen Laufgraben, ich über einem andern wie ein Frosch. Da krachte es schon wieder links von uns, kein Mensch wusste recht, wie weit. Der Feldwebel horchte Sekunden. — ,Los!'brüllte er dann. Wir rannten mit unseren Stollenhölzern wie gehetzt durch die Nacht, stolperten, fielen hin — kamen mit dreißig Mann von der ganzen Kompanie in dem zerschossenen Wäldchen an. Dort lag Artillerie, feuerte und wurde befeuert, ununterbrochen. Vor dem Wäldchen die waldfreie Zone, zerwühlt, unter ständigem, furchtbarem Granatfeuer. — Da sollten wir durch.
Der Feldwebel drehte sich um und hatte noch zehn Mann hinter sich. ,Verdammte feige Hunde!' fluchte er verächtlich. Rannte los, wir hinterher. Rasteten Sekunden vor der Schlucht — die ,Totenschlucht' nannten wir sie. Keine Minute schwieg hier das Feuer. Die letzten hundert Meter waren die furchtbarsten. Sofort nach den Einschlägen hieß es laufen, laufen! Bis die nächste Salve einschlägt, mussten wir die waldlose Zone hinter uns haben. In wahnsinniger Hast ging es die Schlucht hinab. Wer dort liegen blieb, wurde totgetreten. Erst am jenseitigen Hang waren wir etwas sicherer.
Vor einem Stollen machten wir halt. Wir hörten dumpfe Stimmen aus der Erde. Der Feldwebel meldet: ,Sechste Kompanie achtzig Stollenhölzer abgeliefert.' An Nachzählen ist natürlich nicht zu denken.
Auf dem Rückweg war es schon dämmerig. Tote, Verwundete, Schreiende, Feldflaschen, Büchsen mit Wurst und Fett, Stollenhölzer, Stacheldrahtrollen, Wasserfässer, Brotsäcke liegen herum.
Jeden Tag war der Laufgraben zusammengeschossen oder voll Wasser. Jeden Tag blieben Kameraden liegen, keiner fragte danach. Jeden Tag gingen neue Truppen in Stellung, jeden Tag wurden neue Verbände aufgerieben. Jeden Tag kletterten wir über Tote, traten in Kaidaunen. Jeden Tag sahen wir,wie nur ein kleiner Bruchteil der Verpflegung nach vorn kam. Nach vierzehn Tagen rückten wir in die zweite Stellung und erfuhren es am eigenen Leibe. Die gläsernen Augen hingen an mir, als ich Wasser verteilte: einen Trinkbecher lauwarmes Wasser pro Mann. Unerträgliche Hitze. Die Flieger wimmelten über uns; sie wussten jedes Loch, in dem wir lagen. Feste Stellung gab es nicht mehr; nur Löcher. Oft saßen die Franzosen rechts von uns, oft links, ein Tasten, ein Belauern, auch ein stiller Waffenstillstand mitunter. Das Gemetzel geht in der Hauptsache so vor sich, dass man die Regimenter durch die Sperrfeuerzone der Artillerie jagt, hüben und drüben, immer von neuem. Denn die in den Stellungen verdursten, verhungern, haben keine Minute Ruhe, keinen Schlaf, müssen immer von neuem abgelöst werden — und müssen von neuem durch die Feuerzone und bleiben im Granatenregen.
Da erwacht in dir die Gier nach dem Leben. Du siehst die Schwerverwundeten in den Löchern, im Sand, in der Asche, in die der Boden verwandelt ist. Siehst, wie sie von den Fliegen gefressen werden. Siehst, wie die Sanitäter nur einen Bruchteil holen können, läufst selbst gehetzt vorbei, wenn dich ein Sterbender anruft.
Da packt dich das Grauen. Auch so liegen, auch so langsam zu Tode braten ? Du siehst deine Kameraden immer wieder an, siehst dich eines Tages um — und Feldwebel Dengel ist verschwunden. Du kannst das gar nicht fassen. Die letzte Illusion, dass die eisernen Nerven dich retten, ist futsch.
Dann kommt es über dich! Du grübelst und sinnst, überlegst: Einen Schuss durch die Hand? Eine Handgranatenverwundung? Du schämst dich vor den andern, die zu dir aufsehen, die du durch deine Anwesenheit noch ermunterst, — deiner Feigheit.
Du erbietest dich freiwillig, Wasser zu holen. Du weißt, dass die grünlich-schleimige Quelle am Ausgang der Schlucht stark beschossen wird, denkst aber an deinen Granatsplitter, den du schon am Tage mit dir herumträgst, mit dem du die Verwundung, die du brauchst, dir selbst beibringen willst. Du hast keinen Mut, möchtest aber auch nicht ohne Wasser zurückkehren, kriechst auf allen vieren heran, siehst die toten Wasser-holer vor dem Loch liegen, füllst die Flaschen voll mit der grünlich-schleimig-warmen Brühe und kehrst zurück als Held — weil du zu feige warst, dein Vorhaben auszuführen.
Sie erwarten dich aufgeregt. — Der Bataillonsunterstand ist zusammengetrommelt. Die Stolleneingänge sind zu. Sechzehn Mann sind noch drin, tot oder lebendig. Aber keiner kann helfen. Die Granaten zerkrachen über dem Grab, die ganze Nacht.
Da fangen die Knochen an zu tanzen, die Nerven an zu springen. Du hältst dieses Heldentum nicht aus, gehst abseits, reißt den Splitter aus der Tasche, und schreist, um deine Feigheit zu verbergen: ,Sanitäter! — Sanitäter!'
Du willst dich überzeugen, ob diese Wunde das Schreien rechtfertigt — und blutest kaum. — Gleich wird der Sanitäter hier sein — und du bist erkannt. Da hackst du noch einmal zu. Das Eisen bleibt hängen, du reißt — und reißt dir das Fleisch aus dem Gesicht, holst dir vom Arzt die Starrkrampfspritze und den Schein.
Die ,Leichtverwundeten' kommen fast alle weg, sie schlagen sich durch. Schwerverwundete bleiben viele zurück. Du siehst alles entschwinden, zuletzt den Friedhof, der die erwartet, die vor der abfahrenden Bahn sterben. Kein Mensch fragt nach ihnen. Wenn die Heimat winkt, ist alles vergessen.
Du kommst nach Deutschland und siehst, wie die Herren hier vom Frieden, vom Durchhalten, vom Heldentum reden!"
Walter stockt und schaut, wie erschrocken vor sich selbst, nach der Uhr.
Ich sehe Sophie an.
Sie hat die Hände über ihrem Schoß gefaltet und sagt im Aufstehen: „Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. — Innerlich sterben! — Wir Frauen wissen, wie das ist!"
Ihr Gesicht glüht. In ihrem mageren Körper schlägt alles.
„Wenn das mal losgeht", fährt sie fort, „geht es aber richtig los! — Es muss auch richtig losgehen!"
„Jawohl, wenn man dann krepiert, weiß man wenigstens warum!"
„Bricht ja schon alles zusammen", sagt Walter. „Wenn sie so weitermachen, sind sie bald hier! Ich habe ja den Rückzug mitgemacht, von der Somme bis St. Quentin, ich bin bloß ein bisschen rascher gelaufen."
Sophie muss sogar lachen, fragt aber dann schon wieder ganz ernst: „Das muss doch furchtbar durcheinandergehen?"
„Wie man's nimmt", meint Walter. „Oben ist scheinbar Ordnung, das heißt auf dem Papier. Denn die höheren Vorgesetzten wechseln, als wären sie alle zur Aushilfe da. — Aber ,unten' ? — ist ja auch kein Wunder."
Wir warten ohne Gegenfrage, und Walter fällt erneut ins Erzählen:
„Sie versuchten noch zu täuschen. Scheinstellungen wurden gebaut, Truppen marschierten am Tage nach vorn, in der Nacht nach hinten, am anderen Tage wieder nach vorn. Ganze Autozüge voll Kriegsmaterial fuhren sie in die Somme, teils wurde es vergraben. Alles, was über die Erde ragte, wurde dem Erdboden gleichgemacht. Ganze Wälder wurden niedergelegt.
Die Zivilbevölkerung wurde abgeschoben. Vor jedem Haus, jeder Straßenkreuzung, jeder Kirche, jeder Brücke sah man die Erdhaufen, das Zeichen, dass dort eine Sprengladung eingebaut ist. Dann wurden die entbehrlichen Gebäude niedergelegt. Zuletzt die Brunnen verschüttet, Kadaver von Hunden, Katzen usw. hineingeworfen. Die letzte Arbeit besorgten Pionierkommandos, die auch die für die deutschen Truppen noch benötigten Brunnen sprengten. Jede Truppe hatte zuletzt ihre Bude anzuzünden. Die Angreifer sollten ein verwüstetes Gelände vorfinden, unpassierbare Straßen, kein Wasser, kein Orientierungszeichen — aber sie rückten trotzdem nach. Hinter St. Quentin bin ich abgehauen. — Für mich ist der Krieg aus."
Walter sagt den letzten Satz, als konstatiere er eine unumstößliche Tatsache. Ich kann mich der komischen Wirkung dieses Tones nicht entziehen und muss lachen. Ist das derselbe Walter, der einmal seine Knie „massierte", um Tage, höchstens Wochen zu gewinnen? Ich erinnere ihn daran und sage scherzend: „Da hättest du lange massieren können!"
„Du hättest auch derweil mit deinen Einlagen um die Erde laufen können", gibt er zurück. „Damals dachten wir wunder wie schlau wir waren, heute muss man über solche Kindereien lachen. Man musste sich erst selbst kennen lernen, musste erst richtig mit der Nase darauf gestoßen werden, damit einem der Schädel klar wurde — man musste erst bis auf den Grund sehen."
Es ist schon spät. Wir gehen schlafen. Keiner spricht noch ein Wort. |
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