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B. Traven - Die Troza (1936)
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ZWEITES KAPITEL

1

Zuweilen schien es, dass hier Zeit sehr kostbar sei. Dann wieder geschah es, dass mit der Zeit so verschwenderisch umgegangen wurde, als wären selbst Ewigkeiten ohne irgendwelchen Wert.
In vieler Hinsicht war es ähnlich wie auf den Exerzierplätzen der Soldaten. Mit viel Geschrei, mit Drohungen und Püffen werden die Soldaten früh um halb fünf aus den Betten gejagt. Dann wird um Viertelminuten gekämpft, geschimpft, gestritten, weil Sergeanten den Eindruck erwecken, als hinge das Wohl der gesamten Menschen davon ab, dass die Kompanie in genau fünf Sekunden von einer Ecke des Platzes auf die andere geschleudert wird, um genau sechs Uhr neunundfünfzig Minuten und fünfundvierzig Sekunden aufgereiht dazustehen.
Der Kapitän der Kompanie kommt um sieben Uhr zwanzig, wandert die Reihen auf und ab, um hier nach einem losen Faden, dort nach einem schiefsitzenden Knopf zu suchen und endlich zu seiner Genugtuung zu entdecken, dass die Schnalle des Leibriemens bei einem Soldaten um genau einen und einen viertel Millimeter zu weit nach links geschoben ist, eine so welterschütternde Begebenheit, dass der Sergeant sie in seinem Notizbuch einzutragen hat, um sie der Ewigkeit zu erhalten, Zwei Stunden später beginnt dann endlich etwas zu geschehen. Der Kapitän gibt Befehl, dass morgen die Kompanie eine halbe Stunde früher anzutreten habe, weil sie heute zu spät aufgestellt worden sei. Dann wird nach und nach damit begonnen, die Soldaten davon zu überzeugen, dass sie noch nicht laufen können, sondern das nun erst zu lernen haben, um brauchbare Landesverteidiger zu werden. Da die Zeit, die darauf verwendet wird, jungen Männern beizubringen, dass sie weder imstande sind, ihre Arme und Augen natürlich zu bewegen, noch sich zu erinnern, wie sie heißen, nicht von dem Kapitän und auch nicht von den Sergeanten bezahlt wird, sondern vom steuerzahlenden Volke, so wird diese Affenkomödie jahrelang täglich wiederholt bis zur völligen Verblödung; und eine Erziehung und Schulung, die an jedem normalen, gesunden, jungen Mann in vier Monaten mit vollem Erfolg beendet sein könnte, benötigt drei volle Jahre mit dem Ergebnis, dass die Leiter des Systems mit Ernst und Eifer und nach reiflicher Erwägung befürworten, dass sechs Jahre nötig seien, um wirkliche Erfolge erzielen zu können.
Hier war es nicht viel anders. Aber die Ursachen waren verständlich und auch vernünftig. Don Remigio hatte begonnen, sein Leben und sein Schicksal zu verfluchen angesichts der Vergeudung an Zeit, die es kostete, die eingetroffenen Arbeiter zu vernehmen und in ihre Arbeitsgruppen einzuteilen.
Er war mehrfach auf dem Sprung gewesen, seinen Sergeanten, den Capataz Ambrosio, zu erschießen, weil er nicht schnell genug mit dem Notizbüchlein zur Hand war, wenn Don Remigio ihn benötigte.
Nachdem die Vernehmung dann endlich vorüber war, geschah trotz des Beeilens und Hetzens nichts weiter.
Don Remigio ließ die Burschen, die seit ein Uhr morgens auf dem Marsch gewesen waren, um von der letzten Lagerstelle her gegen Mittag hier sein zu können, in der tropischen Sonnenglut stehen, als ob sie Steinklötze wären. Ob sie dort verbrannten, zusammenbrachen oder irrsinnig wurden, schien ihn wenig zu kümmern. Sie kosteten freilich sein teures Geld. Für jeden einzelnen hatte er die Schulden bezahlen müssen, um deretwegen der Mann hierher verkauft oder verhandelt worden war. Für jeden einzelnen hatte er die Steuer für den Arbeitskontrakt in Höhe von fünfundzwanzig Pesos an den Präsidenten der Municipalidad von Hucutsin zahlen müssen, damit die Behörde den Mann einfange, falls er fortlaufe. Ferner hatte er den Werbeagenten, die in den Fincas, den Domänen und in den Dörfern verschuldete Peones gegen Bezahlung der Schuld an deren Herren sowie andere Indianer gegen Bezahlung ihrer Polizeistrafen aufkauften, um sie hier herzubringen, hohe Kommissionen zahlen müssen. Niemand konnte erwarten, dass die Enganchadores, die Werbeagenten, umsonst arbeiteten, um so weniger, als es ein Geschäft war, bei dem sie hofften, sehr reich zu werden. Endlich war noch jedem angeworbenen Mann von den Agenten ein Vorschuss in barem Geld gezahlt worden, um die Leute leichter zu verlocken, den Vertrag vor dem Presidente Municipal zu bestätigen und so gegenüber der zivilisierten Welt den Eindruck hervorzurufen, dass es sich um einfache Arbeitsverträge handle, wie sie überall auf Erden in ähnlicher Weise abgeschlossen werden.
Der alte Cacique verstand es bei weitem besser als die frischgebackenen Diktatoren, die wahren Verhältnisse innerhalb des Landes gegenüber dem Misstrauen der übrigen Völker mit Hilfe einer geknebelten und sich vor ihm demütigenden und sich verhurenden Presse zu verschleiern. Was die Arbeiter selber erzählten oder verbreiteten, war nichts als Lüge und Verleumdung. Wahrheit allein war, was in den Arbeitskontrakten geschrieben stand, von den Arbeitern bestätigt war und den Stempel einer autorisierten Behörde trug. Dass die indianischen Arbeiter weder lesen noch schreiben konnten, betrachtete der Diktator nicht als seine Schuld. Warum lernten sie denn nicht lesen und schreiben? Sie waren zu dumm dazu und hatten keinen Wunsch, es zu lernen.
Alle die Summen und Gelder, die der Contratista für den angeworbenen Mann ausgelegt hatte, musste der Mann im Dschungel abverdienen. Man konnte von einem Contratista nicht erwarten, dass er aus lauter Menschenliebe diese Gelder für einen Indianer oder gar für zweihundert bezahle und dann zu dem Mann sage: »Vielen Dank für die Freundlichkeit, dass du mir gestattet hast, deine Schulden zu bezahlen und dir den
Vorschuss zu geben, den du nahmst, um dich zu besaufen und herumzuhuren.
Gehe heim in dein väterliches Haus, vermehre dich und lebe glücklich und zufrieden bis an das Ende deiner Tage!«
Wie wäre denn ein Contratista dazu gekommen, so etwas zu tun? In dieser Welt, wo ein jeder um sein Stück Brot zu kämpfen hat, kann auch ein Contratista nichts verschenken, ohne dass es an einem anderen Ende fehlt. Er hat verteufelt hart zu arbeiten, um leben zu können und es zu etwas zu bringen.
Gesetzt den Fall, dass er nichts hat, wenn er einmal alt ist, dann kann er betteln gehen. So muss er auf seine Wohlfahrt bedacht sein, solange er dazu in der Lage ist. Frau und Kinder daheim wollen auch leben. Und wenn er selbst hart arbeiten muss, warum denn nicht die Peones? Zu etwas anderem sind sie ja doch nicht zu gebrauchen und treiben sonst nichts als Unfug. Haben sie nichts zu arbeiten, dann besaufen sie sich nur. Statt an etwas anderes zu denken und besonders daran, wie aus ihren Schulden und ihrer Versklavung freizukommen, vergeuden sie ihre guten Kräfte nur daran, eine Herde von Kindern in die Welt zu setzen.
Außerdem wollen die Leute in New York und in London Möbel aus Mahagoni haben. Warum sie das haben wollen, geht uns, die Contratistas, gar nichts an. Das ist deren Sache. Aber es lässt sich daran Geld verdienen, ein schöner Berg von Geld. Unsere Dschungel sind voll von Caoba. Wir wissen gar nicht, was wir mit so viel Caoba machen sollen. Wir haben so unendlich viel davon, dass wir selbst unsere Eisenbahnschwellen aus Mahagoni- und Ebenholz fertigen. Warum sollen wir von unserem reichen Überfluss dieses prachtvollen Holzes nicht an die leidende Menschheit ein paar Tonnen abgeben? Es muss natürlich aus dem Dschungel herausgeholt werden. Wir, die Contratistas, können das allein nicht machen. Ich am allerwenigsten. Ich habe gleich dicke Blutblasen an den Händen, wenn ich nur drei Stunden lang Caoba schlage. Mahagoni ist hart wie Eisen, verflucht noch mal. Aber diese Indianer, versoffen und verfuckt, wie sie schon sind, sollten glücklich sein, dass sie etwas für das Vaterland tun und die Ausfuhrziffern erhöhen können.
Diese Ansicht des Contratista ist durchaus begreiflich, zeugt von Vernunft und von einer tiefen Einsicht in die verwickelten Gesetze der Weltwirtschaft. Freilich, der Indianer denkt anders darüber.
Darum ist er auch ein armseliger Prolet und kein Bankdirektor. Und es ist einfach unverständlich für jeden normal denkenden Menschen, dass diese gottverdammten Proletarier immer und von jeher so gar nicht begreifen wollen, wie vernünftig und richtig und staatserhaltend die Ideen und Ansichten sind, die von Diktatoren und Fabrikdirektoren mit Mühen und Sorgen und in schlaflosen Nächten zum Wohl des Vaterlandes ausgeheckt werden. Gottverdammt noch mal, man sollte alle Proletarier einfach erschießen, damit doch endlich einmal Ruhe im Lande ist. Warum ist der elende Hund überhaupt Proletarier? Es ist doch seine eigene Schuld.
Es ist keineswegs die Schuld der Contratistas, dass die Peones ständig bei ihren Herren so tief verschuldet sind. Der Herr braucht sein Geld auch, und wenn er endlich die Geduld verliert und sein Geld haben will, weil er es haben muss, und dann die Peones an die Contratistas für die Schuldsumme verkauft, dann wird das Maul aufgerissen und über Menschenhandel und Sklaverei gebrüllt.
Alles ist so klar, so einfach, so logisch, so vernünftig, dass man sich nur darüber zu verwundern hat, warum die Proleten das nicht verstehen wollen. Sobald sie erst einmal verstehen und voll begreifen, dass alles, was getan wird, nur zu ihrem Wohle geschieht, dass kein Diktator und kein Aktionär je daran denkt oder je daran gedacht hat, die Würde des Arbeiters anzutasten oder ihn gar zu einem Arbeitstier zu machen, sobald sie erst einmal einsehen, dass man nur ihr Gutes, ja ihr Bestes will, dann wird auch endlich die Zeit heranreifen, in der man sie zu den Vernünftigen zählen darf, und dann hat jeder einzelne Prolet die Aussicht, sogar Fabrikdirektor und Aufsichtsratsvorsitzender zu werden. Solange er das nicht versteht oder nicht verstehen will, muss er das Maul halten und sich regieren und diktieren lassen.
Es ging demnach alles hier mit rechten Dingen zu. Es geschah niemand ein Unrecht. Keiner hatte Ursache, sich zu beschweren. Jede Handlung, die von den Werbeagenten, den Contratistas und den Companien ausgeübt wurde, war immer und unter allen Umständen im Rahmen des Gesetzes. Wenn sich in den Maschen der Gesetze Löcher zeigten, so gab es ja einen Diktator, der diese Löcher mit einer Unterschrift zuflickte. Und was der Diktator tat, war immer recht; denn jede seiner Handlungen wurde von der Camara de Diputados bestätigt. Sollte es vorkommen, dass einer der Diputados Widerspruch leistete, so hörte er dadurch auf, Diputado zu sein, weil er die Ordnung und die geölte Abwicklung der Geschäfte hinderte. Nur Ja-Sager wurden in der Camara und im Senat geduldet. Es war eine Wonne zu leben; und wem es nicht gefiel, der hatte kein Recht zu leben und wurde erschossen. Lagen mildernde Umstände vor, so kam er in das Konzentrationslager El Valle de los Muertos, ein mit Stacheldraht eingezäuntes Gelände inmitten der bestgewählten Fiebersümpfe im Süden des Staates Veracruz.
Dort kam er hin, um nie wieder zurückzukommen. Es war das goldene Zeitalter der Diktatur.

 

2

Während die Caobaleute aufgereiht standen und nun, nach ihrer Vernehmung, darauf warteten, dass man ihnen sage, was sie tun sollten, ging ihr Contratista, Don Remigio, in die Tienda, wo er sich auf eine Kiste setzte, über die schwere Arbeit stöhnte, die er verrichtet hatte, und dann eine Flasche Comiteco forderte.
Darauf begann er zu trinken, und nach und nach fing er an, sich wieder wohl zu fühlen. Sein Reitpferd hatte er unter einen Baum in den Schatten geführt. Die Leute kümmerten ihn nicht. Sie hatten ja Vernunft und wussten, was zu tun. Aber was sie taten ohne besonderen Befehl, war immer falsch, und der Capataz ging auf sie zu und schlug ein halbes Dutzend mit der Peitsche ins Gesicht.
Sie kauerten sich auf den heißen Sandboden und warteten. jedoch, die Glut der Sonne wurde unerträglich, und einer nach dem andern nahm seinen schweren Packen auf und suchte sich eine schattige Stelle unter Bäumen oder in der Nähe von Hütten.

 

3

Ambrosio, der Capataz, war zu einer der wilden Schenken gegangen, weil er wusste, dass er hier den Branntwein billiger bekam als in der Tienda der Company. Freilich, in den Schenken gab es nur den gewöhnlichen Mescal, während in der Tienda der gute Comiteco Anejo zu haben war.
Ambrosio hatte gleich drei Mädchen zur Seite, die ihm beim Trinken halfen, um die Zeche zu vergrößern. Ambrosio freilich wusste nicht, dass die Mädchen nur Zuckerwasser tranken. Darum war er sehr erstaunt, dass sie ihn so leicht und rasch unter den Tisch zu trinken vermochten.
Unter den Tisch ist nicht ganz richtig, weil es keinen Tisch gab. Ambrosio saß auf einem Brett, das auf der Erde lag und das hier überall, in allen Hütten, genannt wurde: la Silla, der Stuhl. Von diesem Stuhl begann Ambrosio herunterzurutschen, weil er ihn nicht mehr genau sehen konnte, denn seine Augen blinzelten immer trüber und verschleierter.
Aber er behielt doch Bewusstsein genug, dass er auf eine Wette eingehen konnte, die von den Mädchen vorgeschlagen worden war, um ihn beim Trinken zu halten. Er sollte raten, welches der Mädchen oben an den Hüften die dicksten Beine habe. Er wettete eine volle Flasche Aguardiente, dass er richtig raten könne. Darauf griff er jedem der drei Mädchen unter den Rock, um festzustellen, ob er gewonnen oder verloren habe. Die Mädchen saßen gleichfalls jedes auf einem solchen Stuhl, wie Ambrosio einen hatte. Sie trugen nichts weiter unter dem Rock als ein kurzes Hemd. Darum ging es bei der Wette recht lustig und kreischend zu. Er verlor die Wette natürlich, weil er längst die Fähigkeit für eine richtige Abschätzung verloren hatte.
Bei dieser einen Wette und bei dem einen Raten blieb es nicht. Die Mädchen besaßen ein sehr reichhaltiges Programm für die Vorstellung. »Später komme ich dich abholen, Chula«, sagte Ambrosio zu der Fettesten.
»Como no, warum nicht? Wie ist es mit dem Silber, Caballero?«
»Sorge dich nur darum nicht. Mi jefe - Don Remigio ist mein Jefe, das weißt du ja - gibt mir so viel Vorschuss, wie ich haben will. Der kann ohne mich nicht einen Schlag Arbeit tun. Wenn ich nicht hier wäre, er würde nicht einen einzigen Mann vor die Bäume bringen!«
»Was für ein gewaltiger Mann du bist!« Das Mädchen sagte es ironisch, aber Ambrosio nahm es auf, als wäre es Bewunderung.
»Du und ich, das merke dir nur, wir können noch ganz andere und bessere Dinge tun. Wenn ich will, kann ich morgen Contratista sein, und ich verdiene montanes de dinero, Berge von Geld. Da nehme ich dich mit, kannst mit mir wohnen, solange du willst. Wenn die Comerciantes kommen, dann sag nur, was du haben willst, und ich kaufe es dir geradeso wie das hier.« Er schnippte mit den Fingern, um anzudeuten, dass die gesamte Ware der arabischen Händler, die herkamen, von ihm gekauft werden könne, leichter als eine Flasche Aguardiente.
»Darüber sprechen wir, Hombre, wenn du erst einmal Contratista bist.« Sie rückte ein wenig von im fort und schob ihm eine ihrer Kolleginnen zu.
Ambrosio merkte nicht, dass eine andere sich an seine Seite, dicht an seine Beine gepresst hatte. Er redete weiter, ohne sich stören zu lassen, und versprach dieser, dass er sie nach Balun Canan mitnehmen werde, wo sie einmal sehen könne, wie er es verstehe, mit wirklichen Damen umzugehen.
Hier, in diesem gottverfluchten Camp, gebe es nicht eine einzige Dame. »Alle sind nur Huren hier, ganz gewöhnliche Tequila-Putas!« schrie er plötzlich, während er sich taumelnd aufzurichten begann.
»Nichts anderes seid ihr alle hier als ganz gewöhnliche Huren und Frauenzimmer von der Straße.
Auch die beiden alten verfuckten Schunzen, die der Administrador in seinem verdammten und verstänkerten Bungalow hat, sind nur ganz gewöhnliche Straßenhuren, die ich von Tuxla her sehr genau kenne.«
Jetzt mischte sich der Wirt ein: »Halt's Maul, verflucht noch mal. Wenn der Administrador dich hört, legt er mir Feuer an meine Bude und brennt sie ab und jagt mich zur Hölle.«
»Der? Der Hurenknecht? Er soll mir einmal hier herkommen. Ich werde ihm schon etwas sagen. Ich gehe überhaupt jetzt gleich einmal zu ihm hinüber und sage ihm ganz dreist ins Gesicht hinein, dass er nur Huren da hat.« Ambrosio ruderte mit seinen Armen umher. Dann grölte er, als ob er singen wollte.
Er schüttelte seinen Kopf, wischte sich mit den flachen Händen über das Gesicht und schrie: »He, Chula, Teufel noch mal, wo steckst du denn?«
»Geh zu ihm!“ kommandierte der Wirt dem Mädchen, mit dem sich Ambrosio zuerst eingelassen hatte. Flüsternd fügte der Wirt hinzu: »Geh zu ihm, tätschele ihn etwas an den Beinen herum und bringe ihn hinaus. Der Administrador kommt mir auf das Fell. Sage ihm, dass du dich mit ihm hinlegen willst. Vielleicht kriegst du ihn raus. Dann setzt du ihn ab, wo du ihn loswerden kannst.«
Ambrosio war, wenn auch schwerfällig, willens, ihr zu folgen. Aber kaum hatte er die Hütte verlassen und war in die Sonne gekommen, als er lang hinfiel. Der Wirt zerrte ihn mit Hilfe der Mädchen in den Schatten eines Baumes und ließ ihn dort liegen. In diesem Augenblick schrie Don Remigio von der Tienda aus über den Platz hinweg: »Ambrosio! Ambrosio!«
Als er nach mehrmaligem Rufen keine Antwort bekam, brüllte er in voller Wut: »Du verfuckter Hurensohn von einem versoffenen Lepero, wo hurst du denn eigentlich schon wieder herum? Komm hierher, verflucht noch mal!«
Ambrosio war gerade jetzt nicht in der Lage, irgend etwas zu hören, noch viel weniger war er fähig, auf seinen Beinen zu stehen.
Don Remigio, wütend wie ein aus dem Schlaf gescheuchtes Nashorn, lief kreuz und quer über den Platz, seinen Capataz zu suchen.
Ein Mädchen kam auf Don Remigio zugeschwänzelt, lächelte ihn an und sagte: »Caballero, wie wäre es denn mit uns beiden für heute Nacht?«
Don Remigio blökte sie an - »Geh zur Hölle, Hundetochter. Ich habe andere Sorgen jetzt.«
»Wen suchen Sie denn, Senor Contratista?« fragte das Mädchen, ohne sich das geringste aus seiner verärgerten Antwort zu machen.
»Sei ich doch verdammt in Himmel und Hölle, ich suche diesen versoffenen Parandero und Herumtreiber, meinen Capataz.“
»Wie heißt er denn?«
»Ambrosio. Verflucht noch mal, ich sollte ihn Amurschio nennen, den elenden Faulenzer.«
Das Mädchen wusste sofort wer gemeint war. Und da Ambrosio nicht mit ihr gezecht hatte, sondern mit anderen Mädchen, denen sie nicht wohlgesinnt war und mit denen sie ewig im Streit lag, so tat es ihr wohl, zu sagen. »Ach den suchen Sie, Senor. Da brauchen Sie nicht weit zu gehen. Gehen Sie nur da dreißig Schritte, da finden Sie ihn hinter einem Stamm liegen. Ein Schwein kann nicht so besoffen sein, wie er es ist. Sie werden Ihre Freude haben, Senor.« Dann kümmerte sie sich nicht weiter um den Caballero.
»Rosita war bezaubernd schön, doch hatte sie drei Gören«, trällerte sie vor sich hin und ging zu einer der Hütten, wo sie wusste, dass da augenblicklich einige Arrieros, Muletreiber, bei den Karten saßen und vor ihnen eine Flasche Aguardiente. Sie würde bei weitem lieber mit dem Contratista den Nachmittag, den Abend und die Nacht verbracht haben. »Aber wenn man Früchte essen will und man kann keine Mangos haben, dann muss man sich eben mit Bananen begnügen«, tröstete sie sich mit einem Schulterzucken. Dann lachte sie für sich leicht auf, weil sie, ohne es eigentlich zu wollen, mit Mangos und Bananen einen Vergleich gebildet hatte, der immer anzüglich aufgenommen wird, wenn man ihn im entsprechenden Tonfall oder mit schiefgezogenem Grinsen erwähnt.

 

4

Don Remigio ging in der Richtung, die ihm von dem Mädchen angedeutet worden war. Und da fand er seinen Capataz, ausgestreckt auf dem Erdboden und mit einem Gesicht, das mit seiner tiefroten Farbe und wulstigen Aufgedunsenheit den Eindruck erweckte, als ob es im nächsten Augenblick explodieren würde. Der Bursche stöhnte in seinem verduselten Schlaf wie ein Schwerkranker.
Nachhaltig und heftig betrunken zu sein von diesem Aguardiente, gewonnen aus dem Maguey oder dem Mescal oder aus Zuckerrohr und vielleicht gar noch diese drei Arten untereinander gemischt, ist ein Rausch, der kaum seinesgleichen kennt. Aber von diesem Branntwein voll sein am frühen Nachmittag in einem tropischen Lande und dann noch beinahe ohne Schatten unter der brütenden Sonne lang auf dem Boden liegend - das verwandelt selbst den standfestesten Zecher in eine hilflose und bemitleidenswerte Masse.
»Du versoffenes Schwein von einem Sinverguenza, so ein schamloses und verkommenes Stück Vieh von einem Straßenräuber!« schrie Don Remigio, als er Ambrosio in dieser Verfassung sah.
Er stieß ihn erbarmungslos mit den Stiefeln in die Rippen, als wolle er ihm ein Loch in den Körper hämmern. Aber der Mann bewegte sich nicht und änderte auch nicht seine Lage. Er schien wie in einer tiefen Narkose zu sein. Ein paar Mal gluckste er, als rutschte ihm die Zunge in die Kehle hinunter.
Dann grunzte er stöhnend: »Si, jefe!«
Don Remigio stand noch einige Sekunden, dann spuckte er auf ihn, drehte sich um und sah zurück zu dem Gebäude, in dem sich die Tienda befand, aus der er soeben gekommen war.
Er wollte dorthin zurückkehren und den Tag als verloren ansehen. Langsam schlenderte er über den Platz. Nach einigen zehn Schritten blieb er stehen und blickte in eine andere Richtung. Dort sah er die Leute in Gruppen verstreut lagern. Einige lagen in der Nähe von Bäumen, andere im Schatten der Hütten. Mehrere schliefen, andere saßen beieinander und schwatzten. Wieder andere rührten in ihren Fruchtschalen Posol an mit Wasser, das sie aus dem Fluss geholt hatten.
Don Remigio ging näher auf sie zu, überzählte sie und rief: »Da fehlen ja etwa acht oder neun, wo sind denn die?«
»Runtergegangen zum Fluss, um zu baden. Sie haben blutende Füße.« Einer der Burschen rief es und stand aus Höflichkeit halb auf, als er das sagte.
»Ruf sie herauf. Und dann kommt ihr alle herüber zur Tienda.« Don Remigio ging voraus. Nach einigen Schritten drehte er sich um und rief. »Bringt eure Packen mit, damit sie euch nicht gestohlen werden. Wer weiß, wie viele Spitzbuben und Hurenhunde hier frei herumlaufen.«
Im selben Augenblick trat eine Frau aus einer der Hütten. Sie war barfuss, ihr Haar zerzaust, hatte nur einen Rock und eine schmutzige, flatternde und zerrissene Bluse an, die so weit aufstand, dass ihre Brüste oben herauslagen. Sie war keines der gefälligen Mädchen des Camps, sondern wahrscheinlich eine der vielen Frauen, die einstmals hier mit ihrem Manne lebte.
»Oiga, Senor!« rief sie, ihre Arme in die Hüften keilend und den Unterleib, der an und für sich schon aufgedunsen war, noch weiter hervorstreckend. »Hören Sie, Sie Ehrenmann, wir sind hier keine Spitzbuben und keine Banditen. Wir sind hier ehrlicher als Sie.«
»Ja, das weiß ich, und halt's Maul. Von dir, du alter Schrullenputzer, hat ja niemand etwas gewollt.
Und ich bin der letzte, der zu dir kommt.« Don Remigio hatte sich nur halb zu der Frau gedreht, als er das sagte.
Die Frau blabberte und blubberte und regte sich heftig auf, trat mit den nackten Füßen auf den Boden, drohte mit den Armen, aber Don Remigio verstand nicht ein Wort von den hunderten, die sie hinter ihm herschrie.
»Wer ist denn die alte Kuh, die da blökte?« fragte Don Remigio den Verkäufer in der Tienda, als er dort wieder anlangte.
»Das ist Dona Julia. Wie sie sonst heißt, weiß ich nicht. Sie ist etwas angeknabbert im Kopf. Ein Wirt hatte sie ursprünglich hier hergeschleppt, mit einem halben Dutzend anderer Frauen. Als sie nicht mehr viel wert war, das will sagen, als sie dem Wirt keine Kundschaft mehr brachte, fand sich ein Canoeführer, der ihr gefiel und mit dem sie dann in Tres Champas lebte. Der Mann schlug eines Tages um mit dem Canoe und ertrank. Mit einer Familie ist sie dann hierher zurückgekommen. Sie ist erst acht Wochen in unserm Camp. Das ist der Grund, warum Sie sie nicht kennen, Don Remigio.«
»Warum geht sie denn nicht zurück zu ihrem Pueblo, wo sie herstammt?«
»Da scheint etwas nicht ganz in Ordnung zu sein. Wenn ich recht gehört habe, hat sie da eine andere Frau aus Eifersucht erstochen. Und als die Polizei hinter ihr her war, kam es ihr sehr gelegen, dass sie mit dem Wirt in die Monterias gehen konnte.«
»Das mit dem Erstechen muss doch dann sicher drei oder vier Jahre her sein«, sagte Don Remigio, sich einen Cognac einschenkend aus der Flasche, die ihm der Gehilfe des Verkäufers auf die Ladenplatte gestellt hatte.
»Sicher vier Jahre«, bestätigte der Tendero.
»Dann ist doch genügend Gras darüber gewachsen, so dass der Vorgang längst vergeben und vergessen ist.« Don Remigio schenkte sich einen neuen ein.
»Sie scheint sich hier wohl zu fühlen. Wir glauben, sie will nicht zurück.« Nun schenkte sich der Tendero selbst ein halbes Gläschen ein.
»Wird etwas anderes noch sein, da bin ich sicher«, sagte Don Remigio. »Schämt sich vor ihrer Familie, oder ihr früherer Mann hat sich inzwischen verheiratet. Da ist das Beste, was sie tun kann, alle Welt glauben zu machen, dass sie nicht mehr existiert.«
»Ich glaube, Sie haben recht.«
»Hören Sie, Don Telesforo!« Don Remigio änderte den Ton, um damit zu sagen, dass ihn der Klatsch nicht weiter interessiere und dass er nun zu den Geschäften übergehe.
»Bueno, was ist es?«
»Meine Leute kommen. Eröffnen Sie einem jeden ein Konto für, sagen wir, fünfzig Pesos.«
»Gern, Don Remigio. Geben Sie mir nur die Namen.«

 

5

Alle Burschen hatten sich inzwischen vor der Tienda versammelt. Don Remigio trat in die Tür und sprach zu ihnen. »Ich lasse euch allen ein Konto hier aufmachen. Für jeden fünfzig Pesos. Kommen auf euer Konto. Könnt kaufen, was ihr wollt oder was ihr braucht. Für die nächsten zwölf Monate kommen wir nicht mehr her zu den Oficinas. Wir bleiben draußen in der Selva, im Dschungel. Aber es wird nicht mehr als für einen Peso Aguardiente pro Mann gegeben. Dass ihr das wisst.«
Die Leute begannen beweglich zu werden und miteinander wie wild zu schnattern, um sich gegenseitig klarzumachen, was sie brauchten. Es waren besonders die Neulinge, die von den Erfahrenen, die früher schon hier gearbeitet hatten, wissen wollten, was man brauche und ob man überhaupt etwas brauche.
Als der Erfahrenste war am besten bekannt der Chamulaindianer Celso Flores, Sohn des Panchito Flores von Ishtacolcot. Celso hatte bereits zwei Jahre in den Monterias hinter sich. Auf dem dreiwöchigen Marsch durch den Dschungel hierher hatte er sich bei seinen Arbeitsgefährten infolge kameradschaftlicher Handlungen beliebt gemacht. Durch einige Schlägereien gewann er ihren Respekt. Die Neulinge verehrten ihn als ihren Lehrer und Berater, die Schwachen als ihren hilfreichen Kameraden, und alle erkannten sie ihn als ihren Führer und Sprecher an. Auch jetzt gab Celso gute Ratschläge. Und beinahe alle Ratschläge, die er gab, liefen immer auf den gleichen Satz hinaus:
»Wenn du es nicht durchaus und unter allen Umständen benötigst, kaufe nicht für einen Centavo. Je früher du deine Schulden heruntergearbeitet hast, um so eher hast du die Hoffnung, heimzugehen zu deiner Mutter oder deiner Frau. Du kennst die Hölle hier noch nicht. Aber eine Woche später wirst du schon verstehen, warum ich dir das anrate. Und nun handle, wie du willst. Was gehen mich deine krummen Sorgen an.«

 

6

Don Remigio nahm seine Liste auf und rief den ersten Mann herbei. Er nannte den Namen, und der Tendero schrieb das Konto in das Buch. Gleichzeitig fragte der Gehilfe den Mann: »Was willst du denn haben?«
Sowohl die Contratistas als auch die Tenderos waren daran gewöhnt, dass bei dieser Kontoeröffnung jeder Mann das gesamte Konto in der angebotenen Höhe, in diesem Falle fünfzig Pesos, in anderen Fällen siebzig oder hundert Pesos, in Waren auskaufte. Diese Konten wurden nicht eröffnet und mit so generöser Geste angeboten, um den indianischen Arbeitern eine Freude zu machen oder gar um ihnen eine Wohltat zu erweisen. Freude, Geschenke und Wohltaten waren Dinge, die vielleicht beim Anwerben als Köder gebraucht wurden, aber erst einmal hier im Dschungel, kannte niemand mehr diese Worte, viel weniger deren Bedeutung.
Die Konten wurden eröffnet zum Wohl der Company und zur Freude der Contratistas. Je größer das Konto, je länger hatten die Leute hier zu arbeiten. Sie wurden nur dann frei, wenn alle Schulden, die der Agent für den geworbenen Mann bezahlt hatte, alle Vorschüsse, Vertragsstempelsteuern und Provisionen für den Agenten abverdient worden waren. Solange die Konten nicht abverdient waren, wurde ein Arbeiter, der etwa weglaufen sollte, von den Behörden wieder eingefangen und als Deserteur in das Camp zurückgebracht. Die gesamten Kosten des Einfangens und Herbringens wurden dem Flüchtigen auf das Konto gesetzt. Für sein Fortlaufen erhielt er besondere Strafen, die, je nach der Laune des Contratistas bis zu fünfhundert Peitschenhieben oder gar tausend, auf mehrere Wochen verteilt, über den Mann verhängt wurden. Selbst der Versuch des Fortlaufens wurde hart genug bestraft.
Je größer das Konto, das heruntergearbeitet werden musste, je länger waren die Company und die Contratistas ihrer Arbeitskräfte gewiss. Aber die Company verdiente durch das Konto in doppelter Weise. Denn alle Waren, ohne eine einzige Ausnahme, die in der Tienda, im Laden der Company, verkauft wurden, waren im Preise fünffach, achtfach oder gar zehnfach höher als in dem nächsten bewohnten Ort. Nur die Tienda der Company hatte das Recht, an die Arbeiter zu verkaufen; und alle Arbeiter waren verpflichtet, nur in der Tienda der Company zu kaufen. Es kamen freilich auch unabhängige Händler in die Monterias, meist Araber. Aber diese Händler durften ohne Erlaubnis der Company nichts auf dem Gelände der Company verkaufen oder nur solche Kleinigkeiten und unwesentliche Gegenstände, die von der Tienda ihres zu geringen Wertes wegen nicht geführt wurden.
Dazu gehörten kleine Handspiegelchen mit einem Heiligen oder der Heiligen Jungfrau auf der Rückseite, Einsteckkämme für Frauen, Glasperlen, Fingerringe mit großen Glasdiamanten, Ohrringe der schundhaftesten Sorte, Seidenbänder aus billigster Kunstseide, Knöpfe, Zwirn. Natürlich führten die Händler auch wertvollere Waren von derselben oder gar besseren Art und für geringere Preise, als sie in der Tienda zu haben waren. Und es waren diese Waren, um die der eigentliche Kampf ging.
Hierzu gehörten Hosen, Hemden, Basthüte, Sandalen, rohes Leder, Kleider, Wollbänder für Gürtel und für das Haar, Baumwollstoffe, Atlasstoffe, bedruckter Kattun, Kalikostoffe, billige Seidenstoffe, Moskitonetze oder Stoffe zur Anfertigung dieser Netze, Zigaretten, Tabak und vor allem Aguardiente.
Guter Comiteco Anejo, Cognac und Whisky, den die Tiendas führten, wurde nur von den Verwaltern und Angestellten gekauft und war nur in wenigen Flaschen vorhanden. Er war zu teuer, und sowohl die Verwalter, die Angestellten als auch die Contratistas und Agenten zogen oft, wenn sie hier einige Tage verbrachten, eine bessere Sorte des Comiteco vor, die um ein vieles billiger als Cognac und Whisky war und meist nur ein
Fünftel des Preises für Cognac kostete. Diese Sorte reiste unter dem Namen Habanero zuweilen Cognac Mexicano.
Handel und Gewerbe waren frei in der Republik. Aber niemand hatte das Recht, auf dem Gelände eines anderen, das er weder gekauft noch gepachtet oder gemietet hatte, seinen Laden aufzumachen oder seine Ware auszulegen. Wohin auch immer die Händler kamen, sie waren stets auf dem Gelände einer Monteria, wo die Company, die Besitzerin der Konzession, Hoheitsrecht besaß.
Oft freilich war die eine oder die andere Tienda knapp versorgt mit Waren oder wenigstens mit bestimmten Waren. Dann erhielten die Arbeiter die Erlaubnis, diese Waren von einem unabhängigen Händler zu kaufen, falls gerade einer kam. Niemand im Camp aber hatte bares Geld, oder wenn, dann nur ganz wenig. Es brauchte auch niemand Geld; denn jeder, der hier lebte, bezog von der Tienda auf Konto. Es wurden ferner von der Company Wertmarken gleichfalls auf Konto ausgegeben. Wer nun von einem Händler kaufen wollte, konnte nur mit Wertmarken der Company bezahlen. Es waren auch nur diese Wertmarken, die als Geld im Camp im Umlauf waren, womit also gespielt, in den wilden Schenken der Aguardiente gekauft wurde und womit man den gefälligen Frauen Geschenke in bar machte.
Der Wert dieser Marken wurde von der Company bestimmt, in der Weise, dass die Company für vierzig Pesos in Wertmarken fünfzig Pesos oder gar sechzig Pesos auf das Konto schrieb. Niemand kann Geld umsonst ausborgen. Der Händler konnte mit diesen Wertmarken in seinem Heimatorte nichts anfangen; denn dort hatten sie keinen Wert. Er musste sie also vor seiner Abreise beim Cajero, dem Kassierer der Company, hier im Camp einlösen. Geld erhielt er nicht, weil ja nur wenig bares Geld da war. Er erhielt einen Scheck, der bei der Bank in Jovel oder San Juan Bautista gegen Geld eingelöst wurde. Aber wenn die Company von dem Händler die Wertmarken gegen einen
Scheck zurückkaufte, so bestimmte wieder die Company oder der Cajero den Einlösungswert, der oft um fünf oder zehn Prozent niedriger war als der ursprüngliche Ausgabewert. Gewöhnlich verständigten sich der Händler und der Cajero vorher über dieses Geschäft. Alle diese Gewinne, Zinsen und Einlösungsdifferenzen stammten natürlich aus den Taschen der Arbeiter; denn die waren ja die einzigen, die kauften, und zugleich die einzigen, die hier die verkäuflichen Handelswerte schufen.
Niemand sonst produzierte irgend etwas. Alle lebten von dem Unterschied zwischen den beiden Preisen, dem, den der Arbeiter für das Fällen und Transportieren der Caoba erhielt, und dem, den die Company in den Häfen von den amerikanischen und englischen Mahagoniaufkäufern erhielt.
Wenn die Arbeiter sich die Schlussrechnung ihrer Käufe im Camp betrachteten, so fanden sie heraus, dass sie bei den unabhängigen Händlern um nichts billiger und selten besser gekauft hatten als in der Tienda. Wenn ein Unterschied überhaupt sichtbar war, so betrug er nur wenige Centavos. Aber es wurde den Arbeitern durch den scheinbar freien Kauf bei den Händlern die Idee gegeben, dass sie in ihren Käufen unabhängig seien und einen Einfluss auf die Gestaltung der Preise hätten, weil sie ja, scheinbar, nach Belieben in der Tienda oder bei einem anwesenden unabhängigen Händler kaufen konnten.
Oft kaufte die Tienda einem ankommenden Händler alle Waren, die er mit sich führte, im Ramsch ab.
Die Tienda machte den Preis. Sie ließ zwar dem Händler für seinen drei oder vier Wochen langen Marsch und für seine Ausgaben für Packtiere und Muletreiber einen reichlichen Profit. Aber die Company bekam dadurch die Waren dennoch viel billiger, als wenn sie ihre eigenen Karawanen ausschickte. Denn sie trug kein Risiko für den Verlust von Packtieren und Waren auf dem Marsch.
Der Händler konnte mit dem Aufkäufer der Company, dem Tendero, über den Schlusspreis verhandeln und versuchen, den besten Preis herauszuschlagen. Kam keine Einigung zuwege, dann diktierte der Tendero einfach den Übernahmepreis. Nahm der Händler den Preis nicht an, so wurde ihm keine Erlaubnis gegeben, seine Waren auszulegen. Er musste mit ihnen zwei, drei oder fünf Tage weiter durch den Dschungel marschieren, bis zur nächsten Monteria, wo ihm vielleicht gar noch weniger geboten wurde. Es konnte geschehen, dass der Mann mit seiner ganzen Karawane und seiner gesamten Ware die vier Wochen zu seinem Anreiseort zurückmarschieren musste, ohne auch nur eine Stecknadel verkauft zu haben. Durch den doppelten Transport war die Ware nun so teuer, dass, ganz gleich wie günstig er sie auch in der Stadt verkaufen mochte, er immer verlor. So war es wohl zu erklären, warum ein Händler es nie ablehnte, sich auf gütlichem Wege mit der Administracion über den Preis zu verständigen, sowie auch warum ein Händler sich nie weigerte, im Großen und im Kleinen alles das zu tun, was von dem Verwalter oder dem Tendero angeordnet wurde, und warum er bereit war, sich über die Gewinne mit jedem, der hier etwas zu sagen hatte, zu einigen.

 

7

Nachdem Don Remigio vier Namen aufgerufen hatte und die Burschen in die Tienda gekommen waren und hier das Konto aufgeschrieben erhielten, fand er die Arbeit zu ermüdend. Wahrscheinlich durch eine rasch auftauchende Erinnerung an das Mädchen, das ihn vor einer Viertelstunde lachend einzuladen versucht hatte, war es ihm plötzlich zur Gewissheit geworden, dass der Mensch nicht von öder Arbeit allein sein Glück erwarten könne, sondern dass er nur dann sich wohl fühle, wenn er, wäre es auch nur für zwei Stunden und vorübergehend, eine Gehilfin habe, die um ihn sei. Und weil der liebe Gott im Himmel das so beschlossen hat, so sah Don Remigio keinen Grund ein, warum er auf diese Freude verzichten solle. Die Frau, die er in seinem Semaneo, im eigentlichen Arbeitscamp in den Tiefen des Dschungels, in seiner Hütte verwahrte, Dona Javiera, war schon recht ältlich, begann schimmlig zu werden, und zuweilen war sie recht langweilig. Etwas sehr Schönes und Molliges kam ja nicht zu den Monterias; und diejenige, die einwilligte, in der Einsamkeit des Dschungels mit ihm zu leben, einen oder zwei Tage entfernt von den Oficinas Generales, war selten so, wie er sie sich wohl gewünscht hätte. Man muss nehmen, was man haben kann, und dafür den Göttern noch innig danken.
So war es - alle Umstände in Betracht gezogen - Don Remigio nicht zu verdenken, dass sich gelegentlich seine Wünsche auch auf Abwechslung richteten. Als er so plötzlich solche Gedanken in sich sehr rege aufkommen fühlte, sah er sich durch die harte Arbeit des Kontonotierens daran gehindert, die benötigte Abwechslung aufzusuchen und sich mit ihr anzufreunden.
»Das ist die Arbeit dieses verfuckten Cabrons von einem versoffenen Capataz«, rief er wütend aus und klatschte die Liste, die er hielt, auf seine Knie. »Verflucht noch mal, so muss ich hier sitzen mit der Liste wie ein lausiger Schreiberbengel, während dieser Hurenknecht in seinem süßen Dusel den ganzen lieben Nachmittag verschläft.« Er rief einen Indianer aus der Gruppe der vor der Tienda lagernden Schar an:
»He, wie heißt du denn?«
Der Bursche sprang auf und sagte: »Teofilio Palado, su humilde servidor, patroncito.«
»Gut. Nimm den Stecken, den du hast, und geh 'rüber zu dem gottverfluchten Hundeknüppel und schlag ihm die Knochen windelweich. Saufen am hellen lichten Tag, und ich habe hier die ganze gottverdammte Arbeit allein zu tun.«
»Welchen Hundeknüppel, Patroncito?« fragte der Bursche, der diese Art von Bezeichnung nicht zu kennen schien.
»Bueno, bueno. Es ist schon gut. Bleib hier. Ich werde mir den Wurm schon vornehmen. Zwei Monate Lohn ziehe ich dem Lepero ab. Saufen und in allen Ecken herumfucken, wo er einen Faden hängen sieht. Dass er doch die Pest bekäme und den spanischen Kragen noch dazu!«
Don Remigio redete sich immer mehr in Wut, um so mehr, als er jetzt wieder zwei Mädchen in der Ferne zwischen den Hütten dahinschlendern sah. Die Mädchen waren barfuss und hatten nichts weiter an als buntgeblümte, sehr dünne Kattunkleider. Sie mussten auch noch gegen die Sonne gehen, was Don Remigio ungemein ärgerte, weil er zu weit entfernt war, um dadurch einen besonderen Genuss zu haben.
»Gib die Flasche her, Muchacho«, sagte er zu dem Gehilfen. Er goss sich ein halbes Wasserglas voll Habanero ein und schüttete es mit einem Fluch die Kehle hinunter. Dann ließ er einen krächzenden Laut vernehmen, von dem man nur schwer hätte sagen können, ob er damit den harten Guss, der ihm in der Kehle brannte, hinunterpressen wollte oder ob er ein Ausdruck seines Wohlbefindens war.
Er lehnte sich zurück in den rohen Stuhl, um sich bequem zu setzen. Dabei stieß er sich den Kolben des schweren Revolvers, den er am Gürtel trug, heftig in die Hinterbacke, und er fluchte aufs neue.
»Stühle habt ihr hier«, sagte er mit boshafter Stimme, »die reine Folterklötze sind.«
Hilario, der Tendero, lachte und sagte: »Don Leobardo hat bereits Klubsessel in Mexiko City bestellt, auch einen extra für Sie, Don Remigio.«
Don Remigio schielte den Tendero an und grunzte: »Schitt, ich habe gerade jetzt keine Lust zu so dummen Witzen. Wer ist der nächste?«
Als der aufgerufene Indianer in der Tienda stand und seine Waren forderte, schien Don Remigio nach einer neuen Idee zu suchen, wie er sich von dieser langweiligen Arbeit befreien könne. Er hätte die Liste einfach dem Tendero geben und die Leute von diesem aufrufen lassen können. Aber Don Remigio traute niemand. Der Tendero würde vielleicht zwei oder drei Namen mehr aufschreiben, und Don Remigio hätte für das Konto aufkommen müssen. Die angeblich abgegebenen Waren könnte der Tendero im Camp verschachern. Es waren immer Käufer da. Besonders für geblümte Kleiderstoffe und für Seidenband.
Jedoch die Idee, die Don Remigio jetzt kam, war gut, und sie machte es für den Tendero schwierig, ihm Waren anzuschreiben, die weder er noch einer seiner Leute genommen hatte.
Er rief über die Schar hinweg: »Kann einer von der gottverfluchten Bande schreiben und lesen?«
Einige der Burschen sahen sich untereinander an. Mehrere der Indianer aber, die nicht genügend Spanisch verstanden, sondern nur ihre eigene Sprache redeten, wussten überhaupt nicht, was der Contratista wollte, und sie fragten diejenigen unter ihren Gefährten die sowohl Spanisch als auch Indianisch sprachen.
»Nichts Besonderes«, war deren Antwort.
Celso sagte halblaut zu dem neben ihm hockenden Andres: »Du kannst doch lesen und schreiben.«
»Natürlich kann ich es. Ich war ja Engargado, Karawanenführer, bei Don Laureano.«
»Recht so, dass du dich nicht meldest.« Celso nickte ihm kameradschaftlich zu. »Ich kann dir sagen, wenn sich einer meldet, schlage ich ihm am Abend die Fresse entzwei.«
Es waren vielleicht noch zwei oder drei in dieser Schar, die schreiben und lesen konnten, wenn auch nur sehr dürftig. Aber niemand meldete sich, obgleich keiner von ihnen gehört hatte, dass Celso sich den Eifrigen später genauer ansehen würde.
»Natürlich nicht«, sagte Don Remigio ärgerlich. »Wer könnte auch ein solches Glück hier haben?
Ich sicher nicht. Unter einem halben Hundert nicht ein einziger, der schreiben kann. Um so besser.
Verflucht noch mal, ich hätte doch wirklich jetzt Lust 'rüberzugehen und den gottverfluchten Hurenknecht so lange mit der Peitsche zu bearbeiten, bis er nüchtern wird. Aber damit ist mir ja auch nicht gedient. Dann streikt er mir morgen, und ich brauche das versoffene Schwein zu nötig, als dass ich mir den Luxus gestatten kann, ihm die Fetzen von den Knochen zu ziehen.«
So blieb ihm nichts anderes übrig, als hier zu sitzen, die Namen aufzurufen und die Konten zu vergleiche n. »Nie vordrängen! Mache dir das zu einem deiner wichtigsten Gesetze hier«, riet Celso dem Andres. »Man muss sich überhaupt nie vordrängen irgendwo im Leben. Nur dann, wenn es sich um deinen eigenen Pot handelt. Kriegst nie etwas dafür. Nur doppelte Arbeit und einen Tritt in den Ursch hinterher. Mich fängt niemand mehr mit süßen Reden ein und auch nicht mit schmeichelndem Lächeln auf den Lippen. Mich nicht, Manito, mein Brüderchen. Aber höre, du könntest mir helfen, schreiben und lesen zu lernen. Ich weiß schon etwas. Ich kann schon das große I schreiben, das ist nur ein Strich. Ich kann auch das große L, das ist nur ein Strich mit einem andern unten angesetzt, und das große T hat einen Strich und oben ein Dach darüber. Ich bin nicht ganz so dumm, wie du vielleicht glaubst.«
»Warum nicht? Como no? Macht mir Freude, dir das zu zeigen. Ich habe ja auch meine Mujer, meine Frau, schreiben und lesen gelehrt.«
»Wo ist denn deine Frau jetzt? Mit ihren Padres, ihren Eltern?« fragte Celso.
»Nein, sie hat keine Eltern mehr. Sie ist ganz allein in der Welt. Sie hat nur mich. Und ich bin für die Schulden meines Vaters hierher verkauft und kann gar nichts für sie tun. Nicht einmal schreiben. Ich weiß ja nicht, wo sie jetzt ist. Ich habe ihr geraten, nach Tonala zu gehen. Das ist an der Eisenbahn. Da kann sie bei einer Familie als Mädchen arbeiten. Sie heißt Sternchen, Estrellita. Das ist jetzt ihr Name.
Den Namen habe ich ihr gegeben. Als ich sie fand, da hatte sie keinen Namen. Vielleicht kommt einmal ein Bursche hierher, der von Tonala stammt, und dann kann ich vielleicht erfahren, ob sie dort angekommen ist und dort arbeitet.« Als er das erzählte, fühlte Andres in seiner Kehle ein merkwürdiges Drücken, und er spürte, dass sich seine Augen trübten. Als ihn Celso ansah, grinste er und sagte: »Weißt du, mir kommt der Schweiß in die Augen. Es ist verteufelt heiß hier, un verdadero infierno, eine Hölle.«
»Noch nicht, Brüderlein«, berichtigte Celso. »El infierno wirst du in zwei Wochen kennen, wenn wir im Semaneo sind und vor den Bäumen arbeiten. Dann hast du keine Zeit und keine Gedanken mehr für deine Estrellita, wo sie sein mag und was sie tut. Dann denkst du nur noch an dich und an nichts anderes mehr in der Welt.«

 

8

In diesem Augenblick wurde Andres von dem Contratista aufgerufen, zur Tienda zu kommen und seine Einkäufe zu machen. »Fünfzig Pesos Konto, Muchacho. Bestätigt Andres Ugaldo?«
»Si, patroncito. Richtig und bestätigt. Confirmo«, antwortete Andres.
Don Remigio verlangte von einem jeden Burschen die Bestätigung, das will sagen, der Bursche musste in Anwesenheit des Tendero und anderer, die hier herumstanden, durch sein Wort beglaubigen, dass er fünfzig Pesos auf sein Konto übernommen habe. Da die Leute weder lesen noch schreiben konnten und auch nicht mit größeren Zahlen zu rechnen verstanden, so mussten sie durch ihr Wort die Richtigkeit von Schulden, Vorschüssen und Konten bestätigen. Hierbei wurden die Indianer nie betrogen; denn das wäre ungesetzlich gewesen. Die genannten Summen waren immer richtig. Die Ausbeutung und Ungerechtigkeit geschah durch eine schamlose Erhöhung der Preise. Die Erhöhung der Preise, die durchaus einem infamen Wucher gleichkam, war gesetzlich zulässig. Ein Kaufmann hat zweifellos das Recht, die Preise festzusetzen, die er für nötig hält, um auf seine Rechnung zu kommen.
Aber hier gab es keine Konkurrenz. Die Arbeiter waren gezwungen, in der Tienda zu kaufen, denn nur hier konnten sie Ware erhalten, ohne Geld in der Tasche zu haben. Die Höhe der Preise war einfach zu begründen; und kein Wuchergesetz, selbst wenn ein solches bestanden hätte, würde in diesen Fällen Änderung schaffen können. Denn auch in den Städten waren Zinsen für Kapitalien in Höhe von fünfzehn, fünfundzwanzig und vierzig Prozent durchaus zulässig. Begründet wurden die Preise mit ungemein hohen Transportkosten, mit dem Risiko von Verlusten auf den Transporten und dem Risiko von
Verlusten, wenn etwa ein Schuldner wegstarb, ohne dass man seinen Bürgen zur Bezahlung heranholen konnte.
»Was willst du haben?« fragte der Gehilfe den Indianer.
»Ein Moskitonetz brauche ich.«
»Gut. Zwölf Pesos.« Der Gehilfe zerrte das dünne Gewebe aus dem Regal, in dem die Netze verstaut waren. Es kam nicht schnell genug heraus, und ein Stück des Stoffes riss auf. Damit wurde das Netz entwertet. In irgendeinem anderen Laden würde kein Käufer dieses Netz mehr angenommen haben. Ein Loch im Moskitonetz lässt die Moskitos so leicht und in solchen Mengen hereinkommen, besonders wenn der Schläfer in Schweiß ist, dass er so gut wie ohne Netz ist. Der Riss muss gut genäht werden. Aber dann ist es ein geflicktes Netz, und jeder Käufer, der für ein neues Netz bezahlt, hat das Recht, für sein Geld ein unzerrissenes und ungeflicktes Netz zu verlangen.
Der Gehilfe sah den langen Riss. »Das macht nichts, Muchacho, das steckst du mit einer Nadel zu.«
Er schenkte Andres zwei kleine Sicherheitsnadeln.
Andres wusste, dass er als Indianer und Arbeiter gegenüber einem Ladino, einem Mexikaner, nicht recht bekommen hätte, wenn er sich geweigert haben würde, das Netz anzunehmen. So sagte er nichts.
Er war, wie alle seine Gefährten, an derartige Kleinigkeiten so gewöhnt, dass er das gar nicht beachtete und weder verärgert war noch ein schiefes Gesicht zog.
Der Gehilfe ballte das Netz zusammen und warf es Andres zu, der es auffing und unter seinen linken Arm schob.
»Un mosquitero, ein Moskitonetz, zwölf Pesos, Andres Ugaldo«, wiederholte der Tendero, während er den Posten in das Kontobuch auf die Seite schrieb, auf deren erster Linie der Name des Mannes stand.
Er schrieb mit Kopierstift. Alles wurde mit Kopierstift geschrieben, weil Tinte unter dieser Sonnenglut nicht lange flüssig blieb.
»Bestätigt, Andres Ugaldo?« fragte der Tendero.
»Si, patron, es correcto.«
Ein Moskitonetz dieser billigen Sorte kostete in der nächsten Stadt drei Pesos. An der nächsten Eisenbahnstation kostete es in einer gewöhnlichen Tienda zwei Pesos oder gar noch fünfundzwanzig Centavos weniger, und es wurde dafür in Papier eingewickelt und sauber verschnürt.
»Was sonst?« fragte der Gehilfe.
»Un petate, eine Bastmatte, muy barato, sehr billig«, verlangte Andres.
»El mas barato, das allerbilligste, das wir haben in petates, kostet drei Pesos sechzig Centavos«, sagte der Gehilfe und zündete sich eine Zigarette an.
Auf dem Samstag-Wochenmarkt in Jovel kostete eine solche Matte vierzig Centavos. Sie war dick, roh, aus dem gewöhnlichsten Bast geflochten und ohne irgendeine der bunten Verzierungen, die von den indianischen Mattenflechtern hineingewoben werden.
Andres kannte die Preise recht gut, wie er auch die wahren Preise für diese Art der Moskitonetze und der meisten Waren kannte, die hier verkauft wurden. Er war Jahre hindurch Carretero gewesen, hatte in den Karawanen für Zehntausende von Pesos Waren von der Eisenbahnstation zweihundert und dreihundert Kilometer weit auf elenden und gottvergessenen Landwegen in das Innere des weiten Staates transportiert, alle Märkte besucht, die er auf seinen Wegen antraf, und dadurch eine reiche Kenntnis nicht nur von Preisen, sondern auch von der Qualität und Brauchbarkeit aller nur denkbaren Waren gewonnen.
»Die Matte ist aber sehr teuer«, sagte er, um seine Pesos kämpfend, die er noch gar nicht verdient hatte.
Der Tendero blickte von dem Kontobuch auf und sah sich den Mann an, der hier zu sprechen wagte.
In allen Monterias und in allen Tiendas der Monterias wurde es als schwere Majestätsbeleidigung betrachtet wenn ein indianischer Arbeiter den Mund aufmachte, um etwas zu sagen, was wie eine eigene Meinung klingen konnte. Es war nicht nur so in den Monterias, sondern in der ganzen weiten Republik unter der Diktatur, dass kein Arbeiter, weder in Fabriken noch auf den Gütern und erst recht nicht in den Kaffeeplantagen, Zuckerpflanzungen und Chiclewäldern ein Wort äußern durfte, ohne darum gefragt worden zu sein. Er hatte die Meinung auch des ungewaschensten seiner Vorgesetzten ohne Widerspruch und mit derselben Andacht und Demut hinzunehmen wie eine Predigt in der Kirche.
Der Tendero schien aber in guter Laune zu sein, oder er wollte sich nicht aufregen, weil er vielleicht für den Abend andere Aufregungen erwartete.
Nachdem er Andres einige Sekunden verwundert angeblickt hatte, sah er hinüber zu Don Remigio, der sich inzwischen wieder einen heftigen Habanero eingeschenkt hatte und offenbar wenig Notiz nahm von dem, was hier vorging.
Der Tendero lachte kurz auf und wollte wahrscheinlich den Widerspruch Andres' für einen Witz gebrauchen. Aber als er bemerkte, dass Don Remigio in eine andere Richtung über den Platz sah, wo abermals buntgeblümte Kattunröcke um nackte Bäuche schlenkerten, beschloss er, sich den Witz für eine andere Gelegenheit aufzubewahren. Gute Witze sind in den Monterias kostbare, vielbegehrte und vielgeraubte Güter, und Hilario wollte den Witz, den er sich ausgedacht hatte und von dem er glaubte, er sei gut, nicht verschwenden.
Darum sagte er nur: »Sieh doch mal an, was für einen klugen Mann wir hier vor uns haben. Zu teuer für dich. Ich werde mich auf meinen Hintern setzen und für dich eine besondere Matte flechten, für fünf Centavos. Willst du denn nicht, dass ich dir auch noch ein Paar wollene Strümpfe stricke mit Bommeln dran?«
»Nein, das verlange ich nicht Senor«, erwiderte darauf Andres in einem Ton, als ob er das in seiner Dummheit daherspreche. Aber andere Burschen, die nahe standen, begriffen den Hohn, der in den Worten Andres' lag, und lachten laut auf.
Das brachte den Tendero jetzt in Wut, und er brüllte Andres an: »Chingate tu madre, du gottverfluchter Cabron und Sohn einer stinkenden Hündin, wenn dir die Matte zu teuer ist, dann schitt dir eine aus deinem stinkigen Hintern heraus, wenn du sie so billiger haben kannst.«
»Was ist denn da los, Kreuz und Hölle noch mal?« rief Don Remigio. »Zu allen Teufeln und Heiligen, Don Hilario, tun Sie mir, bei Gott dem Allmächtigen, doch endlich den Gefallen, und beeilen Sie sich mit den Muchachos hier. Ich bin es wahrhaftig müde, hier auf meinem alten Ursch zu sitzen und die Namen herunterzubeten wie einen albernen Rosenkranz, verflucht noch mal. Schwung dahinter, oder ich ziehe mit meinen Burschen ab, ohne Konto zu nehmen.«
»A sus ordenes, Don Remigio, bin zu Ihren geschätzten Befehlen«, sagte der Tendero jetzt eingeschüchtert. Sich mit einem Contratista zu verzanken, das konnte er sich nicht erlauben. Er würde eine jämmerliche Abreibung über sich ergehen lassen müssen, wenn Don Remigio abmarschieren würde, ohne Waren auf Konto zu nehmen, und der Verwalter das erführe.
Weniger heftig als zuvor, sagte er nun zu Andres: »Wenn dir der Petate zu teuer ist, dann musst du freilich versuchen, ohne ihn auszukommen. Wir haben keinen, der billiger ist.«
»Gut, geben Sie mir ihn, Jefe, ich muss einen haben.«
»Un petate, drei Pesos sechzig Centavos, Andres Ugaldo.
Bestätigt, Muchacho?« »Correcto, senor.«
»Was weiter?« fragte der Gehilfe, nachdem er Andres angewiesen hatte, sich eine der Matten zu nehmen, die in einer Ecke aufgerollt standen.
»Drei Puppen Tabak«, forderte Andres.
»Nimm sechs, Muchacho«, mischte sich Don Remigio ein, »wahrscheinlich kommst du vor acht oder zehn Monaten nicht wieder hierher, wenn wir erst einmal tief drin sind.«
»Gut, dann sechs«, sagte Andres. »Oder geben Sie mir acht.«
»Verflucht noch mal!« rief nun der Gehilfe. »Willst du sechs oder acht? Sag, was du willst.« »Acht.«
»Du, Andres, oye, höre«, rief Celso ihm zu, »die schimmeln dir, wenn du so viele nimmst.«
»Halt dein dreckiges Maul, du da!« schrie der Tendero hinüber zu Celso. Und während er das Konto aufschrieb, las er: »Neun sechzig, jede Puppe eins zwanzig. Bestätigt?«
»Cierto, senor«, erwiderte Andres.
»Was mehr?« fragte der Gehilfe, Andres die Tabakpuppen von einem Winkel aus zuwerfend.
»Nada mas, nichts weiter«, antwortete Andres und schickte sich an, die Tienda zu verlassen.
»Wie viel hat er denn?«
Don Remigio sah auf.
Don Hilario zählte zusammen und sagte: »Fünfundzwanzig zwanzig.«
»Kannst doch fünfundzwanzig mehr nehmen, Muchacho«, rief Don Remigio.
»Gracias, patroncito, muchas gracias, vielen Dank, aber ich brauche nichts weiter.«
»Kein Hemd, keine Hose?« fragte Don Remigio misstrauisch.
Andres war nackt am Oberkörper wie alle Burschen. Sie alle hatten ihre schweren Packen auf dem Rücken zu tragen und wollten ihre Hemden schonen, die sonst auf dem Marsch durchgescheuert worden wären.
»Ich habe meine Hemden im Packen, Patron.«
»Deine Hose ist aber ganz zerlumpt. Nicht ein Stück heil.«
»Ich habe eine andere Hose im Pack, Patroncito, mit Ihrer sehr gütigen Erlaubnis«, sagte Andres mit bescheidener Stimme.
»Ganz wie du willst, Muchacho«, sagte Don Remigio. »Der nächste. Gregorio Valle von Bujvilum.«
Und zu dem Tendero gewendet, fügte er hinzu: »Den hat mir Don Gabriel eingefangen. Don Gabriel, wissen Sie, war früher Secretario municipal in Bujvilum. Sehr dick mit Don Casimiro, dem Jefe Politico da oben. jetzt ist er Socio, Geschäftsteilhaber des Don Ramon. Er ist, den Don Gabriel meine ich, ein gottverfluchter Schurke. Ich würde nicht allein mit ihm durch den Dschungel reisen.«
»Kenne ihn nicht«, erwiderte Don Hilario, »aber was ich über ihn gehört habe, ist nicht vom Besten, sondern vom übelsten.« Sich an Gregorio wendend, fragte er: »Was willst du haben?«
»Nada«, sagte Gregorio kurz und ein wenig störrisch.
»Nichts?« wiederholte der Tendero.
Und »Nichts?« fragte auch gleichzeitig und mit einem verwunderten Tonfall Don Remigio.
»Nein, nichts«, sagte noch einmal Gregorio. »Ich will die Geldstrafe abarbeiten, die mir Don Gabriel auferlegte für einen Händel, den ich hatte, und dann will ich heim zu meiner Frau und meinen Kindern.«
»Kannst doch aber hier für fünfzig Pesos Waren auf das Konto nehmen«, erinnerte ihn Don Remigio.
»Das weiß ich, Patroncito; aber dann muss ich um so viele
Monate länger hier bleiben, um die neue Schuld abzuverdienen, und meine Frau und meine Kinder warten auf mich.«
Don Remigio grunzte vor sich hin, zuckte dann die Schultern und sagte zu Don Hilario: »Wenn er nichts nehmen will, gut, was kümmert mich das?«
Er wollte den nächsten aufrufen, als Gregorio mit etwas zögernder Stimme sagte: »Ich werde sechs Puppen Tabak nehmen.«
Er hatte die acht Puppen Tabak im Arm Andres' gesehen, und als er beim Eintreten in die Tienda an ihm vorbeistreifte, war ihm der würzige Duft des frischen, reinen, ungebeizten Tabaks um die Nase geweht. Das erregte nun sein Verlangen nach Tabak. Es wurden ihm die verlangten sechs Puppen ausgehändigt, er bestätigte den Betrag, und als er nochmals gefragt wurde, ob er denn nichts weiter benötige, sagte er entschieden: »No, patron, gracias.«
»Celso Flores«, rief Don Remigio nun auf.
Und »Celso Flores«, wiederholte Don Hilario, den Namen ins Kontobuch schreibend.
Celso trat vor die Ladenplatte, und ohne gefragt zu werden, polterte er heraus: »Sechs Puppen Tabak.«
Als er sie genommen und den Betrag bestätigt hatte, drehte er sich kurz um und wollte die Tienda verlassen.
»He, du!« rief ihn Don Remigio an. »Ist das alles, was du nimmst?«
»Alles, Patroncito«, sagte Celso und trat hinaus zu seinen Genossen. Don Remigio stand mit einem Ruck auf und sah den Tendero an.
»Was ist denn das? Was ist denn hier los?« fragte er aufgeregt. »Lassen Sie mal sehen.« Er zog das Buch zu sich heran, drehte es um, so dass er die Konten lesen konnte und blätterte alle die Seiten zurück, auf denen die neuen Konten aufgeschrieben waren. Er überflog die Konten und sagte dann zu Don Hilario: »Das ist aber -, nicht einer hat für mehr als dreißig Pesos genommen.«
»Stimmt!« erwiderte der Tendero. »Gewöhnlich reichen die fünfzig Pesos Konto nicht aus, und wir gehen oft bis achtzig hinauf, um jedem das zu geben, was er verlangt.“
Don Remigio blieb an der Ladenplatte stehen, warf einen Blick auf die Liste und rief den nächsten auf.
»Was willst du denn nehmen?« fragte er ihn gleich beim Eintreten. »Vielleicht gar nur drei Puppen Tabak?«
»Mit Ihrer gütigen Erlaubnis, Patron, ich möchte vier haben«, sagte der Bursche, seinen Kopf demütig zwischen die Schultern steckend.
»Und sonst nichts weiter? Ist das richtig, Sohn einer verfuckten Hure?« fragte Don Remigio, höhnisch die Zähne fletschend.
»Con su muy amable permiso, patroncito, mit Ihrer sehr wohlwollenden Erlaubnis, das ist richtig, ich will nichts weiter haben als vier Puppen Tabak«, erwiderte der Indianer.
»Und nur Lumpen auf dem dreckigen Ursch«, schrie Don Remigio erbost. »In deinem Packen hast du doch nicht einen einzigen stinkigen Fetzen. Das weiß ich.«
»Wenn Sie mir gütigst ein Wort gestatten wollen, Patroncito, ich habe aber in meinem Packen ein Moskitonetz und eine noch gute Matte. Und Hemden oder Hosen brauche ich nicht im Semaneo. Ich arbeite nackt.«
Don Remigio holte aus und wischte ihm eins quer über das Gesicht.
Der Bursche stand für eine Weile stockstill; und als er sah, dass der Contratista wieder im Buche blätterte und ihm keinen weiteren Hieb zu verabreichen gedachte, wandte er sich um, presste seine vier Puppen Tabak unter den Arm und ging hinaus, wo er sich zwischen die lagernden Leute schlängelnd verkrümelte.
Als auch der nächste nur drei Puppen Tabak verlangte und nichts weiter, brauste Don Remigio auf:
»Por la Madre Santisima y por Jesu Cristo, das ist Meuterei! Hier ist ja die Meuterei in vollem Gange!«
»Regen Sie sich doch nicht so sehr auf«. beruhigte ihn der Tendero. »Das ist nichts Neues, Don Remigio. Es kommt doch häufig vor, dass die Leute, wenn sie hier ankommen, nichts kaufen, weil sie von der Feria in Hucutsin genügend mitbringen.«
»Ich weiß nicht.«, sagte darauf Don Remigio, nachdenklich werdend, »das mag sein. Mag sein. Ist vorgekommen. Aber in diesem Falle ist etwas nicht in Ordnung. Wo ist denn dieser gottverfluchte Hurensohn von einem Capataz? Der würde sie sich schon vornehmen, dass sie es vergessen, hier Worte zu machen. Aber besoffen ist das Schwein und liegt in seinem eigenen Schitt und wälzt sich herum mit den verfluchten Hurenweibern.«
»Der nächste? Wie heißt du denn?« Don Remigio hatte ganz vergessen, in die Liste zu sehen und nach der Liste aufzurufen. Er zerrte einfach den ihm am nächsten Stehenden heran und fragte nach dem Namen. »Santiago Rocha, su humilde servidor, patroncito«, sagte der Bursche und ging in die Tienda.
Don Remigio fand seine Ruhe wieder, als er hörte, dass Santiago nicht nur sechs Puppen Tabak nahm, sondern außer einem Moskitonetz auch noch soviel andere Sachen einkaufte, dass er sehr nahe an die fünfzig Pesos kam, die jedem zugebilligt waren.
»Wie hoch ist denn dein Konto überhaupt bei mir?« fragte Don Remigio plötzlich.
»Ich habe nur die fünfzig Pesos Konto, die Don Ramon für den Enganche, die Anwerbung, berechnet. Ich bin auf dem Wege mit in den Trupp gekommen.«
»Keinen Kontrakt dann mit der Behörde in Hucutsin?«
»Nein, Patroncito. Aber jetzt habe ich beinahe schon hundert Pesos auf meinem Konto.«
»Bueno, gut, mache dich hier 'raus aus der Tienda und lass den nächsten antreten.« Don Remigio rief einen neuen Namen auf.
Santiago Rocha, der wie auch Andres Carretero war, befand sich unter den angeworbenen Arbeitern, weil er fliehen musste, nachdem er den Verführer seiner Frau, einen Tiendabesitzer in Cintalapa, mit einer Aguardienteflasche erschlagen hatte. Auf seiner Flucht war er auf den Trupp der angeworbenen Caobaleute gestoßen und hatte sich unter sie gemischt, um mit ihnen in die Gebiete der Monterias zu gelangen, wo ihn kein Polizist je suchen würde. Und weil er auf seiner rasch beschlossenen Flucht nicht viel hatte mit sich schleppen können, war er nun gezwungen, das einzukaufen, was er am nötigsten brauchte. Mit diesen Gründen entschuldigte er sich bei Celso, der allen geraten hatte, so wenig wie möglich auf ihr Konto zu nehmen, und er glaubte nun, dass Celso ihm der vielen Einkäufe wegen vielleicht ein grimmiges Gesicht machen würde.
Jedoch Celso verstand und sagte, es sei gut so und er mache ihm keinen Vorwurf. »Es ist überhaupt gut, dass du mehr nahmst als die übrigen«, fügte er hinzu, »el Patron würde sonst gar zu leicht gemerkt haben, dass wir hier etwas unter uns abgemacht haben, und es ist besser, wenn er nichts merkt.«

 

9

Als endlich alle Einkäufe vorüber waren, sagte Don Remigio zum Tendero: »Lassen Sie mich das Kontobuch einmal sehen.«
Der Tendero drehte das Buch so herum, dass es vor Don Remigio lag. Der Contratista blätterte darin herum und schüttelte den Kopf. Während er das Buch dann wieder zurückdrehte, zuckte er mit den Schultern und setzte eine gedankenvolle Miene auf.
Darauf sagte der Tendero. »Ja, ich finde es auch merkwürdig, es ist niemals in einem neuen Kontrakt so wenig auf Konto gekauft worden. Ob da vielleicht etwas nicht stimmt? Wie denken Sie darüber, Don Remigio?«
»Was soll denn da nicht stimmen, möchte ich wissen?« erwiderte der Contratista. Aber in seinen Worten klang ein Ton von Ungewissheit mit, den Don Hilario, der Tendero, sehr richtig auslegte; denn er meinte: »Ich denke nicht, dass man Sorge zu haben braucht, die Muchachos sind willig und geduldig, und wenn sie gelegentlich ihren Aguardiente haben und sich hin und wieder einmal gut voll gießen können, sind sie zufrieden wie die Engel im Himmel..“
»Das ist es eben, Don Hilario, was mich auf die Sache gebracht hat. Die haben kaum irgendwelchen Aguardiente genommen. Es ist nicht der Rede wert. Sonst, wenn ich einen neuen Kontrakt brachte, konnten sie nie genug Branntwein kriegen. Am liebsten hätten sie ganze Fässer voll mit in den Dschungel geschleppt. Schenken Sie mir mal einen kräftigen ein! Nein, nicht das Fingerhütchen, Dios mio, geben Sie mir das Wasserglas voll. Lohnt sich ja nicht die Mühe, den Teelöffel voll überhaupt aufzuheben.«
Don Remigio schwenkte die Ladung ein, grunzte, schüttelte sich, trat halb hinaus aus der Tienda und stand da, nachdenklich über die Gruppe der Leute hinwegblickend, die sich lässig hingelagert hatten und schwatzten.
»He du!« rief er den Burschen an, der ihm am nächsten lagerte. »Wie heißt du denn?«
»Luis Campos, a sus ordenes, patroncito.«
»Komm her!«
Der Bursche, der vom Boden aufgestanden war, als er nach dem Namen gefragt wurde, sprang dicht vor Don Remigio hin: »A sus ordenes, patroncito, ich stehe zu Ihren Befehlen!«
»Willst du einen Trago haben, einen guten Schluck?«
»Ganz wie es Ihnen beliebt, Patroncito.«
»Gießen Sie ihm eine Copita ein, Don Hilario, den gewöhnlichen«, sagte der Contratista zum Tendero.
Der Bursche schoss das Glas mit einem Zug hinunter, wischte sich mit der flachen Hand über den Mund und sagte, eine kurze Verbeugung machend: »Muchas gracias, patroncito!« Und gleich darauf, nachdem er einige Sekunden auf einen neuen Befehl gewartet hatte, begann er sich hinwegzuschlängeln in so geschickter Weise, dass man nicht den Eindruck gewann, er wolle sich absichtlich einem Auftrage entziehen. Aber Don Remigio kümmerte sich nicht weiter um den Burschen. Er sah ihn zurückgehen zu seinem Packen, ohne ihn zurückzurufen und ohne ihm zu erklären, warum er ihn gerufen und nach dem Namen gefragt habe. Er blickte im nach mit leeren Augen, die nicht nur an dem Burschen, sondern an der gesamten Schar, die hier lagerte, vorbeisahen, als wäre da nur Luft.
Er drehte sich um zu Don Hilario. »Schenken Sie mir ein neues großes Glas voll. Ich kann meine gottverfluchte elende trockene Kehle heute nicht feucht kriegen. Caray, ich möchte wissen, was mit mir los ist? Ich bin nicht mehr der alte, das können Sie mir glauben, Don Hilario. Die Calentura, der verfluchte Paludismo, das Dschungelfieber, sitzen mir tief in den Eingeweiden, und das gottverdammte Gift geht nicht mehr
'raus. Das ist es, was mit mir los ist. Ich fürchte, das ist der letzte Kontrakt den ich mache.«
»Ja, das weiß ich, Don Remigio. Wie viel letzte Kontrakte haben Sie eigentlich schon gemacht?« Don Hilario lachte, als er das sagte.
Der Contratista sah den Tendero an, lachte gleichfalls, zog seinen Gurt hoch, reckte sich in den Schultern, schob den Revolver weiter vor, ging einen Schritt auf die Tür zu und rief hinüber zu den lagernden Burschen: »Los, adelante, muchachos! Rüber zu der Bodega!«

 

10

Die Schar wurde beweglich. Die Burschen richteten sich auf, warfen die Traggurte ihrer Packen über die Stirn und marschierten, der Richtung folgend, die ihnen Don Remigio mit dem Arm angedeutet hatte, hinüber zur Bodega.
Die Bodega war der Lagerschuppen, in dem alle die Geräte, Geschirre, Klammern, Ketten, Kletterhaken, Äxte, Machetes und sonstigen Werkzeuge aufbewahrt wurden, die in der Monteria gebraucht wurden. Der Verwalter der Bodega war Don Mariano Tello, ein Angestellter der Company, der mit Hilfe zweier indianischer Burschen den Vorrat in Ordnung hielt, die Bücher des Lagers führte und, wenn im Schuppen nichts zu tun war, die Arbeiten der Schmiede und Geschirrmacher überwachte. Es blieb ihm immer noch genügend Zeit übrig. Deshalb wurde er in der ersten Woche eines jeden Monats herbeigezogen, um bei der Aufstellung der monatlichen Abrechnungen zu helfen.
Dass Bücher geführt werden mussten und dass vom Hauptquartier der Company in San Juan Bautista regelmäßig eine monatliche Bilanz verlangt wurde, fiel dem Administrador offenbar immer erst ein, wenn er sich erinnerte, dass er sich mitten in der letzten Woche des Monats befand und seit dem Ersten des Monats keine oder nur gelegentliche Eintragungen gemacht worden waren. Dann wurde plötzlich von morgens sechs bis abends um neun in den Oficinas gewütet, um den Monatsbericht zu schaffen.
Und es waren diese Arbeiten, bei denen der Bodegaverwalter heftig mitzuarbeiten hatte, um die drei Wochen Faulenzerei der Büroangestellten ausgleichen zu helfen. Jedes Mal, wenn die Schreiber, Buchführer und sonstigen Angestellten sich vor einem gewaltigen unaufgearbeiteten Berg von Listen, Zetteln, Notizblättchen, Mahagonispänen mit aufgekritzelten Ziffern und
Hieroglyphen hocken sahen, wie es in jeder letzten Woche eines jeden Monats geschah, dann schworen sie sich zu, im nächsten Monat einmal gleichmäßiger zu arbeiten und keinen Tag vorübergehen zu lassen, ohne an jedem Abend jede Eintragung und Verrechnung am richtigen Ort zu haben.
Aber wenn dann der Monatsbericht unter Stöhnen und Schwitzen endlich mit den Postreitern abgegangen war, dann fühlten sie sich so erschöpft, dass sie sich erst eine volle Woche ausruhen mussten. um wieder zu Kräften zu kommen, während dieser Woche wurde so viel getrunken, gespielt und herumgehurt dass sich die armen Leute in der folgenden Woche von den Anstrengungen der Erholungswoche ausruhen mussten und darum gleichfalls nicht arbeiten konnten. Die nächste Woche darauf gebrauchten sie dann, um ins Gleichgewicht zu kommen und sich mit neuen Kräften zu stählen. Dann kam die letzte Woche des Monats, in der wie üblich übermenschlich gewütet werden musste, um den Bericht fertigzuschaffen.
Diese Unregelmäßigkeit im Arbeiten erreichte ihren höchsten Grad während der Regenperiode.
Dann konnten die Postreiter weder kommen noch gehen, weil sie mit den Pferden in Sümpfen und Morästen versunken wären. Nun häuften sich solche Berge von Arbeiten auf, dass die Papiere und Listen einen weiten Raum vom Boden bis zum Dach anfüllten; jede Arbeit wurde von Woche zu Woche und von Monat zu Monat verschoben, und jeder tröstete sich damit dass des ewigen Regens wegen ja doch keine Berichte abgeschickt werden könnten und auch niemand vom Hauptquartier hier herkomme und man ruhig mit den vier oder fünf Monatsberichten warten könne, bis man sehe, dass sich die Regenperiode ihrem Ende zuneige.
Obgleich nun die Menge von Arbeiten, die der Bodegaverwalter zu bewältigen hatte, einen tiefen Eindruck machte auf jeden, dem man diese Arbeiten aufzählte, so muss dennoch  gesagt werden,  dass  der Bodegamann  ein  sehr beschauliches Dasein zu führen imstande war. Das war vielleicht der Grund, dass er sich ungemein nervös und aufgeregt gebärdete, wenn eine Gruppe von Arbeitern zu seiner Bodega kam, um Werkzeuge zu verlangen. Dann schrie und fluchte er auf seine beiden indianischen Jungen los, dass man es über das ganze Gelände hören konnte. Den Arbeitern wurden die Sachen mit Wutgebrüll zugeworfen, und wenn sie nicht schnell genug waren, ihren Namen zu nennen, warf er ihnen ins Gesicht was er zur Hand hatte. Zuerst traten die Hacheros vor, die Schläger. Jeder Hachero erhielt zwei gute Stahläxte. Minderwertige Äxte konnten gegenüber diesen eisenharten Hölzern nicht gebraucht werden. Jedem Mann wurden die Äxte auf sein Konto geschrieben. Die Summe, die den Schlägern für jede Axt angerechnet wurde, war das Dreifache des Preises, für den die Axt in einem Eisenwarenladen an der nächsten Eisenbahnstation gekauft werden konnte, wo sie, verglichen mit den Preisen in den großen Städten, an und für sich schon sehr teuer war. Freilich, wenn der Schläger nach Ablauf seines Kontraktes die Äxte zurückbrachte, auch wenn sie durch Arbeit beschädigt waren, wurden sie ihm von seinem Konto wieder abgeschrieben. Jedoch, so sorgfältig auch die Leute mit den Äxten umgingen, es war oft ganz unvermeidlich, dass ihnen eine oder gar beide Äxte verloren gingen.
Der Dschungel ist keine Wiese, kein Ackerfeld, kein gepflegter Tannenwald. Beim Arbeiten geschieht es sehr leicht, dass die Axt dem Schläger aus der Hand fliegt und in einen Fluss hineinsaust oder in eine tiefe Schlucht, die so dicht mit Dschungelgestrüpp bewachsen ist, dass der Mann tagelang den Busch auslichten mag und seine Axt dennoch nicht wieder findet. Oder die Axt fällt während der Regenzeit in einen der weiten Moräste. Wenn der Schläger nicht ganz genau gesehen hat, wohin die Axt fiel, kostet es tagelanges und sehr oft vergebliches Suchen, die Axt zu fischen.
Nicht selten kostet es dem Mann das Leben, weil er während es Suchens im Sumpf den Boden unter den Füßen verliert.
Nach den Hacheros folgten die Macheteros, die je zwei Machetes erhielten, gleichfalls auf ihr Konto.
Dann wurden die Kletterhaken ausgegeben, für die jedes Mal eine bestimmte kleine Kolonne verantwortlich war, weil nicht jeder Mann solche Haken täglich brauchte, sondern nur unter besonderen Verhältnissen.
Endlich kamen die Boyeros, die Ochsenknechte, an die Reihe. Sie erhielten Geschirre, Ketten, Klammern und Taue. Jeder Mann wurde zu seinem Teil für bestimmte Dinge dieser Ausrüstung haftbar gemacht dadurch, dass ihm ein Anteil auf sein Konto geschrieben wurde.
Obgleich die Preise aller dieser Werkzeuge und Ausrüstungen beträchtlich höher waren als die, die man dafür in den Städten verlangte, kann nicht gesagt werden, dass der Preis übermäßig ungerecht gewesen wäre. Selbst ein sehr starkes und gutgedrilltes Mule konnte auf diesen langen Wegen durch den Dschungel kaum mehr als je vier Meter kräftiger Kette schleppen. Vier Pickhacken oder sechs Äxte waren gewöhnlich bereits eine gute Ladung für ein Tier.
Die Arbeiter persönlich für die Werkzeuge und Ausrüstungen verantwortlich zu machen erschien ungerecht. Aber es darf nicht übersehen werden, dass, ganz abgesehen von dem Preis, die Werkzeuge im Dschungel unersetzlich waren. Sie waren hier so wertvoll wie für einen Brunnenbohrer oder Kohlenbohrer der Diamant. Bricht der Diamant aus, so werden Tage darauf verwendet, den Diamanten wieder zu fischen. Fehlten Werkzeuge, so konnte nicht voll gearbeitet werden; und es mochte je nach der Jahreszeit und der Beschaffung der Dschungelpfade Monate dauern, ehe die verloren gegangenen Werkzeuge wieder ersetzt werden konnten.
Nachdem die Leute endlich alle ihre Geräte in Empfang genommen hatten und der Geräteverwalter zum zehnten Male heulte, dass, wenn ihm noch ein einziger Mann jetzt mit einer Beschwerde komme, dass seine Äxte zu leicht seien oder zu abgearbeitet oder zu stumpf, er den Mann sofort erschießen würde und er außerdem jetzt vor Hunger umfalle und einen guten Schluck nehmen müsste, war es Abend geworden. Er verschloss die rohe Tür mit einem Vorhängeschloss und sagte zu dem Contratista: »Wenn Sie sonst noch etwas brauchen, Don Remigio, dann kommen Sie morgen früh.«
»Mir recht. Ich bin übrigens ganz Ihrer Meinung, auch ich brauche einen tüchtigen Zug jetzt. Meine Kehle ist wie ein alter ausgetrockneter Lederschlauch. Ich kann nicht mal mehr schlucken. Fühlen Sie mal hier her, Don Mariano.«
»Ich brauche Ihre Gurgel nicht abzufühlen«, erwiderte Den Mariano mit leidender Stimme. »Sie sollten die meine erst einmal von innen sehen. Die ist völlig versteinert, und ich kann Ihnen sagen, Den Remigio, wenn ich nicht bald von hier fortkomme und unter zivilisierte Menschen, dann können Sie mir eine Kette um den Hals schließen und mich an einem Baum anketten. Ich kann Ihnen im Vertrauen sagen, ich bin auf dem besten Wege, mich hier in einen Gorilla zu verwandeln. Glauben Sie es oder nicht, aber ich habe in den letzten vier Monaten schon dreimal geträumt, dass ich ein Gorilla sei und wie blöd auf meine Brust hämmere, und im Schlaf habe ich so sehr gebrüllt, dass die beiden Schreiber, die mit mir im selben Bungalow hausen, auffuhren und mir einen Eimer Wasser über den Kopf stülpten. So sehr hatte ich sie in meinem Traum in Angst gebracht, dass sie fürchteten, ich wolle sie lebendig auffressen.«
»Da Sie vom Essen sprechen, Den Mariano«, sagte der Contratista, »ich habe einen mächtigen Hunger. Scheint, der gottverfluchte Heide von einem Chink hat vergessen, zum Abendessen zu klingeln.«
Als habe der Chinese nur auf diese Beschwerde gewartet und vielleicht in der Luft gefühlt, dass ihn jemand anschreien würde, wo denn heute das Abendessen bliebe, trat er aus seiner Küche heraus und schwenkte die große Handglocke zum Zeichen, dass alle Caballeros zum Comedor, zum Speisesaal, kommen mögen, wo er bereit sei, ihnen zu offenbaren, welcher Zauberkünste er fähig sei.

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