ZWÖLFTES KAPITEL
1
Es war gewiss recht traurig für ihn, dass er nicht tief genug in die Mysterien der Religion eingedrungen war. Wäre das der Fall gewesen, so wäre er nun in die Kirche gegangen, hätte der Himmelskönigin zwei große, dicke, mit buntem Papier beklebte Kerzen geopfert und sie innig angefleht, ihm doch zu geben, was er sich in seinem Herzen wünschte. Es ist bequemer, die Götter und Göttinnen anzubetteln, als sich selbst zu bemühen, sich das Gewünschte zu verschaff en, sei es durch Arbeit oder sei es durch ein kluges und intelligentes Handhaben der Umstände, die sich bieten. Dinge, die man ernstlich wünscht, erfüllen sich nicht immer, und sie erfüllen sich nur selten genauso, wie man sie sich gewünscht hat. Aber Dinge, die man ernsthaft begehrt, kommen einem viel näher und lassen sich, genügend nahe gekommen, viel leichter ergreifen und festhalten als Dinge, die man nur halben Herzens oder gar nicht begehrt. Das ist sehr natürlich und durchaus nicht mysteriös. Der wenig gebildete und der wenig intelligente Mensch muss beten, um sich auf seine Wünsche konzentrieren zu können. Und darum ist es ganz gleich, zu was einer betet, weil es nicht das Gebet ist, sondern das ernsthafte Begehren, das etwas Begehrtes nahe bringt.
Andres wusste rechtwohl aus langer Erfahrung, dass auch nicht ein einziges Loch am Wege verschwindet, wenn man darum betet. Wenn er oder seine Companeros die Löcher nicht mit Steinen ausfüllen und sorgfältig Ausguck halten, dann geht eben die Carreta in die Brüche. Er wusste, dass ihm der Patron nicht einen halben Real Lohnerhöhung gibt, wenn er stundenlang vor der Heiligen Jungfrau kniet. Er muss das persönlich mit seinem
Patron ausfechten, auf geradem oder auf krummem Wege. Und wenn ein Ochse den Abgrund hinunterstürzt, kein noch so inniges Beten holt den Ochsen wieder herauf. Der Ochse muss in stundenlanger blutigharter Arbeit von den Carreteros wieder auf den Weg gezockelt werden, mit Lassos und Bäumen und Stufenausgraben und Rinnenbauen.
Obgleich die Kirche so eindringlich, aus ihren offenen Portalen heraus, nach ihm rief, kam ihm nicht für eine Sekunde der Gedanke, die Heilige Gottesfrau um den Kameraden zu bitten, den er begehrte.
2
Er war unschlüssig, was er tun sollte. Hingehockt nach Indianerart, wie er war, bewegte er sich kaum.
Von einer nur kleinen Entfernung aus gesehen, erschien er in dem Schatten der Wand, gegen die er gelehnt war, wie eine Figur, die zu dem Hause als Ornament gehörte. Selbst den Kopf drehte er nicht.
Alles, was er sehen wollte von dem, was auf dem halb erleuchteten Platze vor sich ging, konnte er sehen, beinahe sogar, ohne die Augen zu bewegen.
Nur in seinem Innern war er unruhig geworden durch die Begegnung mit den Mädchen. Er mochte nicht länger mehr hier hocken bleiben, aber er wollte auch nicht gehen. Neues war hier jetzt nicht mehr zu sehen. Das Tanzen der Burschen und Mädchen hielt an. Aber für den, der nur zusieht, wird Tanzen öde. Die Prärie war in schwarze Nacht gehüllt. Die Carreteros schliefen, und die, die nicht schliefen, waren betrunken und blökten sinnlos vor sich hin. Carretas, Ochsen und Carreteros konnte er jeden Tag sehen. Aber eine Feria, wo er lässig dasitzen und unbelästigt zusehen konnte, war etwas Rares in seinem Leben. Wer konnte wissen, wann er die nächste Fiesta so lässig mitfeiern würde wie diese hier. Ein oder zwei Jahre möchten darüber vergehen.
Im Gedanken daran, dass er vielleicht jahrelang keinem Heiligenfeste beiwohnen könnte, wenn es seine Arbeit nicht zuließ und er auf langen Märschen war, beschloss er endlich, wieder ein wenig umherzuwandern zwischen den Verkaufsständen, Lauben und Roulettetischen. Es gab doch immer etwas Interessantes zu sehen. Er dachte daran, zu einer Cantina zu gehen und sich einen kleinen Comiteco einzuschwenken.
Vielleicht mochte es geschehen, dass er ein Mädchen traf, das keinen Liebhaber hatte und das einsam hier herum vagierte wie er. Dieser Gedanke, dass er einem Mädchen begegnen könnte, das vielleicht gar wie eines der drei Mädchen sei, die in ihm eine Erregung erweckt hatten, so neu und so seltsam für ihn, ließ sein Blut heiß werden. Es war möglich, dass er ein Mädchen traf, das willens war, mit ihm zu sprechen, mit ihm zu tanzen, mit ihm über den Markt zu schlendern, mit ihm gar vielleicht ein Stück hinauszuwandern, an den letzten Häusern vorbei, über die kleine Brücke und bis an die letzten Gehöfte, wo die Prärie begann.
3
Er streckte die Beine von sich. Dann griff er nach seinem hohen Basthut, der ihm vom Kopfe gerutscht war.
Als er sich rekelte, um aufzustehen, hörte er einen Laut, der wie ein unterdrücktes Seufzen klang.
Er sah in jene Richtung, rechts von ihm. Während der langen Zeit, die er hier gehockt hatte, war es ihm ein einziges Mal in den Sinn gekommen, in jene Richtung zu sehen. Dort lag tiefe Finsternis, die sich da noch mehr verdichtete, wo sie in ein kleines Gässchen überging. Da war nichts, was von irgendwelchem Interesse hätte sein können. Alles, was des Sehens wert war, lag vor ihm und links von ihm.
Nur die Kirche lag nach rechts, aber weiter nach vorn.
Als er nun näher zusah, bemerkte er, dicht in den Winkel des Hauses gedrückt, ein kleines Bündelchen Mensch. Ganz eng in sich selbst hineingekrochen, als fürchte es, der Welt und den übrigen Menschen zu viel Platz wegzunehmen. Und es schien, als ob dieses Bündelchen glaubte, es habe überhaupt kein Recht hierauf irgendwelchen Raum. So dicht in sich gekauert hockte es da.
Das Bündelchen rührte sich nicht. Man sah weder Kopf noch Füße. Das alles war eng eingekuschelt in einen Jorongo aus schwarzer Wolle mit dünnen grauen Streifen.
4
Andres vermochte keine Erklärung zu finden, wie das Bündelchen hier hergekommen war, so nahe, dass er es beinahe greifen konnte. Wohl mochte es sein, dass seine Gedanken weit herumgeschweift waren und er nicht beachtet hatte, wann und wie das Bündelchen sich neben ihn gekauert hatte. Vielleicht war es schon hier gewesen, als er sich hier niedersetzte. jedenfalls hatte er es nicht wahrgenommen.
Und weil es jetzt so unerwartet hier lag, schien es ihm, als wäre es vom Himmel heruntergefallen.
Er schob sich ein wenig näher heran. Und als er das tat, kam es ihm vor, als kröche das Bündelchen noch mehr in sich zusammen.
Wieder hörte er ein leises Aufseufzen, das wie ein Veratmen eines langen Weinens klang.
Mit leiser Stimme fragte er: »Warum weinst du, kleines Mädchen?« Er erhielt keine Antwort.
Es kam ihm zu Sinn, dass sie wohl kein Spanisch verstehen möchte. Und er fragte nun in seiner Muttersprache, in Tseltal: »Weshalb, kleines Mädchen, bist du traurig?«
Das Bündelchen regte sich und reckte sich ein wenig hoch. »Hast du keine Mutter?« fragte er.
»Muquenal«, sagte das Bündelchen leise und seufzte wieder auf. »Auf dem Friedhof also«, erwiderte Andres.
»Und dein Vater?« fragte er darauf.
»Mee muquenal, tat milvil, nebahachisch, mucul aquil namal«, sagte das Bündelchen. »Meine Mutter auf dem Friedhof, mein Vater erschlagen, ich bin nun verwaist, mein Heimatdorf ist weit von hier.«
Mit diesen wenigen Worten hatte sie wohl ihre ganze Geschichte erzählt.
5
Andres rückte noch näher an sie heran.
Er sagte: »Kann ich dir nicht helfen, kleines Mädchen?«
Sie schwieg eine Weile, als müsse sie nachdenken. Dann sagte sie: »Bocon, ich werde nun gehen.«
»Wohin willst du denn gehen, so spät in der Nacht? Die wilden Hunde werden dich beißen. Und Betrunkene, die draußen auf den Wegen herumliegen, werden dich belästigen.«
»Ich habe keine Furcht«, sagte sie darauf. »Ich habe sehr scharfe Zähne und harte Nägel an meinen Fingern, und ich suche mir zwei dicke Steine und trage sie mit mir im Arm.«
Sie hatte sich, während sie sprach, aus ihrem Jorongo mehr und mehr herausgewickelt. Der Kopf war nun frei.
»Wie alt bist du?« fragte er.
»Jolajuneb, fünfzehn Jahre habe ich«, antwortete sie. »Anelvaneg, Flüchtling?« fragte er. »Ja, anesvil, ich bin geflohen von der Finca«, sagte sie.
Ihre Haare waren wirr, verfilzt und ungekämmt, schmutzig und, wie Andres vermutete, voll von Läusen.
Ihr Gesicht und ihre Hände waren seit Tagen nicht gewaschen. Ihre Haut war dunkel Bronze, ihre Augen tiefschwarz wie ihr strähniges Haar, sehr groß und glänzend.
Andres konnte alles das jetzt sehen, nachdem sie ihm ihr Gesicht zugewandt hatte und das Licht vom Markt her auf sie
fiel.
»Hast du kein Lager für die Nacht?«fragte er. »Ich werde hinaus auf die Prärie gehen«, sagte sie. Er lachte sie an. Und als er sah, dass sie sein Lachen mit einem zögernden Lächeln erwiderte, sagte er: »Ich werde dich mit mir nehmen zu den Carretas, und ich
werde dir ein schönes warmes und weiches Lager in einer Carreta bereiten. Willst du?«
»Du bist gut zu mir, Binash Yutsil, du schöner Junge«, sagte sie einfach. Und damit hatte sie seine Einladung angenommen.
6
»Lass uns denn erst zum Brunnen gehen«, riet er. »Warum?« »Suquel, um uns zu waschen.«
Er war galant und höflich. Denn er hatte gemeint, dass sie sich waschen sollte. Aber weil das nun in Gemeinschaft geschah, tat es ihr nicht weh, zu hören, dass ihr das Waschen sehr vonnöten war.
Er zog ein Stückchen Seife aus der Tasche und gab es ihr. Sie wusch sich unten am Rande des Brunnens, wo das Wasser in die Tränken lief, für die Tiere, die hier hergeführt wurden, um getränkt zu werden.
»Warte hier ein kleines Augenblickchen«, sagte er und rannte davon.
In einer Minute schon kam er zurück und brachte einen hölzernen Kamm, den er an einem der Stände für fünf Centavos gekauft hatte.
»Und nun werden wir gehen und uns das Haar recht schön kämmen«, sagte er. Er nahm sie bei der Hand, und sie gingen zurück in den Schatten des Hauses, wo sie sich gefunden hatten.
Sie begann ihr Haar sorgfältig durchzukämmen. Das dauerte eine lange Zeit. Das Haar, von Natur aus sehr dick und strähnig, war wie ein Filzballen.
Er sah ihr zu, lachte und redete mit ihr, als kenne er sie seit vielen Jahren.
Sie wurde vertraulich wie zu einem Bruder. Es schien ihr ungemein wohlzutun, jemanden gefunden zu haben, mit dem sie sich aussprechen konnte.
Diese Vertraulichkeit, die sie ihm entgegenbrachte, erfüllte ihn mit einem seltsamen Gefühl von Wärme.
Er hatte ein Empfinden, als bade sein Herz in einem warmen
Sonnenlicht. Es rieselte ihm wohl durch den Körper. Die Sehnsucht, die ihn so traurig gemacht hatte, weil sie auf nichts gerichtet schien, und die nur Sehnsucht war um der Sehnsucht selbst willen, löste sich in ihm auf zu einer stillen und großen Freude. Er konnte ihr keinen Namen geben; denn es war eine Freude, die ihm neu war und die sich mit nichts verknüpfen ließ, was er kannte. Er hatte den Wunsch, dass diese Nacht nie zu Ende gehen möge und dass das Mädchen schwatzen und schwatzen möchte, ohne aufzuhören.
Wenn sie beim Kämmen das Haar zurückwarf, um es aufzuschütteln, dann den Kopf, halb gesenkt, wandte und ihm ihr Gesicht zuneigte, ihn anlachte und mit ihren weißen Zähnen in ihrem Lachen spielte, wurde ihm, als wäre eine neue Welt geboren worden.
Er fühlte sich unendlich reich, dass er dem Mädchen einen Kamm kaufen konnte, und reicher noch, dass er ihr eine Carreta als Haus anzubieten in der Lage war.
Endlich war das Mädchen fertig mit ihrem Haar. Sie schüttelte das Haar zurück, wandte ihm nun ihr Gesicht voll zu und lachte ihn an.
Sie zupfte die ausgekämmten Haare aus dem Kamm, klopfte den Kamm auf den Steinen aus und reichte ihn dann ihm zu.
»Das ist dein Kamm, ein Geschenk für dich vom Heiligenfest«, sagte er.
»Ich habe aber keine Tasche, wo ich ihn tragen könnte«, meinte sie lächelnd. »Willst du ihn nicht für mich in deiner Tasche tragen?« Er nahm ihn und steckte ihn ein und sagte: »Ich bin so froh, dass ich ihn für dich tragen darf. Dann musst du immer zu mir kommen, wenn du dein Haar kämmen willst.«
»Das will ich wohl gern tun«, antwortete sie.
Er stand auf und sagte: »Und nun, vehel ta hacabaltic, las uns zu Abend essen. Willst du? Hast du Hunger?«
Sie warf den Kopf zurück, um von ihrer hockenden Stellung aus ihm in die Augen zu sehen: »Was habe ich für einen großen Hunger, schöner junge und guter, Binash Yutsil, zwei Tage habe ich nichts gegessen.«
7
Sie gingen zu der kleinen indianischen Küche, wo Andres früher am Abend seine Enchiladas gekauft hatte.
»Nun, was möchtest du denn haben für dein Abendessen, tujom ants?« fragte er freundlich.
Sie wurde dunkel im Gesicht, als er das sagte, und sie blickte verschämt an sich herab. Denn >tujom ants< heißt: schöne Frau. Und in der Weise, wie er es gesagt hatte und sie dabei angelächelt hatte, lag nicht nur eine Bewunderung, sondern mehr.
Aber dann wandte sie den Kopf und sah ihn von der Seite aus lächelnd und mit halb zugekniffenen Augen an.
»Na?« fragte er wieder. »Was will das kleine Mädchen zum Abendessen haben?«
»Tibal«, erwiderte sie, »Fleisch, tüchtig Fleisch, ich habe sehr viel Hunger.«
Er bestellte die Enchiladas. Während sie der Zubereitung zusahen, sagte sie: »Ich bin aber gar kein kleines Mädchen mehr. Ich bin jetzt groß. Ich blute schon mehr als ein Jahr. Das darfst du mir glauben, Binash Yutsil huinic, du hübscher Bursche.«
Dabei lachte sie wieder.
Sie war barfuss. Der steife schwarzwollene Kittel, zerlöchert und mit Streifen angetrockneter Erde beschmiert, reichte ihr nur gerade bis an den Beginn ihrer muskulösen Waden. Die Beine gleichwie die Arme sahen aus wie leicht poliertes Mahagoniholz. Ihre Füße waren sehr klein, aber die Zehen standen breit und in gesunder Form nebeneinander. Nie hatte sie ein Schuh in ihrem Wachstum gehindert.
Unter dem Kittel schien sie kein Hemd zu haben. Aber die Brust war bekleidet mit einem weißen Baumwolljäckchen, dessen Saum mit roter Wolle in einfachen Linien und mit schlichten Sternchen bestickt war. Das Jäckchen war tiefgrau von Schmutz und eingefressenem Staub.
Über dem Jäckchen trug sie den Jorongo, eine schwarze raue Wolldecke mit dünnen grauen Streifen eingewebt. Die Wolldecke hatte einen Schlitz in der Mitte, durch den sie den Kopf gesteckt hatte. So fiel der Jorongo schützend über ihre Brust. Er war kurz und reichte ihr nur bis an die Hüften. Hier an den Hüften war der Wollkittel zu einem dicken Wulst aufgerafft, weil der Kittel, indianischer Mode folgend, so weit war, dass er nie geändert zu werden brauchte, wenn die Trägerin hoffend war. Er wurde gehalten von einem breiten roten Wollband, das sie um die Hüften gewunden und ineinander gedreht hatte.
Ihre Arme waren nackt bis über den Ellbogen hinaus. Der Hals war offen, aber der Nacken war bedeckt von ihrem dicken, dichten, wuschligen, trotz des Kämmens immer noch filzigen Haar, das ihr lang bis an die Hüften fiel.
Die Enchiladas waren endlich fertig geworden. Er bezahlte, ließ sich noch etwas Salz in ein Stück Bananenblatt geben und eine kleine Zitrone.
Dann sagte er: »Wir werden dort drüben auf der Kirchtreppe essen und später hierher zurückkommen und jeder ein Töpfchen Kaffee trinken.«
»Hutsil«, sagte sie lachend, »das ist recht so.«
8
»Willst du nicht auch essen?« fragte sie, als sie auf den Stufen der Treppe saßen. »Ich habe schon gegessen, und ich habe jetzt keinen Hunger«, erwiderte er. »Dann musst du aber hier von jeder Enchilada erst einmal abbeißen, sonst schmeckt es mir gar nicht, und ich bleibe hungrig«, sagte sie und hielt ihm eine Enchilada an den Mund. »Wie heißest du, kleines Mädchen?« fragte er. »Ich habe noch keinen Namen«, antwortete sie. »Meine Mutter und mein Vater haben mich nur immer Huntic gerufen, Kindchen, nichts weiter. Und in der Finca die Herrin hat mich immer nur gerufen Antsilvinic, Magd. Und der José, der Sohn des Herrn, hat mich immer gerufen Mejayel.«
»Warum hat er dich Mejayel gerufen?« fragte Andres ärgerlich. »Einen so hässlichen Namen für dich, kleines Mädchen. Wie niederträchtig dieser José doch sein muss! Da drüben, in der Cantina, siehst du, jedes bemalte Mädchen, das dort den Comiteco den Männern an den Tisch bringt, sich den Männern auf die Knie setzt und sich von den Männern unter die Röcke und an die Brüste greifen lässt, um dafür gut von ihnen bezahlt zuwerden, jede dieser Mädchen ist eine Mejayel.«
Sie verstand das nicht alles, weil ihr das, was Andres erzählte, so neu und unverständlich war wie einem normalen Menschen die Fabel von der Erbsünde. Aber sie begriff, dass sich eine fremde und ungewohnte Welt vor ihr eröffnete. Sie sah keine Zusammenhänge der Geschehnisse in dieser neuen Welt. So glaubte sie, beim ersten Zusehen wenigstens, dass sie keine Zusammenhänge erkenne. Als sie aber häufiger in jene Cantina hinübergeblickt, häufiger die Mädchen und deren Hantierungen beobachtet hatte und dabei versuchte, das, was sie sah und beobachtete, in Einklang zu bringen mit dem, was ihr Andres soeben erklärt hatte, begann sie langsam zu verstehen. Sie begann sogar die Zusammenhänge viel rascher in ihrem Kopfe zu ordnen, als Andres das erwartet hatte. Und nach einer Weile Zusehens und Nachdenkens erkannte sie, dass in jener Cantina dasselbe getan wurde, was sie auf der Finca gesehen hatte. In der Cantina, das nächste Haus zur Kathedrale, war lediglich die Verkleidung und die Beleuchtung eine andere. Das war der einzige Unterschied.
Sie sagte dann: »José hat gelogen. Ich weiß jetzt, was eine Mejayel ist. Aber José hat gelogen, ich bin keine Mejayel. Er wollte mich aber zu einer machen. Das weiß ich jetzt. Und das ist der Grund, warum ich fortgelaufen bin von der Finca.«
»Ich will dir alles erzählen, Binash Yutsil«, sagte sie, als sie gegessen hatte.
»Lass uns vorerst ein Töpfchen Kaffee trinken gehen, du wirst gewiss durstig sein«, riet Andres.
9
Sie saßen dann wieder auf der Kirchtreppe. Aus der Kirche hörten sie das ewige Gemurmel der betenden Frauen, hin und wieder ein monotones Gesinge.
Das Lärmen und Schreien der Händler auf dem Platze ebbte ab. Es wanderten noch immer viele Leute herum; aber niemand kaufte mehr etwas. Nur an den Spieltischen, an der Roulettebank, an den Würfeltischen, an dem großen ratternden Rad mit Nummern, wo die bösartigen, goldbeklecksten Blumenvasen, die japanischen Fächer und die verrosteten Weckeruhren ausgespielt wurden, an den großen Bankettafeln, wo die Leute Bohnen auf Karten legten, um je nach Ausrufen der ausgespielten Karten vier Bilder in eine Reihe zu bekommen, wodurch sie einen Strauß von Papierblumen, ein Branntweinglas oder einen Kamm gewinnen konnten, da bildeten sich jetzt größere Knäuel von Leuten, die teils spielten und teils zusahen.
An diesen Bankettafeln ging es am lautesten zu. Man hörte das Schreien des Mannes, der die Karten aufdeckte: »El Diabolo!«, und »El Diabolo!« wiederholte sein Gehilfe, damit jeder der Spielenden die ausgespielte Karte, wenn sie auf sein Blatt fiel, mit einer Bohne besetzen konnte. »El Globo« - »El Globo«; »El Alacran« - »El Alacran«; »La Vaca« - »La Vaca«. Die Ausrufer der ausgespielten Karten liebten es, die Bilder der Karten, die aufgedeckt wurden, mit Reden zu würzen, von denen sie glaubten, dass sie witzig seien.
Mehrere der Händler begannen, ihre Tische mit geölter Leinwand zu überdecken; andere packten ihre Waren in Kisten; wieder andere deckten über die ausgebreiteten Waren Schilfmatten. War das getan, dann legten sich die Händler und die Händlerinnen unter dem Tisch oder neben dem Tisch auf einer Matte zum Schlafen nieder.
Mehr und mehr der rußenden Laternen und der Blechflaschen, in denen ein Stück Baumwolle, in Ö1 getränkt, schwelte, verlöschten. Die auf und ab wandernden Leute erschienen wie gespenstische Schatten zwischen den Tischen der Händler, die ihr Geschäft für heute geschlossen hatten.
In der Nähe des Brunnens wurde aber freudig weitergetanzt.
Aus einer weit zurückliegenden Straße hörte man die wehmütig quellenden, flötenden, brummenden Töne einer Marimba. Zuweilen klang sie wie Harfen, zuweilen wie Hoboes in allen Größen, zuweilen wie das Singen tiefer voller Frauenstimmen, zuweilen wie ein sanftes Glockenspiel. Irgendein Bürger der Stadt hatte eine Privatfeierlichkeit in seinem Hause, oder ein Liebhaber brachte seinem Mädchen ein Ständchen, oder eine Familie feierte den Heiligentag eines ihrer Mitglieder.
»Möchtest du nicht ein wenig mit mir tanzen?« fragte Andres.
»Ach möchte wohl mit dir tanzen, mein hübscher Junge, aber ich fürchte mich«, sagte sie.
»Brauchst keine Furcht zu haben, kleines Mädchen«, beruhigte er sie. »Da sind keine Ladinos beim Tanz, alle sind Leute wie wir, Indios, wie du und ich. Lass uns gehen.«
Sie gingen zu den Tanzenden.
Niemand achtete auf sie.
Er sah aus wie alle übrigen Burschen hier, und sie war wie mehrere andere der indianischen Mädchen umliegender Ortschaften, die zum Fest gekommen waren.
Er gab ihr sein buntes Halstuch in die Hand; und sie tanzten ihren indianischen Zapateado, fröhlich und unbekümmert wie alle übrigen, die sich hier zum Tanz eingefunden hatten.
Sie vergaßen völlig, dass sie sich nur zwei Stunden erst kannten. Und es störte sie nicht, dass keiner von beiden den Namen des andern wusste. Es war ihnen beiden, als hätten sie sich schon gekannt in jener fernen Zeit, wo die Welt zu erwachen begann.
10
Es wurde spät in der Nacht.
Die Musikanten wurden müde. Sie spielten nun schon drei Wochen lang während des Tages und während der Nacht, oft bis in den neuen hellen Tag hinein. Sie verdienten nicht viel. Denn wer zu ihnen zum Tanzen kam, hatte nur wenig Geld auszugeben. Aber sie, Indianer wie alle hier, schienen sich genügend bezahlt, dass sie andern Menschen Freude bereiten durften, dass sie die Kümmernisse, die jeder einzelne hatte, der zu ihnen kam, vergessen machen durften, wäre es auch nur für einige fröhliche Stunden der Nacht.
»Nun werden wir wieder ein Krügchen Kaffee trinken gehen und uns süßes Brot dazu kaufen«, schlug Andres vor, als das Mädchen ihm sein Tüchelchen zurückgab.
»Ganz wie du willst, Binash Yutsil«, sagte sie, ihn anlachend. »Befiehl, und ich gehorche dir.«
Er nahm sie beim Ellbogen und führte sie so zu der Küche der Indianerin, die schläfrig neben ihrem Öfchen hockte. Diese Frau saß hier Tag und Nacht und kochte für die hungrigen indianischen Gäste, die zu ihr kamen. Auch sie war schon, wie die Mehrzahl der Händler und Spieltischbesitzer, in Sapalut zum Fest gewesen. Es war nicht zu erraten, wann sie eigentlich schlief. Sie hatte gewiss die Gabe, ausreichend zu schlafen, während sie neben ihrem Öfchen hockte und gerade keine Gäste vor dem Tisch standen. Ihre Gäste hatten nie Eile, nie drängten sie, nie redeten sie laut und verdrossen, wenn die Enchiladas nicht schnell genug fertig waren. So mochte die Indianerin ihre Nickerchen tun, während sie scheinbar am Öfchen herumwirtschaftete. Wenn sie sah, dass niemand am Tisch stand, dann zog sie ihren Rebozo weit über das Gesicht, und sie schlief sofort so fest, dass sie schnarchte. Aber eine ihrer Töchter brauchte nur halblaut zu rufen: »Madrecita, dos con pollo, dos con res, zwei mit Hühnchen und zwei mit Rindfleisch«, da war sie auch schon wieder wach, und wie ein Automat bereitete sie die verlangten Enchiladas, ohne sich in den verschiedenen Salaten und Tunken je zu vergreifen. Ihre erste Bewegung, wenn sie aus dem Schlaf geweckt wurde, war, ebenso automatisch, das glimmende Feuer anzublasen. Das glimmende Feuer anzublasen, das auf der Erde oder auf einem Lehmherd Tag und Nacht schwelt, ist immer die erste Tätigkeit einer Indianerin nach dem Aufwachen; wie es auch die erste Tätigkeit der indianischen Burschen ist, die einen Reisenden in den Dschungeln und Urwäldern begleiten.
11
Es war nun recht empfindlich kalt geworden. Und der heiße Kaffee, erweitert durch einige Biscochos, einige süße Brote, tat den beiden jungen Leutchen gut und machte sie froh.
»Ich denke, kleines Mädchen, du wirst wohl nun recht müde sein«, sagte Andres weich. »Wie wäre es, wenn du nun schlafen gehen würdest? Ich bereite dir ein vortreffliches warmes Lager in einer Carreta, wo du schlafen magst, solange und soviel du willst.«
Unbefangen erwiderte sie: »Wenn du das befiehlst, so muss ich dir wohl gehorsam sein.«
»Willst du mir immer gehorchen, kleines Mädchen?« fragte er leise.
»Immer«, sagte sie einfach, »immer, denn du bist gut zu mir.«
Sie gingen durch die langen stillen Straßen. je weiter sie sich von der Plaza entfernten, um so dunkler wurde es. Die Straßenlampen waren verlöscht.
Sie stolperten oft.
Weil die Behörden, oder genauer die Leute, die Behörde waren, die Gelder, die der Verbesserung der Straßen dienen sollten, in einer Weise verwendeten, die ihnen nützlicher erschien, und darum ihren eigenen persönlichen Zwecken dienstbar machten, so waren die Straßen in einem bejammernswerten Zustande, sobald man nicht mehr im eigentlichen Mittelpunkt der Stadt war. Ausgebrochene Steine, tiefe Löcher und Gruben, in denen man drei Meter tief versank, wenn man hineinfiel, tiefe Rinnen und Furchen, gefüllt mit schleimigem Unrat und stinkendem Morast, Wasserpfuhle und Lachen von überlaufenden Kloaken, Baumstämme, Bretter, Carreta-Deichseln, heruntergefallene Hausdächer und abgebrochene Hauswände fanden sich kreuz und quer in den Straßen der äußeren Stadt. Brückchen hatten mittendrin große Löcher, einige hatten Geländer, aber teils ausgebrochen, andere hatten überhaupt kein Geländer. Am Tage war es schon schwierig genug, diese Straßen ohne Fährnisse zu begehen.
Nachts lauerten Gliederbrüche und Bäder in stinkenden Gruben alle zehn Schritt.
Andres zog aus seinen hinteren Hosentaschen Kienspäne und zündete sie an, um den Weg zu beleuchten.
Eine elektrische Taschenlampe, einer seiner höchsten Wünsche in seinem Leben, hatte er bis jetzt nicht erwerben können. Er sah auch keine noch so ferne Möglichkeit, jemals in seinem Leben eine solche Lampe zu besitzen.
Aber er wie auch das Mädchen waren an Kienspäne gewöhnt. Weder im Hause noch bei der Arbeit hatten sie anderes Licht. Jede Carreta hatte freilich eine Laterne. Aber diese Laterne war so wenig von wirklichem Nutzen, dass die Carreteros, wenn sie ernsthaft gutes Licht benötigten, Kienspäne zum Leuchten brauchten. Sie hatten darum auch immer einen guten Vorrat von Kien in ihren Carretas. Der Kien kostete den Herrn keinen Cent; denn die Carreteros schnitten ihn auf ihren Wegen aus den Tannen heraus, die sie antrafen und die sie nicht befragten, wem sie gehörten. Das verbilligte für ihre Herren die Ausgaben für Petroleum der Laternen.
Die Stadt ist sehr weit gebaut; denn jede Familie wohnt in einem besonderen Hause, und jedes Haus hat einen geräumigen Patio oder Hof. Darum dauerte es eine gute Zeit, ehe die beiden Leutchen an den letzten Häusern der Stadt angelangt waren. Hier wurde der Weg sicherer als in der Stadt; denn die große Prärie breitete sich vor ihnen aus.
12
Andres setzte sich auf eine Böschung und sagte: »Lass uns hier ein wenig rasten und eine Zigarette rauchen. Willst du?«
»Ich will«, sagte sie, und sie setzte sich neben ihn.
Er rollte Zigaretten in trockene Maisblätter, die er bei sich trug, und gab ihr eine.
»Wenn wir nicht ein wenig rauchten«, sagte er erklärend, »könnten wir es hier nicht ertragen, der vielen Moskitos wegen.«
Die schwere Nacht lag über ihnen und um sie mit tiefer Wucht. Aber sie lastete nicht auf ihnen und drückte sie nicht. Es war ein weites geräumiges Fluten von satter Dunkelheit und von wohltuender Ruhe.
Auf der Prärie geigten und summten und flöteten die Grillen und was sonst im Grase leben und sich freuen mochte. Zuweilen hörte man aus weiter Ferne das tiefe Brummen eines Rindes oder das klagende Trompeten eines Mules.
Die Sterne funkelten und glitzerten über ihnen in tropischer Klarheit wie kleine Sonnen.
Dann flatterten einige Fledermäuse dicht über die beiden hin, kamen zurück und umkreisten sie in Bogen, die bald weit waren, bald eng.
Von der Stadt her glimmerten einige Lichter verloren herüber.
Einige Male krackerten verspätete Feuerwerkskörper über die Stadt hin, und es schossen hier und da einige Raketen durch die Luft, um den heiligen Caralampio wieder aufzuwecken. Er wird doch nicht etwa gar schlafen wollen an seinem Geburtstage! Das kann ihm nicht erlaubt werden.
13
Sagte das Mädchen: »Wenn ich die Sterne sehe, so weit ausgebreitet über den tiefschwarzen und dennoch so klaren Himmel, funkelnd, als wollten sie sprechen, dann muss ich an meine liebe Mutter denken.
Vielleicht wohnt sie jetzt auf einem dieser Sterne. Sie liebte die Sterne mehr als irgend sonst etwas in der großen Natur. Nachts konnte sie viele Stunden vor der Hütte sitzen und die Sterne ansehen und sich an ihnen erfreuen, mich auf ihrem Schoße oder zwischen ihren Knien haltend. Und einmal in einer solchen Nacht, als mein Vater vom Finquero für einige Tage hinweggeschickt war mit Rindern, erzählte mir meine Mutter eine Geschichte von den Sternen. Ich habe diese Geschichte nie vergessen.
Ich trage sie immer in meinem Herzen. Und darum fürchte ich mich nicht in der Nacht, so schwarz sie auch sein möge. Ich habe die Geschichte nie jemand erzählt, weil sie mir heilig ist als das Liebste und Schönste, was mir meine gute Mutter hinterlassen konnte. Aber dir, Binash Yutsil, dir will ich die Geschichte wohl erzählen. Denn du bist gut zu mir, so gut zu mir, wie nur meine Mutter zu mir war, sonst niemand auf der Welt. Nicht einmal mein lieber Vater, der immer müde war von vieler Arbeit und immer voller Wunden war an seinem Körper von dem Arbeiten im Dschungel.«
Nach einer langen Weile, als sie sich gegen ihn lehnte, um sich gegen den kühlen Wind, der heraufzog, besser zu schützen, sagte er leise und zart: »Diese Geschichte, kleines Mädchen, ist das allerschönste Geschenk, das du mir geben kannst. Und ich will dir so gut und so mit Andacht zuhören, als ob deine liebe Mutter zu mir spräche. Ich glaube gewisslich, dass sie auf einem der Sterne wohnt und heruntersieht auf dich und dich mit allen ihren Kräften schützt vor jedem Unheilvollen, das dich verletzen könnte.«
Sie schmiegte sich dichter an ihn. Und er nahm sie in seine Arme und kuschelte sie wohlig in seinen Jorongo.
14
Ebenso leise, wie er gesprochen hatte, sagte sie: »Es ist die Geschichte von dem Gotte, der die Sonne schuf. Die bösen Geister, die die Menschheit vernichten wollten, weil sie eine Schöpfung der guten Götter war, hatten die guten Götter besiegt und sie alle erschlagen. Als das geschehen war, löschten sie die Sonne aus mit Schnee und mit Eis und mit kalten Stürmen. Und da begann eine ewige Nacht auf Erden. Alles war von Eis bedeckt. Die Menschen froren zu Tode. Es wuchs nur ganz spärlich Mais, der die Menschen mit großer Not am Leben hielt. Aber viele, viele starben Hungers. Es wuchsen keine Bäume mehr mit süßen Früchten. Es blühten keine Blumen mehr. Es sangen keine Vögel mehr. Die Grillen und Zikaden hörten auf zu geigen und zu flöten.
Die Menschheit starb dahin, und alle Tiere der Wälder und der Prärien starben, so dass auch die Männer immer seltener ein Tier erjagen konnten, um ihre Frauen und Kinder zu ernähren und sie mit wärmenden Fellen zu bekleiden.
Als die Not nun immer größer wurde, da riefen die Häuptlinge und Könige der indianischen Völker einen großen Rat zusammen, um zu beschließen, wie sie eine neue Sonne schaffen könnten.
Denn am Himmel standen nur die klaren Sterne. Die Sterne hatten die bösen Geister nicht auslöschen können. Auf ihnen lebten die Geister der abgeschiedenen Menschen, die sich vortrefflich zu verteidigen verstanden, weil ihnen von den guten Göttern Kraft verliehen worden war und es ihre Aufgabe war, für ewig die Sterne am Leuchten zu erhalten.
Viele Wochen lang dauerte der große Rat der Könige. Aber niemand wusste einen Weg, wie man eine neue Sonne schaffen könnte. Nun war unter den Königen ein Sabio, ein großer Weiser, der mehr als, dreihundert Jahre schon alt war und alle Geheimnisse der Natur gelernt hatte.
Und der sagte: >Wohl gibt es einen Weg, eine neue Sonne zu schaffen. Ein junger, starker und sehr tapferer Mann muss zu den Sternen gehen. Dort muss er die Geister der Abgeschiedenen bitten, ihm von jedem Stern ein kleines Stückchen zu geben. Diese kleinen Stückchen Steine muss er sammeln, an seinen Schild heften und mit sich tragen, höher und immer höher, bis er endlich oben im Mittelpunkt des Himmelsgewölbes angelangt ist. Und wenn er dort endlich angekommen ist, wird der Schild sich in eine große leuchtende und heiße Sonne verwandeln. Ich selbst würde wohl gehen und es tun. Aber ich bin alt und schwach. Ich vermag nicht mehr gut zu springen. Ich kann darum nicht von einem Stern zum andern springen. Und ich bin auch nicht mehr stark und gewandt genug, Speer und Schild zu führen und mit den bösen Göttern zu kämpfen, die es verhindern werden, dass eine neue Sonne geschaffen wird.< Als der Weise gesprochen hatte, sprangen alle Könige, Häuptlinge und großen Krieger, die im Rat saßen, auf und riefen: >Wir sind bereit, zu gehen. < Darauf sagte der Weise: >Es tut euch viel Ehre, dass ihr gehen wollt. Aber es kann nur einer gehen, und dieser eine muss allein gehen mit seinem Schild, weil nur eine Sonne geschaffen werden darf. Zu viele Sonnen würden die Erde verbrennen.
Derjenige, der geht, muss das größte Opfer bringen, das ein Mensch nur bringen kann.
Er muss sein Weib verlassen, seine Kinder, seinen Vater und seine Mutter, seine Freunde und sein Volk.
Er kann niemals wieder zurückkehren auf die Erde.
Er muss für ewig am Himmelsgewölbe wandern, den Schild in seiner Linken; und er muss für ewig gerüstet sein, die bösen Götter, die nicht ruhen werden, die Sonne abermals auszulöschen, zu bekämpfen.
Er kann die Erde und sein Volk immer sehen, aber er kann nicht mehr zurückkehren.
Er ist für ewig ein Einsamer im Weltall.
Bedenke das ein jeder wohl, ehe er gehe.<
Als die Könige das vernahmen, wurden sie alle sehr verzagt.
Keiner von ihnen wünschte sich für ewig von seiner Frau und seinen Kindern, von seiner Mutter, von seinen Freunden und von seinem Volk zu trennen.
Ein jeder von ihnen zog vor, dereinst zu sterben und unter seinem Volke und in seiner Erde zu ruhen.
Da war ein langes Schweigen im Rat.
Aber dann endlich sprach einer der jüngsten Häuptlinge: >Ich möchte reden, ihr tapferen Männer. Ich bin jung und stark und wohlgeübt in den Waffen. Ich habe eine junge und schöne Frau, die ich sehr liebe, mehr als mich selbst. Und ich habe einen prächtigen jungen, der gleich meinem Herzblut ist.
Und ich habe eine liebe und gütige Mutter, deren Schutz und deren Hoffnung ich bin. Und ich habe viele geliebte Freunde. Und ich liebe mein Volk, in dem ich geboren wurde und von dem ich ein untrennbares Teilchen bin. Aber mehr als mein Weib, mehr als meinen Jungen, mehr als meine Mutter, meine Freunde und mein Volk liebe ich die Menschheit. Ich kann nicht vollkommen glücklich sein, wenn ich die Menschheit leiden sehe. Die Menschen brauchen eine Sonne. Ohne Sonne muss die Menschheit vergehen. Ich bin bereit, zu gehen und den Menschen die Sonne zu bringen, was immer auch mein Los und mein Schicksal sein möge.< Es war Chicovaneg, der so gesprochen hatte.
Er nahm Abschied von seinem Weibe, seinem jungen, seiner Mutter und seinem Volke.
Versehen mit dem Rat des Weisen, machte er sich auf, sich auszurüsten.
Er fertigte sich einen starken Schild aus Tigerhaut und aus Schlangenhaut.
Er fertigte sich einen Helm aus einem mächtigen Adler.
Und er fertigte sich starke Schuhe aus den Tatzen eines mächtigen Tigers, den er im Dschungel erlegt hatte. Dann ging er aus, die gefiederte Schlange zu suchen. Er fand sie nach vielen Jahren Suchens in einer tiefen dunklen Höhle. Sie war das Symbol der Welt.
Darum wurde sie bewacht von einem bösen Zauberer, der im Solde der bösen Götter stand.
Mit viel List und Klugheit gelang es ihm, den bösen Zauberer zu erschlagen.
Er machte ihn trunken mit süßen Säften aus Maguey.
Und als der böse Zauberer ganz im Rausche lag und alle seine vierzig Augen geschlossen waren, schlich sich Chicovaneg heran und tötete ihn mit seinem Speer, den er vergiftet hatte mit hundert Giften, die ihm der Weise alle genannt hatte.
Dann sang er süße Lieder, und auf seiner Schalmei flötete er schmelzende Melodien; und da kam die gefiederte Schlange hervor und folgte ihm, allen seinen Befehlen gehorchend.
Hierauf ging Chicovaneg auf seine große Wanderung, bis er nach vielen Jahren und unter vielen Kämpfen mit bösen Göttern an das Ende der Welt kam.
Hier waren die Sterne am tiefsten über der Erde.
Den untersten Stern konnte er mit einem leichten Sprung erreichen.
Er erzählte den Geistern der Abgeschiedenen, die hier auf diesem Sterne wohnten und die schwarz waren von Angesicht, weil sie nicht indianischen Blutes waren, dass die Menschen keine Sonne hätten und dass er sein Weib und sein Volk verlassen habe, um den Menschen eine neue Sonne zu bringen.
Die Geister gaben ihm freudig ein kleines Stückchen ihres Sternes, um den Menschen zu helfen.
Chicovaneg heftete das Stückchen mitten auf seinen Schild, wo es sofort in strahlender Schönheit zu leuchten begann wie ein Diamant.
Von nun an vermochte er seinen Weg in der tiefen Nacht schon besser zu sehen, weil dieses winzige Sternlein an seinem Schild ihm leuchtete. Nun sprang er von Stern zu Stern.
Und überall, wohin er auch immer kam, und ganz gleich, ob die Geister gelben, weißen, braunen oder schwarzen Angesichtes waren, sie gaben ihm willig ein kleines Stückchen ihres Sternes.
Und als er zu jenen kam, die seines Blutes waren, wurde er mit großen Freuden empfangen.
Sie waren stolz darauf, dass es einer ihres Blutes sei, der den Menschen die Sonne bringen wolle.
Sie stärkten seinen ermüdeten Körper und schärften seine Waffen. Mit jedem Sprung, den er von einem zum andern Stern tat, wurde sein Schild leuchtender.
Und als der Schild nun endlich so leuchtete, dass er den größten der Sterne weit überstrahlte, da wurden die bösen Götter seiner gewahr.
Sie erkannten, dass er auf dem Wege war, den Menschen eine neue Sonne zu schaffen.
Und sie begannen, ihn mit großer Wut zu bekämpfen und ihn am Weitergehen zu hindern.
Sie ließen die Erde erbeben, um die Sterne zu erschüttern, damit er den Sprung zum nächsten Stern verfehlen sollte.
Sie wussten wohl, dass, wenn er auch nur einen Sprung verfehle, er dann in das schwarze Weltall fallen würde, aus dem er sich nicht mehr befreien könne, weil hier die bösen Götter alle Macht in Händen hatten.
Aber Chicovaneg war klug.
Wenn ein Stern zu klein war, um ihn gut zu sehen, dann ließ er die gefiederte Schlange erst Aussicht halten.
Und sie sagte ihm die Entfernung, so dass er im richtigen Schritt anlaufen konnte, um nicht zu kurz zu springen, um aber auch nicht über den Stern hinwegzuspringen.
War die Entfernung zu groß für einen Sprung, so ließ er die gefiederte Schlange zuerst hinüberfliegen, und sie hielt ihren Schweif so herabhängend, dass er mit leichtem Sprung den Schweif erhaschen und an dem Körper der gefiederten Schlange hinaufklettern konnte. Als er nun immer höher stieg am Himmelsgewölbe und sein Schild immer leuchtender wurde, begannen endlich die Menschen auf der Erde ihn zu sehen.
Sie wussten, dass er ihnen nun die Sonne bringen würde. Und sie wurden fröhlich und feierten viele Feste.
Aber sie konnten auch sehen, wie schwer sein Weg war.
Und wenn sie die Entfernung zum nächsten Stern sahen und erkannten, dass er diesen Stern in seinem Sprung vielleicht gar fehlen würde, so bemächtigte sich ihrer eine tiefe Verzweiflung.
Sie sahen auch den Kampf der bösen Götter gegen ihn.
Die bösen Götter ließen heftige Stürme heulen, die alle Hütten der Menschen zerstörten und ihre Felder verwüsteten.
Die bösen Götter überschwemmten die Erde mit Wasserfluten, und sie ließen die Berge feurige Lava ausspeien, um die Menschen zu vernichten, ehe die Sonne am Himmel stand.
Und die bösen Götter schleuderten glühende Steine nach dem hinaufklimmenden Chicovaneg.
Sie warfen so viele, dass Tausende der Steine noch bis heute über den nächtlichen Himmel dahinfliegen.
Aber höher und höher stieg Chicovaneg.
Leuchtender und immer leuchtender wurde sein Schild. Blumen begannen zu wachsen und zu blühen auf Erden. Die Vögel kamen wieder und sangen fröhliche Lieder.
Mangos und Papayas begannen zu reifen, und Bananen,
Tunas, Tomaten gab es bald in Fülle.
Und dann endlich, als die Menschen eines Tages aufsahen, stand die Sonne strahlend und warm am Himmelsgewölbe, mitten am Himmel hoch über ihnen.
Und sie feierten ein großes Sonnenfest, Chicovaneg zu Ehren.
Aber ohne Unterlass sind die bösen Geister am Werk, die Sonne wieder auszulöschen. Dann hüllen sie die Erde in schwarze Wolken und machen die Leute fürchten, dass die Sonne nun ausgelöscht sei. Jedoch Chicovaneg, der Tapfere, ist auf der Wacht. Hinter seinem goldenen Sonnenschild kauert er, um die Menschen vor den bösen Göttern zu schützen.
Und wenn die bösen Götter es gar zu arg treiben, dann gerät er in Zorn, und er schleudert seine blitzenden Pfeile über die Erde hin, um die bösen Götter, die sich in den schwarzen dicken Wolken verstecken, zu treffen und zu verjagen.
Dann rüttelt er an seinem Schild, dass wildes Donnern die Lüfte erzittern macht.
Und wenn er endlich die bösen Götter verjagt hat, dann malt er seinen buntfarbigen Bogen am Himmel auf, um den Menschen zu verkünden, dass sie ruhig sein mögen und dass er nicht zugeben wird, dass die Sonne noch einmal von den bösen Göttern verlöscht und zerstört werde.«
15
Das Mädchen, noch immer dicht an Andres gekuschelt, hatte wohl ihre Geschichte beendet. Sie sagte nichts mehr.
Andres fragte nach einer Weile: »Hat dir deine Mutter auch erzählt, wer den Hub schuf, den Mond?«
»Ja«, sagte sie.
»Der Sohn des Chicovaneg.
Als der Sohn herangewachsen war, wollte er seinen Vater besuchen gehen.
Er konnte jedoch keine gefiederte Schlange finden, weil die eine, die es gab, sein Vater mitgenommen hatte und, als er die Sonne geschaffen hatte, ihr gebot, sich unten rund um die Erde zu legen, dort wo das Himmelsgewölbe auf der Erde ruht.
Hier liegt sie auf der Wacht gegen die bösen Götter, die auf der andern Seite des Himmelsgewölbes sind und hier einbrechen wollen, um die Macht der bösen Götter unter dem Himmelsgewölbe zu verstärken.
Aber Chicovaneg ist klug.
Er traut der gefiederten Schlange nicht ganz und fürchtet, sie möchte schlafen und ihre Wacht vernachlässigen.
Darum steigt er jeden Abend hinunter zu ihr, um zu sehen, ob sie auch nicht etwa schläft.
Und da es nur eine gefiederte Schlange gibt, so musste der Sohn sich ein anderes Tier suchen, das ihm helfen konnte, am Himmelsgewölbe hinaufzusteigen.
Er wählte sich ein Kaninchen, weil ein Kaninchen gut springen kann. Auch er sprang, mit Hilfe des Kaninchens, von Stern zu Stern.
Aber die Geister der Abgeschiedenen konnten ihm nicht mehr so viel von ihren Sternen abgeben, wie sie seinem Vater gegeben hatten.
Die Sterne wären sonst zu klein geworden.
Und darum ist sein Schild nicht so groß und so glänzend wie der seines Vaters.
Aber um seinem Vater nahe zu sein, folgt er ihm über das ganze Himmelsgewölbe, und wenn er an seinem Vater vorübergeht, grüßt er ihn von seiner Mutter, die auf einem hohen Berge unter einem Mantel von Schnee schläft.
Das Kaninchen, das der Sohn mitnahm, um mit seiner Hilfe besser von einem Stern zum andern springen zu können, kannst du wohl in seinem Schilde sehen.«
16
Andres blickte um sich, über die weite Prärie hinweg und hinauf in das Himmelsgewölbe. In seinem Geiste sah er den jungen Häuptling an den Sternen hinaufklimmen.
Die Poesie, die er empfand, als das Mädchen diese Geschichte ihrer Religion erzählte, ruhte nicht in der Erzählung selbst. Er fühlte die Poesie vielmehr in der schlichten Art, in der das Mädchen erzählte, in ihrer weichen ruhigen Stimme und am stärksten darin, dass das Mädchen, während es erzählte, ihn erleben ließ, dass sie sich in seiner Nähe und in seinen Armen geborgen fühlte gegen alle Wehen der Welt. Er fand sich groß und stark werden in dem Bewusstsein, dass er sie schützen durfte, dass er sie beschützen konnte und dass sie sich ganz und gar, ohne zu fragen, ohne zu bedenken, unter seinen Schutz stellte.
»Sie ist wie ein hilfloses Singvögelchen, das aus dem Nest gefallen ist«, sagte er leise. Sie gab keine Antwort. Aber sie schien seine Worte gehört zu haben, ohne sie jedoch aufzunehmen. Denn sie kuschelte und rekelte sich noch dichter in seine Arme hinein.
Aber wenn er wieder aufsah zu dem gestirnten weiten Dach, so nahm die Geschichte gleich wieder feste Gestalt an. Gleich wieder sah er den jungen Häuptling hinaufklimmen, sah ihn sein Weib und sein Kind verlassen und sah, wie ein glühender Stein der bösen Götter in einem flammenden Bogen hoch über ihn hinwegzog.
Und er fragte sich, ob es wohl wünschenswert sei, ein Gott zu sein und in strahlender Schönheit zu leben.
Es mochte gewiss notwendig sein, den Menschen die Sonne zu bringen, wenn sie keine hatten und große Not litten; und es war gewiss eine schöne, ruhmvolle Tat, die der junge Häuptling vollbracht hatte.
Er verdiente es, ein Gott geworden zu sein und von den Menschen verehrt zu werden. Im Grunde seines Herzens jedoch war Andres froh, dass die Menschen nun die Sonne hatten und dass er nicht von Qualen des Gewissens und der Hilfsbereitschaft gepeinigt werden konnte, um etwas Gleiches oder Ähnliches tun zu müssen, was jener Häuptling getan hatte. Er fühlte das Mädchen warm an seiner Brust ruhen, und das machte ihn denken, dass er wohl kaum fähig sein möchte, ein solches Opfer zu bringen wie jener Gott, Weib und Kind und Volk zu verlassen für ewig. So denkend und fühlend aber begriff er nun um so tiefer, wie groß, wie menschenliebend, wie herrlich die Tat jenes Gottes gewesen war, der alles opferte, was das Leben eines Menschen wert macht, um den Menschen zu helfen. Und um soviel größer noch war jene bewunderungswürdige Tat, weil jener Gott nie sterben, nie schlafen, nie vergessen konnte, dass er ewig und ewig an seine Lieben, die er verlassen musste, denken muss, dass sein Schmerz um den Verlust niemals aufhören wird. Denn wenngleich er weiß, dass alle, die er kannte auf Erden, nun seit Zehntausenden von Jahren tot sind, so leben sie doch für ewig in seiner Erinnerung so stark wie an dem Tage, an dem er sie verließ um der Menschheit willen. Es ist nur ein sehr geringer Trost für ihn, dass sein Sohn ihm nahe ist und dass er seinen Sohn umarmen kann an jenen seltenen Tagen, wenn für die Menschen auf Erden sich für eine Stunde die Sonne verdunkelt. So war es wohl natürlich, dass in Andres kein Ehrgeiz erwachte, ein Gott seines Volkes zu werden; denn in seinem Nachdenken und Erwägen kam er zu der Erkenntnis, dass das Schicksal der Götter nicht beneidenswert ist. Der Glanz und die Hoheit der Götter sind teuer erkauft.
17
Er wollte etwas fragen. Aber da sah er, dass sein Mädchen fest eingeschlafen war.
Sorglich nahm er sie dichter an sich, hob sie auf und trug sie in seinen Armen den weiten Weg hinüber zudem Lager der Carretas. Seine Kameraden schliefen alle. Einige schienen tüchtig betrunken zu sein von dem ehrfürchtigen Feiern des Festes des heiligen Caralampio. Sie stöhnten und grunzten im Schlafe und lagen auf dem Boden wie Hölzer.
Zart legte er das Mädchen nieder. Dann bereitete er ihr ein weiches Lager in seiner Carreta.
Und als das Lager seinen Wünschen entsprach, hob er sie fürsorglich in den Karren und bettete sie ein.
Sie seufzte nur einmal tief auf in großer Müdigkeit.
Dann breitete er seinen Petate auf dem Erdboden aus, unter der Carreta, und legte sich nieder zu schlafen.
Sein letzter wacher Gedanke war, dass er niemals in seinem ganzen Leben so fröhlich, so zufrieden und so hoffnungsfroh eingeschlafen sei wie heute. In seinem letzten Dämmern vor dem Einschlafen wurde er sich im Herzen bewusst, dass die schönste und süßeste Zeit seines Lebens begonnen hatte. Eine Zeit, die ihn alle Mühen und Sorgen seines harten Lebens vergessen machen wird.
Und er kam so weit in seinem träumenden Denken, dass er vor sich hinflüsterte: »Carretero zu sein ist das Schönste im Leben.« |
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