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B. Traven - Die Troza (1936)
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VIERZEHNTES KAPITEL

1

Zwölf Gespanne zogen an der Troza. Zu beiden Seiten wateten drei Boyeros, mit ihren Haken die Troza hin und her schiebend und aus dem Morast herauszerrend. Beinahe bis an die Hüften hinauf wateten die Burschen im Morast, und wenig Gewalt hatten sie über die Troza, die unausgesetzt im Morast verschwand und nur gefunden und gefischt werden konnte, wenn man der Kette folgte, an der sie eingehakt war.
Die Jungen und die übrigen Boyeros wateten neben den Ochsen her, die Tiere antreibend mit spitzen Stöcken, mit Schreien und Fluchen. Auch die Ochsen wateten bis zu ihren Lenden in dem zähen Morast, und sie hatten vielleicht noch mehr Mühe, um weiterzukommen, als die Burschen. Sie brachten ihre Be ine nie völlig heraus aus dem dicken Brei, sondern sie schleiften Beine und Körper in dem tiefen, fetten, schleimigen Lehm.
Alle fünf Schritte blieb der ganze Zug stehen. Burschen und Ochsen keuchten und brauchten frischen Atem. Und das, was von Mensch und Tier über dem Morast sichtbar war, triefte von Schweiß. Die Beißfliegen lagen in dicken Schwärmen über dem Zug, hieben an einer Stelle in das Fleisch der Burschen oder der Ochsen, rissen ein Stück heraus, ließen eine glitzernde Linie rinnenden Blutes zurück, flogen auf, bissen sich an anderer Stelle fest, rissen wieder einen kleinen Fetzen heraus und flogen auf, um an anderer Stelle abermals einzufallen.
Während die Gespanne standen, waren die Burschen mit allen ihren Kräften tätig, die Troza, die im Morast völlig versackt war und sich in Wurzeln und Lianen verhakt hatte, herauszuzerren und hochzubringen. War sie endlich freigelegt, dann wurde die lange Reihe der Gespanne angetrieben. Es ging vielleicht zwanzig Schritt voran, und dann war die Troza schon wieder im Schlamm versackt und den Augen entschwunden. Die Ochsen, noch in vollem Zug, zerrten die Troza noch einige Schritte weiter, ehe sie zum Stehen kamen, und nun war die Troza so eingerammt in den Morast, dass auch die doppelte Anzahl von Gespannen sie nicht hätte weiterziehen können. Der ganze Zug hielt wieder an.
Unter Fluchen und Stöhnen ging das Ausgraben der Troza vor sich. Und war sie endlich abermals herausgefischt, dann gelang es den Burschen, sie wieder einige zwanzig Schritte weiterzuschleppen, bis sie wieder versunken war und wieder herausgegraben werden musste.
Die Muchachos, die neben den Ochsen gingen, sie antrieben und dabei die Zugketten unausgesetzt aushoben und herauszerrten, damit die Ketten sich nicht unter Wurzeln und versumpftem Gesträuch verklemmten, befanden sich ständig mehr in dem Morast als auf ihm. Ein ungeschickter Schritt ließ sie unter die Füße der Ochsen rutschen. Die Tiere, mit all ihrer Kraft vorwärtszerrend, geplagt von Tausenden von Insekten, infolge der infernalischen feuchten Hitze halb erblindet, von der Anstrengung der Arbeit, dem Brüllen der antreibenden Burschen und dem unausgesetzten Einstechen der Treibstöcke wie wild geworden, traten den Burschen, der unvorsichtigerweise unter ihre Füße gekommen war, unbarmherzig in den Morast. Es geschah alle fünfzig Meter, dass ein Bursche unter den Füßen der Ochsen im Schlamm verschwand. Der Zug konnte nicht auf die Sekunde genau angehalten werden; denn wenn die Muchachos auch die beiden Gespanne, die am nächsten waren, zu halten versuchten, so zerrten die vorangehenden Gespanne weiter, und die folgenden drängten nach.
Nur ihre große Geschicklichkeit im Gebrauch ihrer Körper und die Geschmeidigkeit aller ihrer Glieder retteten die Burschen, die, unter die Füße der Ochsen gerieten.
Aus diesem Grunde war die erste Warnung, die ein neuer Boyero von den erfahrenen erhielt, immer:
»Junge, sieh dich vor, dass du nicht unter die Ochsen gerätst! Aber wenn du einmal drunter bist, warte nicht, bis der Zug steht, sondern winde dich heraus, rascher und geschickter als eine verfolgte Iguana.«
Diese Warnung hatte zur Ursache, dass die neuen Burschen nicht nahe genug an die Gespanne herangingen, wenn der Zug in Fahrt war, und darum verzögerten diese Neuen die Arbeit des Tages erheblich. Jedes Gespann brauchte seinen eigenen Jungen, um den Zug in Gang zu halten und auf die Zugketten zu achten, damit sie sich nicht verfingen. Das aber erforderte ein so nahes Herangehen an die arbeitenden Ochsen, dass der Junge dabei meist zur Hälfte unter dem Körper des einen der beiden Ochsen war, und er brauchte nur mit einem Bein in ein Loch zu glitschen, aus dem soeben ein Ochse das Vorderbein herausgezerrt hatte, dann lag er auch schon in seiner ganzen Länge unter den beiden Tieren. Jeder Muchacho hatte für sich und sein eigenes Leben aufzupassen. Niemand konnte ihm helfen; denn jeder einzelne hatte dreimal soviel Arbeit zu leisten, als man von einem Menschen gewöhnlich erwartet.

 

2

Mit jeder weiteren Troza, die zum Tumbo gefahren wurde, vertiefte sich der Morast. Wenn er zu Beginn der Fahrten vielleicht noch eine gewisse Dichtigkeit und Festigkeit gehabt haben mochte, so wurde durch das Entlangschleifen der schweren Trozas, durch das Stampfen der Füße von zwölf oder vierzehn Paar schwerer Ochsen und das Kneten, das die Beine der Burschen verursachten, der Morast nach einigen Trozas breiig und schlammig wie Teig. Je mehr er die Eigenschaften von weichem Teig annahm, um so tiefer sank die Troza in den Schlamm ein, um so tiefer sanken die Beine der Ochsen in den weichen Grund, um so schwerer und mühevoller wurde es für die Tiere, ihre Beine herauszuzerren, und um so mehr Kräfte, die der Arbeit des Ziehens dienen sollten, hatten sie zu vergeuden, nur um sich in diesem tiefen und zähen Schlamm weiterzubewegen. Nicht nur das allein.
Je weicher der Teig und je tiefer er aufgeweicht und aufgerissen wurde, um so mehr hing er sich in schweren Fladen und Klumpen an der Troza und an den Beinen der Tiere und Burschen fest.
Die Beine der Ochsen bekamen das Aussehen von Elefantenbeinen, und sie bekamen gleichzeitig die Schwere von Elefantenbeinen, während die Troza das Dreifache an Gewicht erhielt.
Sobald die Troza an die Oberfläche gezerrt war, kratzten die Burschen freilich die überflüssigen Lagen des Schlammes ab. Die Fahrt ging jedoch kaum fünf Meter weiter, und schon war die Troza bereits abermals zum doppelten Umfang und Gewicht angewachsen.
Aber was hilft alles Weinen! Wenn die Troza Geld bringen soll, muss sie verkauft werden, und wenn sie verkauft werden soll, muss sie zu Markte gebracht werden. Wie sie zum Hafen kommt, ist nicht Sache des Käufers, sondern des Verkäufers. Der Verkäufer würde es vorziehen, die Caoba mit Traktoren, die auf stählernen Raupenbändern laufen, aus dem Dschungel zu holen. Aber dort, wo er die großen Traktoren hinbringen könnte, da wächst keine Caoba.
Der hohe Preis des Goldes findet seine Begründung in der Seltenheit dieses Metalls und den Mühen, es zu gewinnen. Der hohe Preis des Mahagonis dagegen, ist begründet in der Schwierigkeit des Transportes. Es kostet weniger Mühe, weniger Zeit und weniger Geld, Tannenholz aus dem Innern Finnlands nach einem Hafen in Zentralamerika zu bringen als Caoba aus den Dschungeln Zentralamerikas zu demselben Hafen zu befördern. Aus diesem Grunde ist in den Häfen Amerikas Holz, das aus den Wäldern Russlands, Schwedens und Finnlands kommt, um ein Vielfaches billiger als Holz aus den Urwäldern dieser amerikanischen Republiken.

 

3

Als die sechste Troza dieses Tages mitten auf dem Wege zum Tumbo tief im Morast stecken blieb, betrachteten es die Ochsen ihrer Selbsterhaltung gegenüber als Pflicht, die Arbeit für den Tag einzustellen.
Während die Burschen daran arbeiteten, die versunkene Troza auszugraben, begann sich ein Gespann nach dem anderen hinzulegen. Als die Troza endlich frei lag, ruhten alle Gespanne liegend im Morast.
Die Boyeros wussten, dass nun weder Stechen mit den Treibstöcken. noch Peitschenhiebe die Ochsen veranlassen konnte weiterzuarbeiten. Sie hatten heute bereits zwei Stunden länger gearbeitet, als sie es gewohnt waren. Aber da sie sich in einem so langen Zuge befanden, hatte ihr Herdentrieb sie für eine Zeit die Überarbeit vergessen lassen. Nun bewirkte jedoch derselbe Herdentrieb, dass sie sich alle hinlegten und alle zu gleicher Zeit weitere Arbeit verweigerten.
Vicente, mit vollen Lungen keuchend und bedeckt mit Schweiß, kam auf Andres zu. »Endlich sind wir mit der Arbeit fertig. Ich kann nicht mehr.«
»Wir alle können nicht mehr, Nene. Aber nur die Ochsen haben nun Ruhe bis ein Uhr nachts. Wir nicht. Wir gehen jetzt zum Campo, um zu essen. Dann aber haben wir noch den halben Nachmittag zu arbeiten, ehe wir Ruhe bekommen.«
»Ohne die Ochsen können wir doch aber keine Trozas fahren«, sagte Vicente.
»Gut geraten, mein Kindchen.« Andres lachte glucksend auf. Auch er keuchte wie alle übrigen Burschen. Und auch sein Körper war überströmt von schwerem Schweiß, der an zahlreichen Stellen rosarot an ihm herunterrieselte, weil er sich mischte  mit  den  dünnen  Streifen Blutes,  das  aus  den
Beißwunden hervorquoll. Trotz seiner Ermüdung aber konnte er mit Vicente lachen. Und er wiederholte »Sicher nicht, Nene. Ohne Ochsen können wir keine Trozas fahren. Ich sehe, dass du deinen Kopf zu gebrauchen weißt.«
»Das sage ich ja, Andres, wenn wir keine Ochsen haben, dann können wir keine Trozas abschleppen und brauchen nicht weiterzuarbeiten.«
»Vielleicht war das so in eurer Finca, mein Söhnchen. Hier nicht. Hier wird gearbeitet, solange du auch nur noch stehen kannst. Und wenn du nicht mehr stehen kannst, dann arbeitest du auf deinem Ursch kriechend. Aber arbeiten musst du. El Gusano hat mir gestern bereits gesagt, dass wir auf der gegenüberliegenden Seite des Grabens, wo jetzt geschlagen wird, die Gassen öffnen und aus dem Dickicht herausschlagen müssen, um den Weg frei zu bekommen. Auf der anderen Seite steht die Caoba zehnmal reicher als auf dieser Seite hier. Aber der Weg ist noch versumpfter als hier.«
»Noch mehr verschlammt und vermorastet als hier?« fragte Vicente erstaunt. »Wie ist denn das möglich?«
»Hier ist alles möglich. Und weil auf der anderen Seite infolge des Gefälles des Geländes der Sumpf so weich ist, dass die Trozas gleich drei Meter tief in den Grund flitzen, wenn sie geschleppt werden, darum müssen wir Calzadas bauen. Und das wird heute Nachmittag getan, bis wir alle umfallen und gleich da schlafen, wo wir umgefallen sind.«
»Calzadas, was ist denn das?«
»Wirst du heute Nachmittag lernen und wirst beim Bauen der Calzadas auch noch ferner lernen, dass jede Arbeit, die hier verrichtet wird, gleich ist in ihrer grausamen Schwere und Anstrengung. Hier wird dir nichts geschenkt. Und hier gibt es nie leichte Arbeit und erst recht nie Erholung.«

 

4

Nachdem die Muchachos einige fünf Minuten lang Atem geholt hatten, begannen sie, die Ochsen auszuspannen. Die schweren Jochbalken, von denen jeder etwa zwanzig Kilo wog und die den Tieren seit zwei Uhr morgens auf den Nacken lasteten, wurden abgeriemt und heruntergenommen. Die Tiere wendeten befreit ihre Köpfe und Nacken, die wie gelähmt sein mussten, und begannen mit Wohlbehagen sich die Wunden der Beißfliegen und anderen Insekten abzulecken und die schmerzende Haut mit den Zähnen zu kratzen und zu schaben.
Endlich waren alle Ochsen abgespannt. Sie lagen noch immer in ihrem Zuge dort, wo sie sich niedergelassen hatten. Ihre Körper waren während des Lagerns in den Schlamm eingesunken. Sie schienen sich in dem Schlamm, der kühler war als die sie umgebende glühend heiße Luft, recht wohl zu fühlen; denn der Schlamm kühlte nicht nur ihre Körper, sondern beruhigte auch zugleich das entsetzliche Jucken der Insektenstiche und -bisse. Mengen von Garrapatas, großer und kleiner Zecken, die sich in die Haut eingefressen hatten, fühlten sich an jenen Stellen der Ochsenkörper, die vom Schlamm umgeben waren, in ihrer Lebenssicherheit bedroht und begannen, ihre kräftigen Zangen aus der Haut herauszuziehen und, am Körper entlangkriechend, nach oben zu kommen. Der Instinkt ließ diese Insekten fühlen, dass sie verloren waren, wenn sich der Schlamm auf dem Körper der Ochsen verkrustete, unter der Hitze versteinerte und sie zusammenpresste und tötete. Aber auch die Ochsen wussten aus Instinkt vielleicht gar aus Erfahrung, dass im Schlamm zu liegen und dann in der Sonne den Schlamm auf der Haut verkrusten und versteinern zu lassen, sie von Hunderten, wohl von Tausenden solcher lästigen Parasiten befreite.
Eine Anzahl der Burschen war mit ihren Trinkschalen zu einem Quell, gegangen, der, etwa zweihundert Meter entfernt und seitlich der Gasse, in einem dünnen Strählchen aus einer Gesteinsspalte hervorsickerte. Es war nicht viel Wasser, und um es überhaupt gebrauchen zu können, höhlten die Burschen zuerst eine kleine Grube aus, damit sich das dünne Strählchen darin fangen und das Wasser sammeln konnte. Jeder schöpfte sich seine Schale in der Grube voll, spülte sich den Mund, und dann knetete er sich in dem lehmigen Wasser, das er erneut in eine Schale geschöpft hatte, ein Klümpchen Posol. Die meisten der Leute jedoch waren zu müde, um den Weg zu jenem Quell zu unternehmen. Sie zogen es vor, sich lang auszustrecken und zu rasten an jener Seite der Gasse, wo es ein wenig trocken war.

 

5

Plötzlich, aus dem Dickicht hervorschießend, erschien vor ihnen El Picaro. Er saß auf dem Pferde und übersah den Zug. Die Burschen blieben liegen, wo sie waren. »Kaum elf, und schon fertig mit der Arbeit heute?« rief er.
Pedro, an einer Zigarre drehend, sagte: »Die Ochsen machen nicht mehr mit.«
»Freilich nicht, wenn ihr sie überarbeitet habt. Hättet ihr den Ochsen besser beigestanden und die Trozas rascher und höher aus dem Dreck gehoben, so dass die armen Tiere nicht so unmenschlich hätten zu ziehen brauchen, dann wären sie nicht übermüdet. Faules Gesindel, das ist es, was ihr seid, und ich werde wohl einmal gründlich zwischen euch sausen müssen, um euch aufzumuntern. Werde einmal die halbe Gesellschaft von euch heute Abend zwei Stunden henken, um euch aufzufrischen. Ihr seid hier nicht in den Ferien und zur Erholung, sondern um zu arbeiten. Los, die Ochsen zur Weide!
Und nachts um zwölf angetreten und den Rest der Trozas abgeschleppt! Por Dios, es ist eine Sünde vor Gott und den Menschen, wie hier gefaulenzt wird, und eine Schande, dass so kräftige, braune, verhurte Hunde, wie ihr seid, mitten am Tag sich lang hinlegen auf ihren dreckigen Ursch und nicht mehr arbeiten. Die Ochsen zur Weide, los! Und wenn ihr im Camp euren verfluchten Fraß 'runtergewürgt habt, geht's 'rüber auf die andere Seite, um Gassen zu öffnen! Verflucht noch mal, ich werde euch schon noch beibringen, wie etwas Richtiges hier gearbeitet wird. Ich sollte euch allen hier einmal zwanzig 'rüberreißen, um Leben in den Zug zu bringen. Schämt ihr euch denn wirklich nicht, die armen Ochsen so herunterzuarbeiten, dass die armen Tiere nicht einmal mehr röcheln können? Ich habe die Santa Purisima zur ewigen Zeugin, ihr seid verlauste und verdreckte Tierschinder, stinkige Indianerbrut, das ist es, was ihr seid, Söhne von räudigen Hündinnen und Cabrones!«
Er blickte nach allen Seiten umher, um das Feld zu übersehen und eine neue Eingebung zu finden.
Er fand sie auch. »Los Yugos, die Joche, verflucht noch mal, braucht ihr auch nicht gleich da im Schitt liegenzulassen, wenn ihr sie abjocht.«
Fidel stützte sich halb auf den Arm auf, ohne jedoch von seinem Platz, wo er lag, aufzustehen, und sagte: »Was brauchen wir sie denn erst noch mit so vieler Mühe durch den Dreck zu schleifen und 'rüberzuschaffen, wenn wir sie in der Nacht doch wieder an derselben Stelle, wo sie jetzt sind, aufzujochen haben.«
»Halt's Maul, oder ich schlage dir eins 'rüber, frecher Hund!« rief El Picaro.
»Nur damit Sie wissen, warum wir die Joche da liegenlassen, wo sie jetzt sind«, sprach Fidel weiter. Es lag in seiner Stimme, dass er nicht darum redete, um eine Erklärung abzugeben, sondern dass er redete, um El Picaro zu ärgern. El Picaro fühlte das auch recht gut. Aber wie alle Capataces, wie alle Peitscher und Folterknechte, so war auch El Picaro recht vorsichtig, eine Situation nicht zu weit zu treiben, wenn er wusste, dass er nicht in der Übermacht war und sich in einer Umgebung befand, wo er seinem Schicksal nicht entfliehen konnte, wenn es einmal in Bewegung kam. Er sah wohl, dass die Muchachos infolge ihrer Übermüdung in einer Laune waren, dass ein ganz geringer Anlass genügt hätte, um einen von ihnen zu veranlassen, aufzustehen, ihn anzufallen, vom Pferde zu reißen, ihn wie einen Hund zu erschlagen und dann im Morast zu vergraben. Was hätte El Picaro sein Revolver helfen können? Von sechs Schüssen, falls er überhaupt sechs Schüsse hätte feuern können, wären in dieser Erregung vier danebengegangen. Und waren die sechs Schuss verfeuert, dann war er verloren. Er sagte nichts weiter. Gemächlich zündete er sich eine Zigarette an und wendete das
Pferd. Er ritt einige Schritte zurück, gab dann seinem Pferde einen Hieb und setzte gleichzeitig die schweren Sporen ein, damit das Pferd auf die andere Seite der Gasse springen sollte, von der aus es näher zum Camp war. Das Pferd sprang.
Aber El Picaro, der hier ja nicht der Arbeit zugesehen, sondern nur die Rast beobachtet hatte, unterschätzte die Schwierigkeiten, die diese Gasse verursachte. Sicher hatte er geglaubt, dass der Morast nur gerade an der Oberfläche sei. Er würde harte Arbeit gehabt haben, mit seinem Pferde langsam über die Gasse zu waten.
Angesichts der Burschen jedoch wollte er zeigen, dass diese Gasse nicht mehr Mühen verursachte als viele andere. Und so sprang er mit seinem Pferde so tief in den aufgeweichten und aufgezerrten Morast, dass er wie hineingeschossen bis zum Sattel im dicken Dreck versank.
Das Pferd versuchte sich herauszustrampeln, aber je mehr es mit den Füßen herumwirtschaftete, um so tiefer sank das Tier ein.

 

6

Die Muchachos blieben alle ruhig sitzen.
El Picaro rief sie nicht zur Hilfe herbei. Es würde seiner Würde geschadet haben. Er ließ sich vom Sattel heruntergleiten und geriet nun bis zur Hüfte in den Schlamm. Er wickelte den Lasso auf, faltete eine Schleife, wickelte sie dem Pferde um das Maul und das Ende des Lassos um seine Hand und zerrte sich mit Fluchen und Stöhnen aus dem Schlamm heraus.
Das Pferd, von der Last des Reiters erleichtert, quälte sich mühselig in dem Morast herum, bis es festeren Grund auf Wurzeln oder großen Steinen fand und sich einen halben Meter hochzerren konnte.
El Picaro war inzwischen an der Seite des Grabens angelangt, und von hier aus, auf weniger morastigem Boden stehend, zog er nun mit Hilfe des Lassos, der dem Kopf des Pferdes einen Halt und gleichzeitig die Richtung gab, das Tier zu sich heran.
Nicht ganz so, aber doch ähnlich, wie die Burschen alle aussahen, so sah nun auch er aus. Die Burschen waren vom Scheitel ihres schwarzen, drahtigen Haares bis hinunter zu den Fußsohlen bedeckt mit schwarzgrauem Brei, der, seit sie hier in Ruhe lagen, langsam auf ihrem Körper zu trocknen begonnen hatte. Das Haar war verkleistert und verkrustet, und das einzige Kleidungsstück, das jeder trug, eine zerlumpte, weiße Baumwollhose, war dick mit Schlamm behangen und getränkt.
Dass die Hose aus Baumwollstoff gefertigt war, hätte man nicht mit Sicherheit feststellen können; sie hätte ebenso gut ein Bekleidungsstück sein können, das aus nichts sonst als aus Morast bestand. Als Ganzes besehen, sah jeder Bursche so aus, als sei er von oben bis unten in schwarzgrauen Teig gehüllt und bereit, in den Backofen geschoben zu werden, um dann als Kuchenmann herauszukommen. Und wie ein ausgewachsenes Pfefferkuchenpferd sah nun auch das Reittier des El Picaro aus.
Er selbst unterschied sich nur darin von den Burschen, dass sein Haar nicht verkleistert und sein Gesicht nur mit Schlammspritzern bedeckt war. Da er aber Hemd, Hose, Ledergamaschen und Stiefel trug, so kostete es ihn mehr Mühe, sich von dem Schlamm, der auf ihm lastete, zu befreien, als für die Burschen.
Mit den Händen strich er den nassen, zähen Dreck von seiner Kleidung, dann von dem Sattel und den Seiten des Pferdes.
»Verflucht noch mal!« schrie er wütend, »das habe ich doch, Gottverdammt noch mal, auch nicht gewusst, dass hier der gottverfluchte Dreck so tief ist und so gemein!«
»Hätten Sie uns gefragt, so hätten wir es Ihnen gesagt«, rief Santiago hinüber.
Und Fidel rief laut und frech: »Da Sie ja sonst alles wissen, so glaubten wir, dass Sie auch wissen wüssten, wie tief hier der Lodo ist.«
»Wenn wir alle Trozas am Vormittag hätten schaffen können, so wären sie sicher geschafft worden«, sagte Andres, sich in das Gespräch mischend. »Nun wissen Sie ja wenigstens, warum wir sie nicht alle schaffen konnten.«
El Picaro plusterte sich mächtig auf, weil es ihm geglückt war, sich ohne Hilfe der Muchachos aus dem Dreck zu arbeiten. Er änderte nun den Ton und sagte: »Ich werde euch für die Nacht die halben Gespanne gegen ausgeruhte austauschen und sechs weitere Gespanne geben. Bringt alle Gespanne jetzt zum Camp und dann auf die große Weide, eine Meile hinter dem Camp. Ich werde euch die Gespanne aussuchen. Wer hätte denn gedacht, dass der Dreck hier so dick und tief ist!«
»Auf der andern Seite des Grabens, wo jetzt geschlagen wird, ist er doppelt so tief«, sagte Matias, »und die Gasse ist zweimal so lang wie diese hier.«
»Ja, das weiß ich«, sagte El Picaro, sich aufs Pferd setzend. »Ich schicke zu Don Severo und werde mehr Gespanne von ihm verlangen.«
El Picaro ritt ab, weniger stolz und schneidig, als er gekommen war.
Und wie er so dahinritt, hätte man ihn wohl recht gut für einen Ritter aus einer alten Sage halten können, der, von einem bösen Zauberer verwünscht, sich nun im Zustand der Versteinerung befand, im nächsten Augenblick stehen bleiben wird, um als versteinerter Ritter zukünftige Geschlechter gruseln zu machen.
»Er sah so lächerlich aus«, sagte Santiago grinsend, »dass ich glaubte, er würde versuchen, sich an seinen eigenen Ohren aus der Schitt zu zerren.«
Grimmig setzte Fidel hinzu: »Wenn er sich dabei seine widerliche Rübe abgerissen hätte, wäre mir das eine Labung gewesen.«
»Warum eine Labung?« fragte Procoro, der sich auf die andere Seite wälzte und Fidel ansah.
»Warum eine Labung? Wie kannst du nur so dumm und unschuldig fragen, Mensch? Dann würde ich mich nicht verpflichtet fühlen, ihm eines Tages den Kopf abzusäbeln. Denn dass ich das eines Tages sicher tun werde, das Gefühl kann ich nicht loswerden. Es verfolgt mich Tag und Nacht, wenn ich nur die Fratzen dieser beiden, des Gusano und des Picaro, sehe. Sie machen es uns so leicht und lieblich, solch schöne und berauschende Gefühle zu haben und den lieben Gott im Himmel andächtig darum zu bitten, recht bald eine passende Gelegenheit für dieses Absäbeln herbeizuführen.«

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