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Adam Scharrer - Vaterlandslose Gesellen (1930)
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I.

„Meine Herren", beginnt Herr Landsberg, „wir müssen uns nun trennen. Wenn der Krieg vorbei ist — lange wird die Sache ja nicht dauern —, dann hoffe ich, dass wir uns hier alle vollzählig wieder sehen. Ich kann den Betrieb nicht aufrechterhalten; Müller und Schaal sind bereits fort, und mancher von Ihnen wird in den nächsten Tagen Abschied nehmen müssen. Ich selbst bin ebenfalls noch im militärpflichtigen Alter. — Wir haben ja jetzt nur ein Ziel, ein gemeinsames Ziel, unser Vaterland zu verteidigen. Darf ich also bitten."
So nehmen wir nacheinander Papiere und den Restlohn in Empfang. Es sind nur einige Minuten nötig, um acht Mann abzufertigen. Janke schielt derweilen die fettgedruckte Heldentat der „Magdeburg" und „Augsburg" aus der auf dem Tisch liegenden Morgenzeitung an und liefert so den Übergang zur Schlussrede.
„Wirklich ganz famos", sagt unser Chef. „Die Russen werden sich schön gewundert haben, als sie so begrüßt wurden. Werden sich noch mehr wundern, wenn sie vom Süden her von den Österreichern gepackt werden."
Einige lachen und stimmen zu. Von Herzen lacht keiner.
Der Abschied ist kurz. Ich gehe zu Fuß, um allein zu sein. Die andern besteigen die Straßenbahn oder schlagen den Weg zur Vorortbahn ein.
Mich verband vordem schon nicht viel mit ihnen — und nun schon gar nichts mehr. Menschen ohne jede eigene Meinung, brave Kleinbürger, die nun etwas traurig gestimmt waren, dass ihr regelmäßiges Leben unterbrochen wurde. Sie waren alle schon Jahre dort: Schwiegervater und Sohn, der Vorarbeiter und sein Freund, ein Schlosser in den dreißiger Jahren. Der
Blechspanner mit dem steifen Bein und der alte Schmied mit der Riesenglatze und dem Riesenbart. Ich war ein Fremder, den der Zufall dorthin verschlagen hatte.
Welchen Grund mochte das wohl haben, dass der alte Schmied, der lahme Blechspanner und der einäugige „Arbeitsmann" wieder zurückgehen — und, ehe sie in die Eckkneipe verschwinden, mich zurückrufen? Und ich umkehre und auf ein paar Schoppen mitgehe? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sie noch lachen konnten, und die andern nicht mehr.
„Lot se moken, wat se wüllt", sagt Schramm und trinkt seinen Koks aus. Und nachdem er ihn hinuntergeschüttet hat und noch an dem Zucker kaut: „Uns könn se an Mors klein." Schramms blindes Auge glänzt wie poliertes Horn. Die beiden andern schmunzeln beifällig, als freuten sie sich ihres Alters, oder wie der lahme Jonas, dass er ein Krüppel ist.
„Mokt gaut, oll Jung, mokt gaut!" meinten sie dann zum Abschied zu mir. „Schrieb mol und hol de Ohren stief!" — „Von de ganz Dumm'n bist ja ok keener", meinte Schramm noch zuletzt.
Ich habe in Eilbeck nichts mehr zu suchen. Es war ganz nett dort, diese kleine Fabrik war ein Idyll inmitten eines grünen Gartens. Der Kirschbaum am Fenster, das Pfeifen der Riemen, das Stampfen der Hobelmaschine, die krachend über Gussplatten ackerte, und das „Zisch-Puff" des Sauggasmotors war wie Begleitung zu dem Konzert der Vögel. Die Arbeit war erträglich. Eine Fabrik für gelochte Bleche. Auch Spezialmaschinen für diese Fabrikation, und Landsberg arbeitete unermüdlich an neuen Patenten. Es kam auf eine Stunde nicht an, sondern lediglich auf Zuverlässigkeit und Präzision. Mittags lagen wir im Garten, eineinhalb Stunden, und der Lohn — achtzig Pfennig die Stunde — lag über dem Durchschnitt. Mit fünfundzwanzig Jahren verliert sich auch langsam die Lust an dem wechselvollen Landstraßenleben. Mir war die ruhige Arbeit in dem ruhigen Eilbeck willkommen, und ich nahm auch Wohnung dort, weil ich den Weg nach Hamburg sparen wollte, und weil in der Gummifabrik unweit davon ein Mädel war, das mir gefiel.
Aber nun ist der Traum aus. Ob ich ein Feigling bin — ich weiß es nicht; jedenfalls ist es die Meinung des Mädels und ihres Vaters. Ihr Bruder ging freiwillig ins Feld, und ich war die Tage vordem in der Stadt unter denen, die gegen den Krieg demonstrierten.
„Da kommt Hans Betzoldt!" Mit diesem Schrei springt Martha Lehmann, meine Wirtin, auf, als ich an der Destillation vor dem Hause meiner Wohnung vorübergehe. Ihr Freund, ein zwei Zentner schwerer, athletisch gebauter Möbelträger, sitzt neben ihr in dem verqualmten Lokal. Der Wirt ist in Artillerieuniform und bedient in Stiefeln und Sporen. Das Groschenorchester brüllt; das Lokal ist voll. Meine Wirtin bestellt einen „Halben" und schreit mich an: „Na, Hans, ergib dich schon, sie werden dich nicht gleich totschießen!" Sie scheint guter Laune und spendiert. „Paul hat sich das auch überlegt", fährt sie fort, „bist wohl nun ganz allein als Miesmacher."
Paul Gerstacker, der eifrigste Kriegsgegner unserer Gruppe, schaut mich lauernd an und antwortet dann: „Ja, ich geh auch mit, es geht nicht anders." Neues Gelächter, Musik, hart und blechern. „Kennt ihr die Dollarprinzessin?"
Fort von hier! Ein Zettel auf dem Tisch und die Schlüssel dazu geben Kunde, dass der Vogel ausgeflogen ist.
In einer der kleinen Straßen an der Hamburg-Altonaer Grenze wohnt Genosse Mertens aus meiner früheren Gruppe. Ich klopfe; seine Frau öffnet. „Hans, du?" — Ihre Augen sind verweint, ein schwaches Lächeln kämpft gegen das niederdrückende Gefühl von Ungewissheit und erzwungener Tapferkeit. „Komm herein! Was machst du? Wo kommst du jetzt her? Arbeitest du nicht ? Musst du fort?"
„Wo ist Genosse Miertens?" frage ich. Um ihren Mund läuft ein kaum merkliches Zucken. Sie schaut zu Boden, dann sagt sie: „Er hat sich gestern gestellt."
Sie scheint eine Antwort zu erwarten; vielleicht eine abfällige Antwort. Ich jedoch bin nicht kampflustig, wenigstens nicht in dem Sinne, wie sie es erwartet. Sie scheint das auch
langsam zu begreifen. „Komm herein, Hans, komm in die Küchel" sagt sie und macht die Tür zu.
„Du staunst", beginnt sie von neuem, „aber es hätte keinen Sinn gehabt. Paul wollte wirklich nicht, aber einer nach dem andern fiel um. Ich habe es wohl von Anfang an geahnt, dass es zum Schluss so kommen wird. Mayer, Hartung und May sind ebenfalls fort. Mein Mann war zuletzt allein. Du weißt, Hartung hat drei kleine Kinder, was soll seine Frau machen? Mayers Frau ist vollkommen verhext, sie würde ihren Mann direkt verraten. May ist zusammengeklappt. Es ist kein Wunder. Lies doch das ,Echo'."
Sie weist auf die Zeitung, die den Entschluss der sozialdemokratischen Fraktion bringt, in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stiche zu lassen. Darunter die Botschaft Kaiser Wilhelms, dass er keine Parteien mehr kenne, und Martha schließt mit Nachdruck: „Das sind alles ganz gemeine Halunken und Verräter!" Ich schweige immer noch, bis sie noch einmal fragt, ob ich fort muss. Ich berichte. „Was nun?"
„Kann ich hier wohnen?"
Sie überlegt, als hätte sie Angst vor der eigenen Antwort. Dann sagt sie, etwas schüchtern: „Hans, jetzt gerade, kurz nachdem Paul fort ist — du musst verstehen — ich möchte das nicht — du weißt doch — kannst du nicht woanders wohnen?" Und als ich nicht antworte, fährt sie, wie entschuldigend, fort: „Sieh, wenn Paul das erfahren würde, dann könnte er sich doch allerhand denken, das musst du doch verstehen."
Ich bin darauf nicht vorbereitet. Wo soll ich wohnen? Ich muss versteckt, heimlich, unangemeldet irgendwo sein können. Wo soll ich das finden, wenn nicht bei Genossen? Alle sind sie umgefallen, bis auf Paul, der ging als letzter. Nun bin ich der letzte. Ich darf nicht einmal bei seiner Frau bleiben, „was sollen die Leute denken".
Ich stehe auf und gehe. „Leb wohl, Genossin Mertens, grüße Paul, wenn du ihm schreibst." „Bist du mir böse, Hans ?"
„Nein, gar nicht. Ich muss eben sehen, wo ich bleibe."
Ich gehe. Sie begleitet mich bis vor die Tür, um noch einmal zu fragen: „Hans, bist du mir wirklich nicht böse?"
„Nein, ich bin dir nicht böse!"
Sie war mir so fremd und so gleichgültig geworden, ich konnte ihr gar nicht böse sein.
Ich schaue über die Reeperbahn. Ein Zug Soldaten kommt daher, dann Geschütze, Bagage, Sanitäter. Dicht stehen die Massen, an den Seiten. Sie bewerfen die Soldaten mit Blumen. Die Soldaten singen. Die Massen singen mit, laufen neben ihnen her. Sie gehen und reiten nach dem Heiligengeistfeld. Ich gehe mit. Ich habe kein Ziel mehr an diesem Tage. Ich muss erst einmal schlafen. Ich bin müde, so furchtbar müde!
Ein Gewitterregen hat den Staub niedergeschlagen; die Sonne liegt satt und heiß über Menschen und Pferden. Kommandos ertönen: „Aufgesessen!" „Abgesessen!" „Protzt ab! „Erstes, Feuer!" „Zwotes, Feuer!" „Batterieantreten!" „Stillgestanden!" „Augen... rrrechts!!"
Ein alter Graubart mustert die ins Feld ziehenden Batterien. Die Vaterlandsverteidiger stehen wie entseelt und heften die Augen wie elektrisch dirigierte Puppen auf ihn. Keine Wimper zuckt in der uniformierten Mauer. Alles steht stumm und dumm. Der Hauptmann scheint zufrieden.„Lassen Sie rühren", befiehlt er herablassend dem Leutnant.
Ich helfe mir, weil ich doch keinen Gedanken mehr formen kann, mit einem Lächeln. Ich weiß nicht, ob die Liebenswürdigkeit der Damen, die in der Kriegsküche, unweit davon, für fünfzehn Pfennig große Portionen Essen verabreichen, Schauspielerei, Heuchelei oder nur Dummheit ist. Ich will auch nichts mehr wissen.
Nachdenken kann ich erst wieder, als ich auf dem Heiligengeistfeld einige Stunden geschlafen habe. Ich lag da nicht allein. Ein großer Teil der Gäste der Kriegsküche lag ebenfalls dort. Sie hatten wohl seit langem nicht so reichlich und gut für fünfzehn Pfennig gegessen. Die Sonne war wieder hinter den Wolken, als ich erwachte; es war schon gegen Abend und kühl. Ich muss ein Dach über dem Kopf haben für die Nacht.
Ich legitimiere mich vorschriftsmäßig im Gewerkschaftshaus und löse mir eine Schlafkarte. Dann nehme ich das vorgeschriebene Brausebad und gebe mein Hemd hin, um es nach Läusen untersuchen zu lassen. Der Stempel auf der Schlafkarte legitimiert mich als ungezieferfrei. Ich gehe ins Fremdenzimmer. Mir scheint, als spreche aus allen Gesichtern bewusste Zurückhaltung, Ablehnung. Die Stiefkinder der Gesellschaft müssen auf die Freuden dieser Gesellschaft verzichten, und sie verzichten auch auf ihre Dummheiten. Zwei an meinem Tisch, augenscheinlich Reisekollegen, unterhalten sich über die Zeitung, die sie lesen. Der eine legt sie mit einem höhnischen Lächeln fort. Ich suche die fette Notiz, der sein Lächeln galt. Es ist eine Rede des Kaisers.
„Enorme Opfer an Gut und Blut würde ein Krieg vom deutschen Volke fordern, den Gegnern aber würden wir zeigen, was es heißt, Deutschland anzugreifen. Nun empfehle ich euch Gott. Jetzt geht in die Kirche, kniet nieder vor Gott und bittet um Hilfe für unser braves Heer."
Ich lache dasselbe Lachen. Ich mag noch immer nicht nachdenken, obgleich ich einige Stunden geschlafen habe. Nur eine Freude hält den ganzen Tag vor, die ich genieße: ich habe meine patriotische Wirtin, die unten in der Kneipe Stubenlagen gab auf den kommenden großen Sieg, um die Monatsmiete betrogen und habe so noch für einige Wochen Geld. Vielleicht bin ich ein Lump. Aber wenn auch — um diesen Preis bin ich bereit, einmal ein Lump zu sein.
Ich werde wach, als einige Gäste geweckt werden. Es ist noch früh, erst sechs Uhr. Sie stehen in Arbeit. Mir fällt ein, dass ich noch keinen „Plan" fertig habe. Heute ist der Tag, an dem ich mich stellen soll.
Ich sehe keinen Ausweg und habe auch keinen Willen, keine Kraft, irgendeinen Entschluss zu fassen.
Ich denke an meinen Bruder. Er ist früh ausgewandert, ist in Südamerika. Ich habe keine Nachricht von ihm. Und mit den
Gedanken an meinen Bruder kommen die Gedanken an Kindheit und Jugend, an Vater und Mutter.
Mein Vater ging jeden Morgen fort, mit Schaufel, Steinhammer und dem Stahlbesen auf dem Schiebekarren. Um sieben schob er los, jeden Tag, von April bis Oktober. Im Winter, solange es hell war. Selbst in der größten Kälte war er unterwegs, auch wenn er infolge des Frostes nicht auf der Straße arbeiten konnte. Dann besserte er die Drahtschutzgitter an den Bäumen aus, damit hungrige Hasen nicht die Rinde abnagen konnten. Oft gingen wir ein Stück des Weges mit. Oft habe ich ihm Mittagessen nachgetragen, wenn es nicht allzu weit war. Aber sehr oft hatte er über zwei Stunden zu fahren. Er hatte eine Landstraßenstrecke von über fünf Stunden instand zu halten.
Dort saß er an der Kante des Straßengrabens und schlug die harten Steine klein, um mit ihnen die Löcher auszubessern. Wenn er die eine Seite — unser Häuschen lag in der Mitte — durchgearbeitet hatte, hätte er schon wieder von vorn beginnen können. Aber die andere Seite war auch schon wieder voll Löcher. So durften ihn auch Regentage nicht zurückhalten. Ob ihm das Wasser bis auf die Haut drang oder kalter Wind ihn schüttelte oder ob die Sonne brannte, dass die Hitze von der Erde zurücksprang und über den Staubwolken der Autos flackerte: es war keine Zeit übrig, auszuruhen oder Schutz im Schatten zu suchen. Der Posten als königlicher Straßenwärter war berechnet für Mann und Frau — und meine Mutter war schon Jahre hindurch krank.
Was muss ein Mann ertragen haben, dass ihn selbst der Tod der Frau nicht mehr sonderlich berührte! Er stand am Grabe, wie immer hochaufgerichtet; sein graumelierter Bart schien vom Straßenstaub gefärbt. Seine grauen Augen bewegten sich so ruhig, so sicher hin und her, wie der Zeiger einer Wetterwarte. Als wir zurückgekehrt waren und zum ersten Male allein saßen, strich er uns weinenden Knaben stumm über den Scheitel, als wollte er sagen: es geht nicht anders, Jungens, lasst der armen Mutter ihre Ruhe. Er wusste, dass sie sterben musste, weil sie die Schwindsucht hatte. Aber er konnte und wollte uns das nicht vorher sagen; denn ich war erst zehn, mein Bruder zwölf Jahre alt. Zwei jüngere Schwestern — ein Zwillingspaar — waren schon einige Jahre vorher, bald nach der Geburt gestorben.
Er wollte uns auch nicht sagen, warum er morgens immer so stöhnte, wenn er sich unbeobachtet wähnte; warum er sich beim Aufstehen immer mit beiden Händen um die Hüfte greifen musste, um seinen großen Körper aufzurichten. Bis alles Stöhnen nichts mehr half, bis er liegen bleiben musste, gerade als mein Bruder die Schule verließ. Der kalte Wind, die kalten Steine, der durch Zug zurückgeschlagene Schweiß griffen ihm an die Nieren. Die Karre wurde ihm zu schwer, der Weg zu lang, die Schmerzen zu groß. Die Pension war zu knapp, um leben zu können. Da gab mein Vater die Einwilligung, dass sein Bruder, der nach Amerika ausgewandert war, meinen ältesten Bruder zu sich nahm. Er reiste nach „drüben", zusammen mit Auswanderern aus den nahen Dörfern, und hat seinen Vater und mich nie wieder gesehen.
Er hat nicht mehr gesehen, wie ich dann unser Wägelchen wieder hervorholte, unseren „Bleß" ziehen lehrte und den „Brothandel" wieder aufnahm, den Mutter „begründet" hatte. Die Bauern in den nahen Dörfern aßen auch gern einmal Weißbrot; aber ein Bäcker hatte nicht genügend Kundschaft. Bekannte, regelmäßig verkehrende Fuhrwerke brachten die Brote von der Stadt mit. Mein Vater machte morgens, während ich in der Schule war, den Wagen zurecht, und am Nachmittag fuhr ich die Kundschaft ab.
Es war nicht viel, was da an „Reingewinn" übrig blieb, aber, wenn uns das Wetter keinen Strich durch die Rechnung machte, einige Mark die Woche. Und daneben gelegentlich noch ein Stück Speck, ein paar Eier für den kranken Vater. Für den Bleß öfter ein Gericht Knochen oder den Rest eines Mittagessens. Bleß kannte auch seine Kundschaft und ging nicht früher, bis auch er bedient war. Das wussten die Pfarrersköchin, die Bürgermeistersfrau, die Tochter der Wirtin ganz genau. Sie wussten auch, dass man den „Brothans" nicht vergessen darf, wenn Schlachtfest war, und dass er in diesem Fall kommen wird, trotz des denkbar schlechtesten Wetters.
Wenn ich Bleß auf dem Berg ausspannte, der sich vor unserem Häuschen erhob, lief er, laut bellend, voraus, auf meinen wartenden Vater zu, der sich fest auf seinen Stock stützen musste, wenn er nicht umgeworfen werden wollte. — Es wurde schon immer schlimmer mit ihm.
So schlimm, dass der Arzt darauf drang, dass er ins Krankenhaus überführt wurde, weil für sein schweres Nieren- und Blasenleiden sachgemäße Pflege und Behandlung notwendig wurde.
Das war nicht weit; eine halbe Stunde nur, aber nun erst begriff ich langsam das Furchtbare meines Schicksals. Niemand konnte mehr das Brot einpacken, die Ziegen, die Gänse und Hühner besorgen, während ich in der Schule war. Die kleine Wohnung war kalt und leer, und Bleß schaute verständnislos drein, als das Wägelchen wieder im Schuppen verschwand. Ich kam in einigen Monaten aus der Schule, bis dahin blieb alles beim alten.
Aber mein Vater rechnete selbst nicht mehr mit einer Besserung, und im Falle seines Todes verfiel die Wohnung dem Staat für den kommenden königlichen Straßenwärter, der bis dahin in Aushilfsstellung war. So wurden die Hühner, die Gänse, die Ziegen verkauft. Den Hausrat holte ein Onkel, der im nahen Städtchen wohnte. Ich kam in die Lehre. — Als der neue königliche Straßenwärter schon eingezogen war, kam öfter ein großer schwarzer, zottiger Hund über die Felder gejagt, pflanzte sich vor dem Häuschen auf und bellte, dass es in allen Wäldern widerhallte. Das war Bleß; er suchte mich. Er konnte sich an seine neue Heimat nicht gewöhnen.
Ich hatte meine Mutter langsam sterben, besser gesagt, absterben sehen und wusste auch, dass die immer durchsichtiger werdende Blässe meines Vaters das Zeichen des nahen Todes war. Sein Bart war fast weiß geworden. Seine Finger wurden immer länger und lagen auf der weißen Decke wie leblos. Einige hundert Mark hatte er aus dem Erlös unseres Hausrats noch gerettet für mich; das bekam mein Lehrmeister dafür, dass er mich von morgens sechs bis abends neun Uhr schwer arbeiten ließ.
Ich habe es ertragen, habe gelernt, dieses Leben ohne Klagen auf mich zu nehmen, wenn es nicht anders sein kann; ich habe es früh, vielleicht zu früh von meinem Vater gelernt. Ich klagte nicht, so wenig wie mein Vater über seine Last klagte. Ich sagte ihm stets, dass es mir gefiel.
„Bleibe gesund, halt die Augen offen, Hans 1" Er war an diesem Tage schon sehr schwach. Als ich wiederkam, war er tot.
Das ist nun dreizehn Jahre her. Was dann kam, war der Kampf gegen die Widerwärtigkeiten des proletarischen Lebens. Ich habe schwer gekämpft. Ich bin auch dem Schicksal meiner Eltern, an einer einsamen Ecke an der Landstraße langsam hinsterben zu müssen, entronnen, aber nicht dem Schicksal, in Obdachlosenasylen mit anderen Schicksalsgenossen wie Vieh zusammengetrieben zu werden. Ich bin nicht dem Schicksal entronnen, in Frost und Schnee heimatlos durch das Vaterland zu wandern, wenn jede Katze, jeder Hund seine warme Ecke, seinen Napf voll Fressen hat. Ich bin nicht dem Schicksal entronnen, im Arbeitshaus dafür zu büßen, dass ich „rückfällig" wurde, weil ein Vagabund seinen Hunger nicht stillen kann mit einer „Verwarnung". Ich bin nicht dem Schicksal entronnen, gebrandmarkt zu werden, weil ich mit Gleichgesinnten dafür kämpfte, dass die Rechtlosen dieser Erde am Ersten Mai ihre Stimme zu einem Schrei über die ganze Erde vereinigen; musste öfter als einmal Freunde und Genossen verlassen, wenn der Fluch der schwarzen Liste mich traf.
Ich sah in dem Zusammenschluss der Rechtlosen den großen Versuch, die Ohnmacht des geknechteten Individuums zu durchbrechen, das nichts zu verlieren hat als den Fluch seiner Ketten, die man verlogenerweise „Recht" nennt. Ich glaubte, dass dieser Zusammenschluß der unterdrückten Proletarier stark genug sei, den Panzer des Chauvinismus zu durchlöchern, der die Menschheit in den Abgrund reißt. — Ich habe mich geirrt! Die Sozialdemokratie und ihre Organisationen waren noch keine Gemeinschaft, die diesem Anprall standhielten. Der erste Stoß schon riss den trügerischen Schleier fort.
Hans Betzoldt, der du immer noch träumst von Vater und Mutter: lass diese Träumereien. Du siehst die Sonne am Waldabhang spielen, siehst die Ziegen im Straßengraben fressen, siehst die Gänse an der Brücke unter den Erlen schwimmen, die Hühner im Kornfeld — jetzt musst du sehen, wie du dich weiter durchschlägst, ohne dass es dich Kopf und Kragen kostet. Das ist das Wichtigste.
... Ich sehe mich um. Es wurde schon zweimal geweckt. Ich bin einer der letzten im Saal.

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