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Adam Scharrer - Vaterlandslose Gesellen (1930)
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XX.

In einer Laube, weit draußen über Uhlenhorst hin, versammeln sich am Abend vor meiner Abreise so an dreißig Männer, Frauen, auch Jugend. In Soldatenzeug und in Zivil kommen sie, mit ernsten Gesichtern, einer mit einem Holzfuß, einem andern hängt der Ärmel über den Armstummel. Zur Straße hin ist die Laube mit Posten gedeckt, von hundert Metern zu hundert Metern.
Ein Genosse der „Arbeitsgemeinschaft" spricht.
„Genossen!" sagt er, „jetzt müssen wir einig sein. Jetzt müssen wir alle Gegensätze zurückstellen und für den Frieden kämpfen. Wir haben jetzt eine gute Position. Die deutschen Grenzen sind frei vom Feinde, deshalb haben unsere Genossen auch im vorigen Jahr die Kriegskredite verweigert. Jetzt darf die Opposition nicht zersplittert werden, dann werden wir die Massen auf unsere Seite bringen und die Scheidemänner entlarven. Die Arbeitsgemeinschaft ist willens, euch die Hand zu reichen."
Er spricht feurig, hinreißend. Auf einige Zurufe: „Liebknecht! Luxemburg! Warum habt ihr nicht früher Schluss gemacht!" fährt der Redner fort: „Jetzt müssen wir die Vergangenheit begraben, jetzt muss gehandelt werden. Wir dürfen jetzt nur ein Ziel kennen: die schleunigste Herbeiführung des Friedens! Wer sich dem entgegenstellt, ist ein Schädling am Proletariat, und hilft, gewollt oder ungewollt, den Scheidemännern und dem Militarismus. Schluss mit jeder Zersplitterung! Hinweg mit allen Nörglern. Es lebe der Kampf um den Frieden! Es lebe das internationale Proletariat!"
Ö fter als einmal erntet der Redner Zustimmung. „Sehr richtig!" rufen einige und klatschen auch jetzt am Schluss Beifall.
„Wünscht jemand das Wort?" fragt der Versammlungsleiter. „Sprecht euch aus, Genossen!"
„Na, man los!" — werden Stimmen laut. — „Ihr habt doch sonst dat Mul so vull — ran hier!"
Die da gemeint sind, unterscheiden sich durch ihr Verhalten deutlich von den Klatschern. Ihre Mienen verraten andere Ansichten als die des Redners. Einige schauen lächelnd auf die Siegesbewussten am Tisch. Ein Genosse, der sich während des Referats Notizen machte und Block und Bleistift noch in der Hand hält, erwidert: „Lasst sie erst mal noch deutlicher werden!"
Einige sind erregt. „Gib mir mal das Wort!" — sagt ein Junger und redet los:
„Der Referent hat hier in ganz klarer, sachlicher Weise das gesagt, was zu sagen ist. Genossen! Wer heute noch nicht begreift, was auf dem Spiele steht, dem ist nicht zu helfen. Die Massen erwachen, und die Arbeitsgemeinschaft setzt sich zur Aufgabe, die Massen für den Kampf um den Frieden zu sammeln. Wer da nicht mitmacht, den muss man glatt als Verräter am Proletariat brandmarken--------"
„Wissen wir ja alles, Franz!" antwortet ihm nun ein Zwischenrufer. Franz mustert den Störenfried wütend durch seine Brille; er sieht, dass der und einige Genossen darüber lachen, dass sie als Verräter gebrandmarkt werden, und fährt fort:
„Euer Lachen besagt nur, dass es euch gar nicht ernst ist. Was hat die Fraktion Liebknecht bisher erreicht? Sie hat sich von den Massen isoliert, hat die Kräfte zersplittert! Jetzt, wo die Arbeitsgemeinschaft die Massen zum Kampf um den Frieden führen will, sitzt ihr in der Ecke und spielt die gekränkte Leberwurst. Aber die Streiks, und wenn sie zehnmal niedergeschlagen sind, beweisen, dass die Massen erwachen und über euch hinweggehen werden! Die Fraktion Liebknecht, die uns als Unentschiedene beschimpft, muss sich ja von den ,Internationalen' dasselbe sagen lassen! — Macht endlich Schluss mit der Eigenbrötelei und reiht euch ein in die Front des klassenbewussten Proletariats. Es darf keine Fraktion Liebknecht und sonstige Fraktionen mehr geben. Wer nicht für uns ist, der ist wider uns. Der Reden sind genug — jetzt muss die Tat folgen!"
Franz setzt sich. Ein Genosse neben ihm ermähnt ihn: „Reg di doch nich so up!" Franz macht nur eine wegwerfende Geste und sagt: „Da kann einem doch der Kaffee hochkommen, verdammt noch mall"
„Wünscht sonst noch jemand das Wort?"
Da meldet sich der Genosse mit dem Bleistift und dem Block.
„Genossen! — Ich — spreche — hier — für — die— Fraktion — Liebknecht!!"
„Na ja, das alte Lied!"
„Jawohl, Genossen, wir anerkennen — darin sind wir mit Lenin einig — in Deutschland nur eine Fraktion Liebknecht!! — und haben uns mit den Anschauungen der Arbeitsgemeinschaft sachlich auseinanderzusetzen. Nur die klare Herausarbeitung der Gegensätze kann Klarheit schaffen über Weg und Ziel der Arbeiterbewegung nach diesem tiefen Fall. — Das als Vorbemerkung."
Nach einer kurzen Pause fährt er fort.
„Genossen, der Vorredner hat ganz offen und der Referent versteckt die Fraktion Liebknecht des Verrats am Proletariat beschuldigt, obgleich dafür jeder Beweis fehlt. Um Großes zu vollbringen, muss man gewiss begeistert sein — aber blinde Begeisterung, die nicht mit schärfstem Blick für die Klassenlage gepaart ist, führt in jene Zusammenbrüche, von denen der Krieg nur ein Beispiel ist. Und nun zur Sache:
Wir müssen festhalten an der alten sozialistischen Erkenntnis, dass dieser Krieg nicht nur ein Werk von bösen Männern, von Kriegsmachern ist. So richtig es ist, dass diejenigen, die die Fackel ins Pulverfass schleuderten, den Auftakt gaben für das Weltgemetzel, so richtig ist es auch, dass die Regierungen und Diplomaten der herrschenden Klassen nur ausführende Werkzeuge der herrschenden Klasse sind. Der Krieg ist nichts weiter als die Fortsetzung der kapitalistischen Politik mit anderen Mitteln!
Die kapitalistische Produktionsweise entwickelt sich nach bestimmten gesetzmäßigen Formen. Der Kleinbetrieb weicht dem Großbetrieb, der einzelne Großbetrieb der Aktiengesellschaft. Die große Industrie vermehrt die Herstellung von Waren in immer rasenderem Tempo. Der Konkurrenzkampf um den Absatz auf dem Weltmarkt, der Kampf um den ,Platz an der Sonne', die Epoche des Imperialismus beginnt.
Absatzstockungen entstehen, das Proletariat muss feiern und hungern, weil es zuviel Waren erzeugt! Die Privateigentumsordnung erreicht jene historische Stufe, wo aus der Krise die Katastrophe wächst.
Der Profitordnung droht der große Zusammenbruch. Jede nationale Kapitalmacht sucht nach dem günstigen Zeitpunkt, um durch Koalition mit andern Mächten den gordischen Knoten mit Eisen und Blei zu durchschlagen, sich durch die Niederwerfung der imperialistischen Rivalen die nötige Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Der Zeitpunkt ist da, wo das Weltproletariat der reißenden Bestie in den Arm fallen, der Sozialismus Fleisch und Blut werden muss!
Hier, Genossen", fährt der Redner fort, „wo zwei Welten zusammenstoßen, wo stinkender Patriotismus, Aufstachelung niedrigster Instinkte, Lüge und Gemeinheit doch nur Mittel sind, um das Proletariat von der Grundfrage abzulenken, tut nur der seine Pflicht dem Proletariat gegenüber, der ihm die ganze ungeschminkte, nackte Wahrheit sagt. Hier hört jede ,Taktik' auf. Hier gibt es nur ein Entweder — Oder!
Diese Pflicht haben Liebknecht und Genossen getan! Wenn sie deswegen Verräter sein sollen, dann werden sie den Vorwurf tragen wie wir, in der Erkenntnis, dass die Zeit kommen wird, in der Proletarier, die vorgeben, für den Sozialismus zu kämpfen, nicht mehr einstimmen werden in den Choral der patriotischen Meute!
Darum, Genossen — kennen — wir — nur — eine — Fraktion — Liebknecht!"
Der Redner macht eine Pause; die Stimmung scheint umzuschlagen. Eine fühlbare Spannung liegt in dem dunklen Raum. Auch Franz wird versöhnlicher: „Mach nicht so lange, Karl", sagt er in kameradschaftlichem Ton, „das ist doch gewesen, wozu olle Kamellen immer wieder aufwärmen!"
Karl scheint gefunden zu haben, was er suchte, und fährt fort:
„Nein, Genosse, das ist nicht gewesen, das ist noch! Ich habe hier eure Begründung für die Verweigerung der Kriegskredite, dass Deutschlands Grenzen nun ,frei vom Feinde' seien! Wenn das maßgebend ist, dann können wir uns darauf gefasst machen, dass ihr bei der nächsten besten Gelegenheit — wenn die deutschen Heere eine Schlappe erleiden und über die Grenzen zurückgehen müssen — wieder in die patriotische Front einschwenkt. Ihr steht — laut eurer Begründung — nicht auf dem Boden des internationalen Klassenkampfes, sondern macht eure Taktik abhängig von dem Kriegsglück der deutschen Regierung. Eure Stellung zum Krieg und Frieden ist keine proletarisch-revolutionäre, sondern eine bürgerlich-pazifistische.
Unsere Meinung aber ist, dass der kapitalistische Frieden nur auf dem Rücken des Proletariats möglich ist, genauso wie der imperialistische Krieg. Der proletarische Frieden aber ist nur möglich durch die Revolution! Torkelt das Proletariat in den Frieden hinein, wie es in den Krieg hineintorkelte, bezahlt es die Zeche dieses Friedens vielleicht mit noch gewaltigeren Opfern an Gut und Blut.
Es ist der große Irrtum des Pazifismus, dass er den untrennbaren Zusammenhang von Krieg und Kapitalismus nicht sehen will. Eine solche Taktik, die nicht von den großen historischen Zusammenhängen ausgeht, dient nicht der großen Aufgabe der Internationalisierung der proletarischen Gedankenwelt, sondern bleibt in ,nationalen Belangen' stecken und zerreißt die internationale Solidarität der Arbeiter. Sie erschöpft sich in der radikalen Phrase."
Der Vorsitzende klingelt leise; Karl versteht den Wink und bemerkt: „Ich bin gleich am Schluss; nur einige Bemerkungen zu den Ausführungen bezüglich der Meinungsverschiedenheit zwischen der Fraktion Liebknecht und der Gruppe der Internationale.
Die Tatsache, dass nicht nur die Partei, sondern auch die Gewerkschaften fast ausnahmslos und mit fliegenden Fahnen in das Lager des Imperialismus überliefen oder in pazifistischer Resignation steckenbleiben, hebt die Frage von Führer und Massen in ein neues Licht. Wir haben die Pflicht, aus den Erfahrungen zu lernen, zu begreifen, dass neuer Inhalt der proletarischen Aktion auch andere organisatorische Formen bedingt. Wo eine Welt zusammenbricht, gilt es, der Armee der proletarischen Klasse, die mühsam ihre versprengten Kräfte sammelt, mit Rat und Tat beizustehen, ihrer Aktion Inhalt und Formen zu geben, wie dies die konkreten Verhältnisse bedingen. Die alten Formen der Arbeiterbewegung sind von Hebeln des Klassenkampfes zu Fesseln geworden. Welche anderen Formen der Kampf sich schaffen wird, wird die Zukunft erweisen. Dann wird, was auch wir wünschen, die Zeit nicht mehr fern sein, wo die noch getrennt marschierenden Reihen sich finden für gemeinsame Arbeit!"
Es ist ganz dunkel geworden. Licht soll nicht gemacht werden — besser ist besser! Der Vorsitzende erhebt sich und sagt: „Ich glaube, wir müssen Schluss machen. Es ist spät geworden."
„Zur Geschäftsordnung!"
Klaus macht den Vorschlag, einem Genossen, der mit polnischen Genossen Fühlung hatte, das Wort zu einem kurzen Bericht zu geben.
Ich erzähle von der Zusammenkunft in Warschau, berichte über die polnischen Genossen, was sie sagten über die deutschen Arbeiter; von der weinenden Genossin und ihrem Schicksal; dann von der französischen Arbeiterin; ich füge hinzu: „Ich bin der Meinung, Genossen, dass jeder, der einen Stein auf Liebknecht wirft, nicht weiß, was er tut."
Dann ist es wieder still. Der Vorsitzende erhebt sich und will die Versammlung schließen.
Da springt eine Frau auf eine Kiste und ruft: „Die Zuchthäusler Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Genossen, sie leben hoch!"
Alle rufen das Hoch in die Nacht hinaus. Kein Wort fällt mehr. Die meisten gehen nach vorn über die Felder.

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