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Adam Scharrer - Vaterlandslose Gesellen (1930)
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XI.

Die sengende Sonne treibt bereits das Korn zur Reife, als wir bei Neidenburg an der Ostfront landen. Die Eisenbahnen rollen schwer beladen heran. Alle Straßen sind voll marschierender Truppen. Wir marschieren zwei Tage durch armselige Dörfer und durchweg sandiges Gelände. Die Russen liegen auf einer Höhe, festungsartig verschanzt. Weit hinten sieht man die Türme der Stadt Prasznysz.
Vierhundert Meter vor der Stellung heben wir in der Nacht — bei dauerndem Regen — einen Sturmgraben aus. Anderntags ist Appell mit „eisernen Portionen". Hauptmann Klein hält eine Ansprache:
„Wir werden diese Nacht nach vorn rücken. Bis morgen früh um drei Uhr wird die Artillerie die russische Stellung sturmreif machen, und wir stürmen dann um acht Uhr. Erst gehen alle Leute des Drahtscherenkommandos heraus, eilen so schnell sie laufen können vor und zerschneiden die russischen Drahthindernisse. Die Verfolgung der Russen beginnt sofort. Wir schanzen uns hinter dem zerschossenen Dorf Olschewice ein. Generalfeldmarschall Hindenburg ist eingetroffen und wird dem Angriff auf der ganzen Linie beiwohnen."
Das Sturmgepäck wird zurechtgemacht. Der Regen setzt stärker ein und hält an. Wir marschieren schweigend nach vorn. Die Tornister werden in der ersten Stellung zusammengelegt, und mit Sturmgepäck geht es in den Sturmgraben.
Unsere Kompanie kommt rechts vor die hohe festungsartige russische Stellung zu liegen. Durch den dauernden Regen steht in diesem Graben schon Wasser. Es vergeht Stunde auf Stunde. Da unser Hauptmann wegen seines Drills ziemlich verhasst ist, wurde er bereits vor einigen Wochen durch einen anonymen Brief davon in Kenntnis gesetzt, dass er bei dem nächsten Gefecht eine Kugel erhalten würde. Das können nur die sein — mag er denken —, die schon vom Ersatzbataillon her angekreidet sind. Man darf nicht unklug sein. So bestimmt er, dass ich und ein Danziger Hafenarbeiter bei den Tornistern Wache halten.
Pünktlich um drei Uhr morgens setzt verstärktes Artilleriefeuer ein. Der Erdboden dröhnt. Ein wahnsinniger Tumult entsteht: das Rattern der Maschinengewehre, das Wüten der Artillerie, Minen und Mörser vereinigt sich zu einem Höllenkonzert. Minen, Geschosse allen Kalibers, auch 21,5 -Mörser verwandeln die russischen Stellungen in einen Vulkan. Die Pfähle der Drahtverhaue fliegen wie Streichhölzer in die Luft. Um acht Uhr kommt der Befehl: „Die Artillerie funkt noch eine Stunde. Pünktlich um neun Uhr erfolgt der Angriff."
Drei Stunden später ist der Angriff „geglückt". Die Russen sind aus ihren Stellungen geworfen und ziehen sich zurück. Die Sturmlinie kommt in die Reserve und andere Truppen rücken vor.
Man kann nun das Schlachtfeld übersehen. Überall stehen große Trupps russischer Gefangener, überall Tote, Verwundete, Sterbende. Einem Russen ist der Kopf aufgerissen, das Gehirn tritt heraus. Unsere Kompanie hat zweiundvierzig Tote, vierundsechzig Verwundete. Nachmittags gegen vier Uhr ist das Schlachtfeld von den Verwundeten geräumt. Vierhundert Meter vor Prasznysz schanzen wir uns wieder ein und bleiben die Nacht. Ein Friedhof wird angelegt, die Toten verscharrt.
Wir marschieren durch die Stadt, dann auf der Chaussee weiter, vom Regen total durchnässt, und bleiben auf einer Wiese liegen. Dort erreicht uns der Befehl: „Anzug in Ordnung bringen, antreten!" Rote Streifen tauchen auf. Hindenburg erscheint und spricht: „Habe von der Höhe 142 den Angriff mit angesehen." Er spricht allen die größte Anerkennung aus. „Hoffen wir, dass die Verwundeten bald mit neuer Frische wieder zurückkehren können." Es gibt Beförderungen, Auszeichnungen. Für die Toten den Dank des Vaterlandes. Wir erhalten einen neuen Hauptmann mit Monokel.
Ich sehe in die aufsteigenden Rauchwolken. Die Russen setzten auf ihrem Rückzug ganze Ortschaften in Brand.
Zwei Tage später ist schon wieder dicke Luft. Vor uns liegt die Stadt Makow, sie ist noch von Russen besetzt. Wir merken es, als wir erst Schrapnell- und dann mörderisches Gewehrfeuer erhalten. Mein Nebenmann, Wendt, erhält einen Schuss ins Sturmgepäck, die Kugel bleibt in der Fleischbüchse stecken. Er wird blass, sein Mund verzieht sich für einen Augenblick zu einem unnatürlichen Lachen. Neben uns schreit einer herzzerreißend und hält sich die Hände vor den Bauch. Er hat einen Hodenschuss.
Wir lösen uns in Schützenlinie auf, gehen geduckt durch ein großes Getreidefeld. Als die ersten das Feld verlassen, pfeifen uns die Kugeln um die Ohren. Wir gehen schleunigst zurück, doch es nützt nichts mehr. Die Russen nehmen das Feld unter Maschinengewehrfeuer. Die Halme knicken wie vom dichten Hagel. Keiner kann weiter sehen als höchstens bis zu seinem Nebenmann. Die Verwundeten, die nicht mehr schreien können, können schlecht gefunden werden. Man muss ihr Gewehr mit dem Kolben nach oben in die Erde stecken, um die Sanitäter wissen zu lassen, wo sie liegen. Die vorgeschobenen Linien der Russen scheinen in guter Deckung.
----------Bum! bum! — Bum! bum! — Bum! —
Unsere Artillerie ist aufgefahren und nimmt die Stadt unter Feuer. Die Granaten platzen über den Häusern, immer zahlreicher und dichter. Dazwischen die Einschläge der schweren Haubitzen. Durch die Brennzünder werden die Bewohner in Deckung, in die Häuser gejagt. Die Aufschläge in und vor den Häusern legen alles in Trümmer.
------Bräh! — bam! — bam! — bam! —
Die russischen Schrapnells speien ihre Bleiladung vor uns auf die Wiese. Die nächste Salve kommt schon näher. Bam! bam bam! bam! — Wir sehen einander nicht, aber wir hören Schreie. Die Bleikugeln rasseln in den Halmen wie Ratten im Stroh.
Bam! bam! bam! bam! Wir stecken den Kopf in den Dreck. Man sucht immer erst den Kopf zu schützen, wühlt sich mit Ellenbogen und Armen ein.
Bam! bam!
Zurück !
Sie scheinen gute Beobachter zu haben. Ihre Kanonen stehen auf der Höhe hinter der Stadt.
Das Kornfeld, in dem wir liegen, fällt nach rückwärts steil ab und grenzt an einen Hohlweg. „Hier sitzen wir gut", sagt Wendt.
Ich möchte wissen, was er denkt, und sage: „Sie scheinen schön dazwischengepfeffert zu haben." Er sieht vorsichtig um sich und sagt dann: „Der Teufel soll die russische Artillerie holen. Die schießen wie nach der Schnur."
Das Gewehr- und Maschinengewehrfeuer der Russen lässt nach einer Weile nach, die letzte Salve Schrapnellbrennzünder liegt schon Minuten zurück. Unsere Artillerie schießt immer noch, ununterbrochen, mit Haubitzen und Feldkanonen. Rauchschwaden treiben hoch, Flammen lodern auf. — Die Stadt brennt.
„Hans!"
„Was denn?"
„Wir bleiben zusammen!"
Die Verwundeten stöhnen und wimmern. Sanitäter suchen bereits das Kornfeld ab. Einige Kolben stehen noch; man sieht, wie sie verschwinden. Die Stadt brennt lichterloh. Wir wissen, bald geht das Laufen los. Die Zugführer warten nur noch auf den Befehl.
----------„Sprung auf, marsch, marsch!"
Sie stürzen aus den Ähren und stürmen vorwärts. Wendt läuft immer langsamer, und ich bleibe bei ihm. Vor einer alten Weide an einem sumpfigen Graben bleiben wir liegen.
„Das Ekelhafteste ist die Schießerei in den Straßen", sagt Wendt. „Und der größte Blödsinn obendrein. Die Russen bleiben sowieso nicht in dem Nest, aber wir müssen ja immer stürmen, stürmen um jeden Preis!"
Die ersten haben das Dorf erreicht. Das Knattern der Gewehre wird hörbar. Neben uns wälzt sich die Artillerie vor, die Räder sinken ein, als seien es Pflugscharen. Sechzehn Pferde schleppen dampfend eine Kanone durch den Morast.
In der Dunkelheit tappen wir weiter. Die ersten Straßen sind „gesäubert". Die Bevölkerung gießt rastlos mit Eimern und Töpfen Wasser in die Flammen der brennenden Häuser. Auf dem Markt schlägt eine Granate der Russen ein, sie scheinen noch einmal abgeprotzt zu haben. Eine Frau fliegt an die Mauer, fällt um und ist tot.
Wir erreichen eine Kellertür, die nur angelehnt ist. Zwei junge Mädchen starren uns entsetzt an. Dann tauchen ein alter Mann und eine Frau auf; offenbar ihre Eltern, sie saßen im Dunkeln in der Ecke. Wir geben ihnen zu verstehen, dass ihnen nichts passiert und bitten um Wasser und etwas zu essen.
Die Nacht bricht an. Der Lärm lässt nach. Die Unseren scheinen das Schloss auf der Höhe schon besetzt zu haben. Die Russen schießen nicht mehr. — Wir fragen auch nicht mehr danach, fallen beinahe um vor Müdigkeit.
Man führt uns die Treppe empor in eine „gute" Stube. An der Wand hängen Bilder der jüdischen Zionisten, unter ihnen das Bild von Oskar Kohn. Daneben das Bild von Karl Marx. Wir zeigen auf die Bilder, wollen fragen, ob wir bei Genossen sind. Sie scheinen nicht ganz zu verstehen. „Ein großer Mann!" sagt die alte Mutter und deutet auf das Bild von Karl Marx. Wir bestätigen lebhaft, und sie verstehen, wer wir sind.
Der Eierkuchen und der Tee halten uns noch mühsam wach. Als wir gegessen haben, übermannt uns der Schlaf. Die alte Mutter deckt die Betten ab. Wir wehren ab. Sie ist fast beleidigt, bis wir sie überzeugen, dass wir voller Läuse sind. Dann willigt sie ein, dass wir uns auf dem Teppich ausstrecken. Sie bringt uns trotzdem Kissen und Decken. Der Alte und seine Töchter kommen noch und wünschen uns gute Nacht. Die Mutter deckt uns zu.
Wir fragen nicht mehr, wo die Kompanie ist. Wir sind „abgekommen".
Mitten im tiefsten Schlaf reißt mich August hoch. „Komm 1" sagt er. „Wir müssen sehen, was los ist."
Unsere Gastgeber stehen mit verzweifelten Gesichtern vor uns. Die Russen haben noch einmal versucht, ihre Brandgranaten anzubringen. Die Stadt brennt lichterloh.
Wir finden die Kompanie in. der alten Russenkaserne. Aber noch viele fehlen. Die Zugführer werden nervös. Der Hauptmann ist bleich vor Zorn. „Räuberbande!" sagt er.
Einer nach dem andern von der „Räuberbande" kommt an.
Sie muss „räubern". Der Räuberhauptmann und seine Offiziere „requirieren" selbstverständlich die besten Brocken. Außerdem steht ihnen der ganze Vorrat der Küche zur Verfügung, dazu dem Hauptmann achthundert Mark monatlich. Den Leutnants „nur" sechshundert Mark.
Unsere Verpflegung ist schwarzer Kaffee. Kein Brot kommt, noch nicht einmal Salz ist da. Wir fressen Kartoffelbrei ohne Salz und Fett. Wer nicht zusieht wo er bleibt, verhungert.
Der Hauptmann weiß das. Er weiß auch, dass er im Grunde genommen ziemlich ohnmächtig ist. Der Befehl an die Zugführer, unerbittlich „durchzugreifen", schafft kein Brot, und der Mensch lebt nicht von Brot allein.
Das brennende Rathaus erhellt die Nacht. Die zurückgebliebene Zivilbevölkerung schaut erschreckt hinter den Häusern hervor. Ein Meldereiter von der den Frontabteilungen zugeteilten Patrouille schwarzer Husaren sprengt heran und bringt eine Meldung: „Die Russen sind auf der ganzen Linie auf der Flucht."
„Wegtreten!"
Vor dem „Warenhaus" ist eine Wache postiert; es ist vom Brand verschont geblieben. Polnische Bauern und Handwerker mit ihren Kindern stehen weinend vor ihren Häusern, die jetzt ein Haufen rauchender Trümmer sind. Hunde heulen auf, wildgewordene Pferde, die sich in Todesangst losgerissen haben, jagen durch die Nacht, Es stinkt nach verbranntem Fleisch von Vieh und Menschen.
Die Offiziere begeben sich in ihre Quartiere, oben in das Schloss der Gutsherren. Wir marschieren mit hungrigem Magen und ermüdeten Knochen an dem „Warenhaus" vorbei.
Ein gemeinsamer Gedanke beherrscht alle: Dort drinnen ist vielleicht etwas zu essen!
Das Warenhaus steht und lockt. Einer geht wie in Gedanken zurück, ein anderer folgt, ein dritter sieht nach, ein vierter spricht davon. Wie die Wölfe ziehen sie sich zusammen, die Wache sieht sie kommen. Der eine Posten grinst und geht rechts um die Ecke, der andere lässt sich „überrumpeln".
Fächer werden aufgerissen, Schränke umgestülpt, Behälter erbrochen.
„Sie sind drin!" Wie ein Lauffeuer springt es durch die Zurückgebliebenen. Das Warenhaus ist voll von plündernden Feldgrauen.
„Los, Hans!" meint Wendt und greift sich einen Sandsack.
Der ganze Fußboden ist mit Waren bedeckt: Spielwaren, Kleidungsstücke, Papier, Flaschen, Haushaltungsgegenstände. Wir steigen darüber hinweg, nach den Schubfächern in den Regalen. Ich suche krampfhaft nach etwas Brauchbarem, habe aber keine Leiter und kann vom Ladentisch aus nur eine Regalreihe mühsam erreichen; die unteren sind schon alle leer. In einem finde ich Gummilutscher für Säuglinge. Dann kommt mir eine Flasche in die Hände, die aber fest verkorkt ist. Ich schlage den Hals an die Kante der Schublade. Sie zerbricht so unglücklich, dass ich mir den ganzen Inhalt über die Hose schütte. Dem Geruch nach zu urteilen ist es Maggi oder Tomatensoße.
„Raus!"
Ein Wachkommando kommt mit aufgepflanztem Bajonett. Sie kommen durch den Vordereingang, und die Plünderer gehen nach hinten durch und verschwinden.
Wir treten mittags an und marschieren weiter. Wir hätten unsern Gastgebern, die wir in der Nacht verließen, gern die Hand gedrückt, hatten aber das Haus nicht wieder finden können. Als wir hinausmarschieren, steht hinter denen, die mit verschlossenen und verbitterten Gesichtern den „Feinden" nachschauen, die alte Mutter, die uns zudeckte. Sie lacht nicht und winkt nicht, so wie wir. Wir sehen nur die Qual in ihrem Gesicht. Ich stoße August an, er sieht mich an und folgt meinem Blick. Unsere Augen begegnen sich zum Abschied. Wir liegen am Abend in einem verlassenen Dorf und schlafen den bleischweren Schlaf der Infanterie auf dem Marsch.
Ungewaschen tritt die Kompanie an, es ist keine Zeit, lange nach Wasser zu suchen. Der Dreck wird auf dem Marsch von rinnendem Schweiß abgespült. Die Wäsche klebt am Körper, und die Läuse beißen zum Verrecken. Wir marschieren durch ein noch brennendes Dorf. Einzelne Häuser sind stehen geblieben, aber die Bevölkerung scheint ebenfalls geflohen zu sein. Ungemolkenes Vieh brüllt in einigen Ställen. Rechts von der Wiese her schaut eine Kuh zu uns herüber, dahinter ein Kalb. Nach einigen Zurufen wendet sie sich kurz um und läuft wild davon, das Kalb hinterher. Aus einem Ziehbrunnen dürfen wir unsern brennenden Durst stillen. Infanterist Hagedorn trinkt zu hastig, fällt um und ist tot. Befehl: „Nicht mehr als ein Trinkbecher pro Mann." In einem Hof stehen zwei Wagen mit Korn beladen, einige Hühner picken nach den Ähren. Die Haustür ist offen. Es war anscheinend keine Zeit mehr, Haus und Wagen und Korn in Brand zu setzen.
Wir marschieren in der sengenden Hitze und im strömenden Regen Tag für Tag. Wir marschieren vorbei an toten Menschen und Pferden, an niedergebrannten Dörfern, gesprengten Brücken und Bahnen, zerstörten Straßen. Wir marschieren vorbei an versunkenen Wagen und Kanonen, durch reifes Korn, über Stoppelfeld, durch Dreck und Schlamm. Wir marschieren, marschieren ins Endlose, Tage, Wochen, Monate. Der Schweiß rinnt uns an der Haut herunter und der Regen an den Kleidern.
Wir machen Quartier in russischen Dörfern, soweit sie das Feuer nicht gefressen hat. Unter den Dielen haben die fliehenden Bewohner ihre Habseligkeiten vergraben, darum reißen wir immer erst die Dielen auf. Wir finden Fett, wir finden Mehl vergraben, aber wir finden kein Brot. Es ist keine Zeit, Brot zu backen. Wir finden in einem Stall ein Schwein, es ist — heilige Einfalt! — mit Stroh zugedeckt. Es wird geschlachtet und das fette Schweinefleisch ohne Brot gegessen. Der Magen rebelliert. Der Durchfall packt uns. Der Körper lässt sich nicht vergewaltigen. Die meisten bekommen eiternde Hautausschläge. In die Wunden vergraben sich die Läuse.
Wir marschieren den fliehenden Russen nach. — „Tak, tak, tak, tak — tak!" Wir werfen uns hin, zu spät. Ihre Nachhut ist nicht weit vor uns und kennt das Gelände. Öfter als einmal rafft ein Feuerüberfall den einen und anderen hin.
Sie haben flinke Pferde.
Wir marschieren und können nicht so rasch marschieren, wie die vor uns. Wir sind ihnen dicht auf den Fersen. Sie wissen, wo wir abends liegen, unsere Posten sehen die ihren. Die Nacht sinkt herein, wir sind abgeschnitten von Heimat und Genossen. Keine Post folgt. Todmüde strecken wir unsere müden Knochen ins feuchte Gras. Alles ist still. Nur eine Ziehharmonika schluchzt von der „feindlichen" Front herüber.
Wir marschieren durch ein großes Dorf, in dem ein religiöses Fest gefeiert wird. Ein Umzug findet statt. Vorn gehen Esel mit Papierschmuck behängt. Die Leute scheinen nichts vom Krieg zu wissen. Wir marschieren durch Flüsse und Sümpfe feldmarschmäßig, wie wir sind, weiter, immer weiter, ins Nichts. Unsere Reihen sind gelichtet. Wir warten jeden Tag auf Ruhe, Ruhe. Ich schleppe meine Füße apathisch nach. Sie sind stark geschwollen, obwohl ich sie immer in frisches Stroh bette.
Wir marschieren zurück, sind Divisionsreserve, vorbei an dem Stab mit Pfaffen und Kriegsberichterstattern. Sie essen Weißbrot und trinken Kaffee aus sauberen Tassen, die Regimentskapelle spielt ihnen schneidige Märsche vor.
Uns fallen die Brocken vom Leib, in die zerrissenen Schuhe dringt Sand und Wasser. Unsere Verluste sind drei Mann, zehn Mann, dreißig Mann täglich. Unzählbar! Auch unser Hauptmann spricht darüber. „Die Kerls können doch nicht ewig leben!" Ich notiere diesen Tag, es ist der 21. Juli 1915.
Wir marschieren feldmarschmäßig durch den Narew. Der Himmel ist rot vom Feuerschein der brennenden Dörfer und Getreidefelder. Kowno und Grodno sind gefallen, wir haben die Bahnstrecke Ostrolenko—Warschau erreicht. Es regnet. Die Zeltbahnen sind undicht. Abends holen wir Stroh zum Schlafen und werden notiert. Das Stroh ist für die Herren Offiziere bestimmt. Ich baue mit Wendt am Abend — fast jeden Abend — Latrinen. Wir sind bekannt als Aufsässige.
Oder Strafwache. Die gefallenen Russen schauen in den Mond, silbern glänzt ihr totes Gesicht. Ein Buch liegt neben einem, mit Bildern von Tolstoi, Gorki, Zola, Heine, Dostojewski, eine Photographie von Frau und Kind ist darin. — Unsere Artillerie beschießt die Festung Ostrolenko. Tag und Nacht brüllen die Kanonen. Unser Zugführer — ein Kriegsfreiwilliger Schwede — ist verrückt geworden.
Wir murren über das schlechte „Essen", Dörrgemüse in Wasser gekocht, hart — aber wir meutern nicht, finden sogar noch Objekte für unsern Humor. Kamerad Steffens trägt eine bunte Mütze, die er irgendwo requiriert hat, der Herr Hauptmann sprengt heran und schlägt ihm vom Pferd aus mit der Reitpeitsche über das Gesicht. Lässt dann die Kompanie antreten und verliest den Armeebefehl der Armee Gallwitz: „Es steht Großes auf dem Spiel, es muss schneller vorwärts gehen!"
Immer weiter der Todesmarsch. Eine Patrouille der schwarzen Husaren liegt mit ihren Pferden am Wege. Ein Rudel Vieh kommt brüllend aus dem Wald. In einem Tal grast eine Herde Schafe, die vom Stab beschlagnahmt ist. An einer russischen Stellung finden wir einen Sack Brotreste. Wie Tiere schlagen wir uns darum. Russisches Gewehrfeuer bringt uns zur Besinnung. Ein Kamerad wird getroffen, stöhnt wie ein Kind, bettelt, ihm zu helfen. Wir bringen ihn nach hinten, durch den Kugelregen hindurch, geben ihm unsern letzten Kaffee. Es ist schon gleich, wie man verreckt.
Wir kehren zurück und schlafen die dritte Nacht nicht, liegen zwischen Gräbern und Grabsteinen auf dem Friedhof Stowo Krasowoniak, sehen durch das brennende Dorf, hören das Krachen der einstürzenden Häuser und vom Pfarrhause die langgezogenen Melodien eines Harmoniums. Liegen dann am Abend wie die Toten in Reserve.
Aber es ist keine Ruhe. Wir haben die Eisenbahn Brest-Litowsk—Petersburg erreicht. Vor uns liegt Nowo-Beresowo. Einige werden beauftragt, Mehl einzukaufen, doch der Stab hat alles beschlagnahmt. Auf einer Wiese liegen dreihundert Stück Rindvieh, vergiftet. Befehl: „Niemand darf Wasser trinken, Choleragefahr!" Wir marschieren weiter, immer weiter. Statt Brot gibt es Eiserne Kreuze. Bis wir hinter Nowogrodek auf einem Gut liegen bleiben.
Am 27. September treten wir feldmarschmäßig an und vernehmen von unserm Hauptmann: „... Wir haben Großes geleistet. — Nur möglich durch eiserne Disziplin und Manneszucht. — Kein Opfer darf zu groß sein zur Verteidigung des Vaterlandes, der Heimat. — Jeder einzelne muss seine Pflicht tun. — Der Feind ist noch nicht vollständig niedergeworfen.
— An anderen Fronten wird noch schwer gekämpft. — Armeekorps wird abgelöst werden. — Hoffe, dass ihr weiteren Ruhm an die deutsche Fahne heften werdet. — Stillgestanden!"
Der Herr Hauptmann steigt vom Pferd und sieht durch die Front.
„Zum Heulen! — Rrrrricht euch!"
Der Herr Hauptmann besteigt sein Pferd wieder. „Kehrt!
— Kehrt! — Kehrt! — Kehrt! — Kehrt! — Kehrt!"
Als wir uns ein dutzendmal um unsere eigene Achse gedreht, wird ihm das Kommando zu lang. Er deutet nur noch an: „KÄ...! — KÄ. . .! — KÄ...!"
Als die Bewegungen immer langsamer werden — nicht nur durch die physische Anstrengung, es hat alles seine Grenze, und der Hauptmann weiß das sehr wohl — mustert er hoch zu Ross den Rest der schwitzenden „Frontochsen". Er sitzt schneidig auf seinem Gaul, ist glatt rasiert, gut genährt; seine gut sitzende Uniform ist prima. Seine Orden glänzen in der Sonne.
Am 28. September trete ich nicht mehr zum Appell mit an. Ich bin krank. Hinter der Scheune spreche ich mit August. „Wann gehst du ins Revier?" fragt August.
„Gleich nachher!"
„Werd dich schon noch mal sehen. Morgen werden sie uns ja wohl noch nicht verladen?"
„Wer weiß?"
„Ja, wissen kann man gar nichts!"
„Na, wenn schon! Leb wohl, August!"
Ich reiche ihm die Hand hin.
Er schaut an mir hoch, nimmt die Pfeife aus dem Mund, wischt sich, als wollte er etwas essen, die Rechte erst am Hintersten ab und reicht mir sie wortlos und zögernd, als wäre er gar nicht darauf gefasst, dass wir voneinander gehen.
„Leb wohl, Hans!"
Als ich zum Hof hinaus bin und noch einmal zu ihm hinübersehe, sitzt August Wendt wieder auf der Bank. Sein Gesicht liegt in seinen hohlen Händen, die er auf die Knie stützt. Seine Mütze liegt ihm vor den Füßen.
Ich kann mit gutem Gewissen zum Arzt gehen. Meine Füße sind angeschwollen wie die eines Wassersüchtigen. Ich bekomme Bettruhe und Überweisung ins Lazarett. „Wenn du Schwein hast, ist die Scheiße für dich zu Ende", meint der Sanitäter.
August besucht mich. „Hans", sagt er, „hoffentlich hast du Glück, grüß die Heimat, grüß die Genossen. — Wir kommen nach Frankreich."
Ich rufe den Sanitäter. Drei von den Unseren auf einem Haufen, immerhin ein Ereignis. Der Arzt ist fort, wir haben Zeit. Paul — so heißt der Sanitäter — kramt etwas Tee aus und eine eiserne Ration Zwieback.
„Man wird zuletzt doch zum Lumpen", fährt August fort und sieht über die Kranken hin. Sie liegen hier wie Aussätzige in primitiv zusammengehauenen „Betten" in der elenden Baracke, in der es aufreizend nach Lysol und Urin stinkt.
Pauls schwarze Haare fallen ihm lang über sein melancholisches Gesicht; er wird an seine Frau und sein kleines Mädchen denken. „Weißt du etwas Bestimmtes?" fragt er.
„Ich weiß es, wir kommen nach Frankreich."
Die ersten Blätter fallen schon, als ich über unser „erobertes" Gebiet zurückfahre, vorbei an den Massengräbern und toten Pferden, über deren aufgetriebenen Leibern die Schmeißfliegen zu Millionen hocken.
Die andern sind schon im Westen. Sie fuhren beide durch Berlin, vorbei an Frau und Kind, hinein in das Feuer der französischen Granaten.

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