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B. Traven - Der Karren (1930)
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SIEBENTES KAPITEL

1

Andres war jetzt beinahe neunzehn Jahre alt. Seit mehr als drei Jahren arbeitete er für Don Laureano als Carretero. Seine Schuld von fünfundzwanzig Pesos, für die er in den Besitz Don Laureanos geriet, war längst bezahlt, und er erhielt nun schon seit langem seinen Lohn in bar ausbezahlt.
Der Lohn wurde ihm zwar nicht jeden Monat pünktlich ausbezahlt, wie das eigentlich hätte sein müssen.
Don Laureano bezahlte, wie es ihm beliebte und wann er glaubte, die paar Pesos, die der Lohn ausmachte, entbehren zu können, ohne an seinen Geschäften leiden zu müssen.
Andres war inzwischen ein guter und tüchtiger Carretero geworden. Er kannte den Weg von Arriaga bis Balun Canan so gut, dass er in dunkelster Nacht fahren konnte und jedem Loch und jedem Wegabrutsch sicher aus dem Wege zu gehen vermochte; denn er kannte jeden Stein am Wege, jede einzelne Biegung, jede versumpfte Stelle, jede Flussüberkreuzung. Er kannte die Tiefe jedes Flusses, der passiert werden musste, auf den Zoll genau, wusste, wo die beste Stelle der Flussfährte Mitte Juni und wo sie Mitte September war. Diese Fährten wechselten je nach der Menge des Regens, der fiel. In der Regenzeit musste zuweilen am Ufer des Flusses einige Stunden oder gar halbe Tage gewartet werden, bis das Wasser genug abgelaufen war, dass die Waren in der Carreta nicht nass wurden. Er kannte jeden Lagerplatz am Wege bei dem Namen, der ihm von den Carreteros, die hier vor zweihundert Jahren zum ersten Mal gerastet hatten, gegeben worden war. Er kannte jede Weidefläche am Wege nach ihrem Wert als Futterplatz für die Ochsen und nach ihrer Größe, wie viele Carretas sie aufnehmen konnte.
Er kannte jeden Rancho und jede einzelne Hütte von Indianern am Wege, kannte alle Leute, die am Wege wohnten. Er hatte gelernt, vorteilhaft zu laden, hatte gelernt, die Ochsen richtig zu behandeln, um die höchste Arbeitsleistung aus ihnen herausholen zu können, und er konnte jede Ausbesserung bei einem Radbruch oder Deichselbruch der Carreta geschickt vornehmen. Es konnte nichts auf dem Wege geschehen, wo er sich nicht Rat gewusst hätte, auch wenn er allein gewesen wäre. Viele Male hatte er bereits kleine Kolonnen ganz selbständig geführt. Don Laureano konnte gegen ihn und seine Arbeit nicht ein ungünstiges Wortsagen. In jeder Hinsicht hatte er sich viel besser in die Arbeit eingefunden, als der Patron je erwartet hatte.
Sein Lohn war darum auch erhöht worden. Er erhielt jetzt vierzig Centavos den Tag zwölf Pesos den Monat. Eine sehr schöne und stolze Summe, wenn er sie verglich mit den vier oder fünf Pesos im Monat, die jene Peones verdienten, die in Zuckermühlen, Branntweinfabriken, Henequenzupfereien, Dachziegelfabriken, Holzwerken, die in der Nähe des Weges sich befanden, sechzehn Stunden täglich arbeiten mussten und mit ihren Familien schlechter lebten und elender wohnten als Tiere.
Verglichen mit jenen Arbeitern lebte er ein hartes Leben wie jene, aber sein Leben war frei. Er war mit seinen Kameraden nicht an Stunden gebunden. Er arbeitete schwer genug, aber er rackerte sich nicht schwindsüchtig wie jene ewig hungernden Peones in den Haciendas, wo landwirtschaftliche Produkte verarbeitet wurden. Wenn er gut geladen hatte und seine Carreta war in guter Marschform, wenn die Ochsen nicht übermüdet und nicht überarbeitet waren und der Weg war gut, so konnte er stundenlang in der Carreta aufsitzen und vor sich hinträumen oder die Schönheiten der umgebenden Natur in sich aufnehmen.
Die Ochsen, die seit Jahren im Dienst waren, kannten den Weg, den sie dutzende Male gemacht hatten, oft besser als die
Carreteros. Das war natürlich, denn die Ochsen waren ja mit ihren Nasen und Augen dem Wege näher als die Treiber. Und die erfahrenen Ochsen waren keineswegs so dumm, wie man glaubt, dass ein Ochse sein muss, wenn man mit diesem Namen einen Mitmenschen beschimpfen oder verärgern will. Sie trotteten sehr langsam dahin, denn ihnen war es völlig Sirup, ob die Carreta heute oder nächste Woche an ihrem Reiseziel anlangte. Sie hatten Zeit, und sie nahmen sich Zeit, zum Essen wie zum Arbeiten. Vielleicht wussten sie, dass sie immer Ochsen bleiben würden und dass sie, solange sie auf den Beinen sind, eine Carreta ziehen müssen. Sie waren Philosophen und wussten recht gut, dass es an ihrem Schicksal gar nichts ändert, ob sie sich auf ihrem Marsche beeilt oder nicht. Es sind immer nur Proletarier, die weniger Verstand als Ochsen haben und darum glauben, sie könnten wirklich eines Tages Fabrikdirektor und Aufsichtsratsmitglied werden, wenn sie sich tüchtig abrackern und sich bei allen ihren Arbeiten beeilen, um ihren Treibern gefällig zu sein. Darum ist es eine Beleidigung für den Ochsen, nicht aber für den Proletarier, wenn man zu einem Proleten sagt: »Mensch, was bist du doch für ein Ochse!«
Der Ochse hätte ein Recht, eine Beleidigungsklage anzubringen, nicht der Arbeiter. Denn rund gerechnet kommt auf tausend Proleten ein Fabrikdirektor. Das weiß ein Ochse, ohne Statistiken zu studieren; aber ein Proletarier lässt sich täglich aufs neue verkaufen mit dem berühmten und wirkungsvollen Marschallstab im Tornister.
Die Ochsen arbeiteten um keinen Schritt mehr, als sie glaubten, was für ihre Lebenskräfte gut sei.
Freilich trotteten sie nicht so geradezu drauflos. Sie sahen sich den Weg an, und dann gingen sie jedem Felsbrocken, jedem Loch, jeder Wegrutschung, jeder knorrigen Baumwurzel aus dem Bereich, soweit es die ihnen angehängte Carreta nur zuließ. Sie taten es ganz gewiss nicht so sehr ihren Treibern zu Gefallen, sondern sich selbst zuliebe. Es erleichterte ihre Arbeit und brachte sie rascher zum nächsten Ruheplatz. So viel lernten alle Ochsen, und mehr brauchten sie nicht zu lernen, weil man ihnen glücklicherweise nicht einreden konnte, dass sie, wenn sie tüchtig und fleißig arbeiten würden, den Marschallstab aus ihrem Tornister nehmen dürften und sich in das gut gepflegte Reitpferd eines Generals verwandeln könnten. Aber dadurch, dass sie sich ihre eigene Arbeit erleichterten, verringerte sich auch die Arbeit ihrer Führer. Die Carreteros, die erfahrene Ochsen vor ihrer Carreta hatten, konnten auf ihrer Carreta so viel träumen und dösen, wie sie wollten.
Die Ochsen seiner Kolonne nach ihrem Arbeitswert gut zu kennen und sich die besten bei Antritt einer Reise auszusuchen, war das Bestreben jedes erfahrenen Carreteros. Der Encargado einer Kolonne, der ja auf alle übrigen Carretas mit aufmerken muss, sucht sich seine Ochsen zuerst aus. Dann folgt der Carretero, der am längsten bei dem Patron im Dienste ist. Die übrigen müssen nehmen, was übrig bleibt.
Andres hatte von alten Carreteros gelernt, wie man es zu machen hat, wenn man auf dem Marsche die eigenen Ochsen gegen die besseren eines anderen Carreteros austauschen möchte. Denn es geschieht, dass Ochsen aus diesem oder jenem Grunde auf dem Marsche sich in ihrer Leistung ändern. Sie sind ja ebenso wenig alle gleich in ihrem Wesen, in ihren Fähigkeiten, in ihren Launen und in ihrem Widerstandswillen gegen äußere Umstände, wie auch Menschen nicht alle einer wie der andere sind.
Manche Ochsen ziehen vorzüglich die ersten fünfzig Kilometer. Dann lassen sie nach. Andere bessern sich während der Arbeit, sie wachsen in die Arbeit hinein und scheinen neue Kräfte aus jedem neuen Tage, den sie auf dem Marsche sind, zu ziehen. Einige machen verteufelte Schwierigkeiten beim Passieren morastiger Wegstrecken, während sie auf felsigen und holprigen Wegen so ruhig und willig gehen, als wäre dies der Weg zum Ochsenparadies.
Andres hatte die eingeborene Schlauheit der Unterdrückten und Ausgequetschten seiner Rasse. Und weil die Peones von Jugend an darauf angewiesen sind, ihre Schlauheit zu gebrauchen, um sich am Leben zu erhalten und sich als Individuum wie als Rasse gegenüber ihren Herren zu erhalten, wird diese Schlauheit nicht von zimperlicher Moral beengt. Schlag zu, oder du wirst geschlagen. Und wenn du nicht schlagen kannst, weil der andere dein Herr ist, der dich wie einen Hund niederschießen darf, wenn du die Hand gegen ihn erhebst, dann winde dich und schlängele dich so geschickt, dass der Schlag dich nicht trifft, und wenn er dich trotzdem trifft, dass er dir keinen Schaden zufügt. Der Drückeberger bei den Soldaten und bei anderen Sklaven ist der Kluge, die anderen sind die Dummen.

 

2

Seine Lohnerhöhungen hatte Andres durch kleine Tricks gewonnen. Der Prolet wird ja nirgends für das bezahlt, was er wirklich leistet, sondern nur für das, was er zu leisten scheint nach Ansicht dessen, der ihm den Lohn zahlt. Seine Schuld ist es nicht, dass seine Moral verludert; es ist die Schuld derer, die ihm nur so viel zum Leben lassen, wie er unbedingt gebraucht, um arbeiten zu können. Don Laureano hatte einmal eine seiner zahlreichen Kolonnen einen Tag lang begleitet, weil er gerade auf demselben Wege war. Die Ochsen einer Carreta wollten nicht ziehen, sie sträubten sich und versuchten den Jochbalken abzuschütteln. Der Führer jener Carreta gab sich alle Mühe, die Ochsen vorwärts zu bringen. Ohne Erfolg. Don Laureano kam hinzu. Aber er wusste auch keinen Rat. Die Carreta hielt den ganzen Marsch auf. Don Laureano dachte daran, die Ochsen zu verkaufen und einen befreundeten Frachtunternehmer damit hereinzulegen, weil sie nicht zu gebrauchen seien. Als die ganze Kolonne nun stand und nicht weiterkonnte wegen des störrischen Paares von Ochsen, alle übrigen Carreteros herumredeten und jeder etwas anderes wusste, was aber nichts half, kam wie zufällig auch Andres hinzu.
Er versuchte, die Ochsen anzutreiben. Sie gingen zwei, drei Schritte, dann bockten sie wieder.
»Ich glaube, ich weiß, was mit den Bueyes, mit den Ochsen, faul ist«, sagte er.
»Ja, du«, unterbrach ihn der Encargado, »du bist mir gerade wie gerufen dazu, du Junge, noch nass unter dem Ursch, du wirst mir altem Hengst, der ich dreißig Jahre hier auf diesem Wege Carretas fahre, sagen, was mit den Ochsen los ist. Lauf heim zu deiner Mutter und las dir eine trockne Windel in die Pantalones schieben.«
Don Laureano stand dabei und sagte nichts zu dem Gerede der beiden. Aber Andres ließ sich nicht einschüchtern. Er sagte trocken: »Die Ochsen sind zu fest eingeriemt am Jochbalken, das ist die Sache, oder ein harter Riemen hat sich verquirlt.«
Ohne abzuwarten, was der Encargado sagte, machte er sich herbei und riemte die Ochsen frei. Don Laureano hatte sich am Wege auf einen Stein gesetzt, und er zündete sich eine neue Zigarette an. Dann sah er ziemlich interesselos zu, was Andres tat. Als Andres losgeriemt hatte, glättete er die Riemen, machte sie scheinbar weicher und elastischer mit reichlichen Mengen seiner Spucke und riemte dann wieder auf.
»Diese beiden Ochsen vertragen es nicht, hart eingeriemt zu werden«, sagte er. »Lucio ist noch zu neu mit uns, der kennt die Tiere nicht genügend. Der kann nichts dafür.«
Mit diesen Worten befreite er seinen Companero Lucio von aller Schuld und jeder Möglichkeit, von Don Laureano oder von dem Encargado wegen schlechten Aufriemens angeblasen zu werden. Beim Abriemen der Ochsen hatte sich Andres so geschickt gestellt und hatte so gewandt mit seinen Händen und Armen gewisse Vorgänge beschattet, dass weder Don Laureano noch der Encargado noch irgendeiner der übrigen Carreteros, die gelangweilt um ihn herumstanden, sein Taschenspielerstückchen beobachten konnte.
Er hatte am vergangenen Abend sich aus Hartholz kleine spitze Kegelchen geschnitzt. Und am frühen Morgen, als eingespannt wurde, schob er gewandt diese Kegelchen unter die Riemen. In der ersten halben Stunde fühlten die Ochsen diese Unbequemlichkeit nicht, und sie gingen wie gewöhnlich. Aber als dann die Sonne kam und es heiß wurde, trockneten die Riemen nach, und die Kegelchen bohrten sich in die Kopfhaut der Ochsen ein. Mit jedem Kilometer mehr, den die Ochsen zogen, bohrten sich die Kegelchen tiefer, rieben die Haut auf, und nachdem die Haut aufgerieben war, begannen diese Kegelchen außerordentlich schmerzhaft zu werden, was die Ochsen endlich veranlasste, sich wie verrückt zu gebärden.
Andres wusste sehr wohl, dass ein solcher Trick mit Dornen oder Stacheln zuweilen gemacht wurde, wenn man einem Carretero einen kleinen Streich spielen wollte. Aber die Dornen stachen so rasch ein, dass die Tiere von Anbeginn nicht anzogen. Dann wusste natürlich der Carretero, was los war. Er hatte aufs neue abzuriemen und einzuriemen. Und das war der Scherz, der Neulingen gespielt wurde, dass sie eine Arbeit doppelt zu machen hatten und man sie als Dummköpfe bezeichnen konnte. jedoch der Trick mit den Hartholzkegelchen war Andres' eigene Erfindung. Der Trick arbeitete sehr langsam und durchaus unauffällig. Selbst der älteste und erfahrenste Carretero hätte nicht herausfinden können, woran es lag, dass die Ochsen erst gut marschierten und dann nach und nach immer störrischer wurden, um endlich überhaupt nicht mehr weiterzugehen.
Als Andres nun von neuem eingeriemt und eingespannt hatte, trieb er die Ochsen an. Und sie liefen willig und freudig wie gutgepflegte Brauereipferde.
Der alte Encargado machte glotzige Augen und nahm sich vor, Andres von nun an als vollwertigen Mann und ausgereiften Carretero zu betrachten, mit dem man gute Freundschaft hält.
Erst recht machte Don Laureano verwunderte Augen. Er verstand zwar nicht viel von der eigentlichen Arbeit der Carreteros; und hätte er eine Kolonne von Carretas von Arriaga nach Socton bringen müssen, so wäre es fraglich gewesen, ob die Karawane jemals innerhalb dieses Jahrhunderts angekommen wäre.
Als der Marsch weiterging, nahm er sich gelegentlich Andres beiseite und sagte zu ihm: »Höre einmal, Junge, ich gebe dir jetzt drei Reales den Tag. Du hast nun ausgelernt und verdienst jetzt gut sechsunddreißig Centavos den Tag.«
Die weitere Lohnerhöhung, die Andres nach einiger Zeit erhielt, verdankte er wieder einem Trick. Er hatte sich in den Jahren seiner Arbeit als Carretero genügend Weisheit erworben, um zu erkennen, dass lediglich dafür, dass er tüchtig und schwer und gewissenhaft arbeite, er keine Anerkennung oder Belohnung von seinem Herrn erwarten dürfe. Seine Arbeit wurde nicht viel gewertet. Er musste sich seinem Herrn bemerkbar machen und in seinem Herrn die Furcht erregen, dass er, der Herr, einen überaus tüchtigen Carretero, der mit Ochsen besser umzugehen versteht als ein alter Encargado, gar verlieren könnte, wenn er ihm nicht ein wenig den Lohn aufbesserte.

 

3

Mehr als vier Monate musste er arbeiten, ehe die Schuld von fünfundzwanzig Pesos abgetragen war, die sein früherer Herr an seinen jetzigen Herrn verspielt hatte.
Während dieser vier Monate hatte Andres sich fünf Hemden, drei Unterhosen, vier Hosen, einen Basthut, eine neue Wolldecke und eine Kalikojacke kaufen müssen. Die Arbeit des Carreteros frisst seine Kleidung auf wie Schwefelsäure. Bei einer Kiste steht ein Nagel vor, bei einer anderen ein langer Holzspan, und beim Laden spießt der Nagel in das Hemd oder in die Hose, und die Sachen sind in kurzem in Streifen aufgeschlitzt. Auf dem Marsch wird das Zeug die eine Stunde vom Regen völlig durchgeweicht, und die nächste Stunde trocknet die tropische Sonne die Sachen auf dem Leibe so rasch, dass Hemden und Hosen nach einigen Tagen gleich Zunder sind und auseinander fallen, wenn eine Felswand gestreift wird. Am Wege selbst sind Dornensträucher und stachelige Gewächse, die hier einen Fetzen ausreißen und dort einen Schlitz einritzen. Man kann noch so gut achtgeben, bei jedem Handgriff, der beim Laden oder auf dem Marsch nötig ist, geht ein Stück der Kleidung von dannen.
Der Carretero kauft sich am Wege auch hier einmal einen Comiteco, wenn es gar zu kalt und regnerisch ist und er nicht trocken am Leibe werden kann. Er kauft sich hier ein paar Zitronen für eine Limonade, dort ein Päckchen Zigaretten, hier einige Mangos, dort ein Stück Käse, um sein Leben etwas zu bereichern. Dann kommt er durch einen Ort, wo ein Fest oder ein Markt ist, und er möchte nicht abseits stehen wie ein Ausgestoßener. Er will sich auch einmal ein wenig belustigen. Er kauft sich eine Mundharmonika oder eine billige Gitarre, um die oft so öden Abende am Feuer aufzuheitern. Dann kauft er sich auch wieder einmal ein Stückchen Seife, muss sich das Haar schneiden lassen, verliert gelegentlich seinen Holzkamm und braucht einen neuen. Dann zerbricht ihm auf dem Marsche die Flasche mit Kreolin, das er für das Doktern der Ochsen braucht, und er muss Kreolin und eine neue Flasche kaufen. An Schuhe, um seine Füße auf den steinigen Wegen und auf den Wegen, wo alle möglichen Dornen und Stacheln herumliegen, vor Verletzungen zu schonen, kann er nicht denken. Er hat keine Schuhe und kann keine kaufen. Er ist schon zufrieden, wenn er sich rohes Leder verschaffen kann, um sich die indianischen Sandalen, die er trägt, wieder zurechtzuflicken.
Wie er auch immer rechnen und sparen und darben mag, er ist immer im Vorschuss bei seinem Herrn.
Denn der einzige Mensch auf Erden, der ihm Kredit gibt, ist sein Herr. Alle Dinge, die er braucht, wie Hemden und Hosen und Decken, muss er von seinem Herrn kaufen, weil ihm kein Händler borgt. Und sein Herr bestimmt die Preise für die Waren, die er seinen Carreteros verkauft.
Der Vorschuss ist Schuld. Und solange er Schulden bei seinem Herrn hat, darf er nicht fortlaufen. Die Polizei fängt ihn ein, und die Kosten für sein Einfangen werden auf sein Schuldkonto gebucht.
Aber der Carretero ist kein Peon, der ein immobiles Teil einer Finca oder einer Hacienda ist. Er ist ein freier Arbeiter. Er braucht nur seine Schuld bezahlen, die er bei seinem Patron hat, und dann kann er gehen, wohin er will. Die ganze Welt ist sein und alles, was diese Welt produziert. Es zwingt ihn niemand, weder das Gesetz noch der Staat, Schulden zu machen. Er ist durchaus frei in seiner Handlung, Schulden zu machen oder Schulden zu unterlassen. Wenn er von dieser Freiheit keinen Gebrauch macht, so kann man dafür weder seinen Herrn noch den Staat, noch den Diktator Porfirio Diaz verantwortlich machen. Und wenn er kein Vermögen anhäuft, um eines Tages selbst Frachtunternehmer oder Fabrikbesitzer oder Finquero zu werden, so ist es nur darum, weil er nicht sparsam ist. Die Welt ist offen für jeden, der ein Bankunternehmen gründen will. Und weil der Proletarier nicht spart, sondern alles verjubelt und durch die Kehle pfeffert, darum ist er eben Proletarier und nicht Bankier. Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist nur ein Mythus, mit dem die Agitatoren und andere Anarchisten hausieren gehen, um die Weltrevolution anzufachen und auf diesem Wege die Banken zu übernehmen und die parfümierten Töchter der Aufsichtsräte. Spare, Proletarier, und dann kannst du die nächste Bank gleich an der nächsten Ecke erwerben, ohne die Weltrevolution zu bemühen.

 

4

Als Andres jene Schuld von fünfundzwanzig Pesos abverdient hatte, besaß er bei Don Laureano eine persönliche Schuld von zweiundvierzig Pesos für Waren, die er von ihm bezogen hatte, und sechzehn Pesos Vorschuss an barem Gelde, das er für andere Dinge gebraucht hatte.
Nachdem er nun mehr als drei Jahre seinem Herrn treu und redlich und mit wahrer christlicher Demut und Bescheidenheit gedient hatte, betrug seine Schuld bei Don Laureano vierundneunzig Pesos. Ein Mathematiker hätte ihm, zwar nicht mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung, wohl aber mit der Sicherheitsrechnung, in zwei Minuten sagen können, dass er, wenn er vierzig Jahre lang seinem Herrn weiter so treu und ergeben dienen würde wie bisher, er dann eine Schuld von neunhundertvierundzwanzig Pesos und siebenunddreißig Centavos bei Don Laureano oder bei dessen Sohne haben würde, unter genauer Einrechnung aller Lohnerhöhungen, die er, Andres, sich durch Treue und Redlichkeit oder durch Tricks sichern würde.
Andres, wie alle Carreteros, blickte mit Mitleid und Erbarmen herab auf die armen Peones, die unfrei waren und die an die Finca, zu der sie gehörten, gebunden blieben.
Es war aber dennoch ein großer Unterschied in der wirtschaftlichen und sozialen Freiheit der Carreteros und in der der Peones einer Finca.
Wenn ein Carretero auf dem Marsche in eine Schlucht fiel und zerschmettert wurde oder eine Carreta überfuhr und zerquetschte ihn oder ein wild gewordener Ochse spießte ihn auf oder eine Klapperschlange biss ihn in den nackten Fuß oder das Sumpffieber raffte ihn hinweg, dann war seine Schuld, die er bei seinem Patron hatte, gelöscht. Der Patron beklagte wohl nicht den  in  seiner  Arbeit verreckten  Carretero,   sondern  die verloren gegangene Schuldsumme. Aber wenigstens war der Carretero nun frei und wohlaufgehoben im Paradies.
Dahingegen, wenn ein Peon starb, so verlor der Finquero nicht einen einzigen Centavo der Schuld seines Peons. Die Schuld des Peons ging stillschweigend über auf den ältesten Sohn des Peons oder wurde aufgeteilt auf alle Söhne, oder sie ging über auf den Bruder des Peons, wenn keine Söhne da waren, oder sie ging über auf die Ehemänner seiner Töchter, wenn er nur Töchter haben sollte. Der Peon wurde darum auch nach seinem Tode noch nicht frei. Er musste als Peon für die Finca weiterleben in seinen Söhnen, seinen Töchtern und in seinen Brüdern.
Wenn der Peon begraben war, so rief der Patron die verantwortlichen Söhne oder Brüder oder Schwiegersöhne, zeigte ihnen das Rechnungsbuch und die Schuldseite des Verstorbenen und fragte:
»Ist das richtig?«Und der Gefragte antwortete: »Ja, Patron, das ist richtig!«
Dann blätterte der Patron die Schuldseite des Gefragten auf, schrieb die Schuldsumme des Verstorbenen über, rechnete zusammen, nannte die neue Endsumme und fragte abermals: »Ist das richtig, Muchacho?«
Und der Gefragte antwortete: »Ja, das ist richtig, Patron!«
Nachdem das geschehen war, öffnete der Patron die kleine Kapelle der Finca, und die Frauen der Peones durften hineingehen, einige Kerzen für das Seelenheil des Verstorbenen auf den Altar des Schutzheiligen der Finca stellen und anzünden.
Denn der Patron der Finca war ein guter Katholik, dem es als Sünde verbucht wurde, wenn er etwa nicht gestatten würde, dass einem verstorbenen Katholiken, auch wenn er nur ein armer Peon war, die Kerzen für sein ewiges Seelenheil geopfert werden.
Das war gerecht. Das galt als gerecht. Und weil es gerecht war, darum wurde es, wie alles, was gerecht ist, vom Gesetz und vom Staate geschützt. Denn wozu wäre der Staat gut, wenn er nicht das, was gerecht ist, mit seiner Polizei und mit seinen Soldaten und Richtern und Gefängnissen schützen wollte!
Und diese kleinen Unterschiede waren es, die den Carreteros das gute Recht gaben, sich auf der sozialen Stufenleiter eine Sprosse höher stehend zu dünken als die Peones der Fincas.
Die Welt ist voll von Gerechtigkeit. Es ist der Fehler der Carreteros und der Peones und aller übrigen Proleten auf der Welt, dass sie von der Gerechtigkeit, die umsonst zu haben ist, keinen Gebrauch machen.
Sowenig wie irgend jemand einen Carretero zwingt, etwa gar mit dem geladenen Revolver auf die Brust gedrückt, Schulden zu machen, ebenso wenig zwingt irgend jemand auf Erden, auch kein noch so geldgieriger Finquero, einen Peon, Schulden zu machen. Schulden zu machen und Schulden nicht zu machen ist die große Freiheit des Proleten.
Wenn der Carretero und der Peon von dieser großen Freiheit, die in den Nationalhymnen aller Völker den Kern des Gesanges bilden, einen unrichtigen, ihm selbst gar gefährlichen, Gebrauch machen, so soll man nicht den Finquero oder den Frachtunternehme r anklagen. Das ist ungerecht und wenig vornehm.
Alle Menschen ohne Ausnahme sind von Geburt an mit einem freien Willen behaftet. Für jeden einzelnen sind beide Wege offen, der Weg zur Hölle und der Weg zu den ewigen Freuden und Jubelgesängen des Paradieses. Der Erfinder der Worte Lohnsklave und Sklave der wirtschaftlichen Verhältnisse ist der Antichrist. Derselbe Antichrist, von dem schon die Apostel sagten: Hütet euch vor denen.
Sie zu hängen oder auf den Elektrischen Stuhl zu setzen oder sie als Phantasten und Staatszerstörer zu bezeichnen, ist die heilige Pflicht aller Guten, aller Gerechten und aller Edlen.

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