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B. Traven - Der Karren (1930)
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FÜNFZEHNTES KAPITEL

1

Andres' Kolonne war zur Abfahrt bereit. Kurz nach Mitternacht sollte von der Prärie aufgebrochen werden, um den Rest der Güter, die noch zu verladen waren, in der Stadt aufzunehmen, wo die Händler mit ihren Packen warteten. Andres wollte mit seiner Kolonne schon vor vier Uhr morgens auf dem Wege sein. Die Carreteros hatten unter sich ausgemacht, dass die Kolonnen gegenüber der alten Pyramide Junchavin, die rechts vom Wege lag, den die Kolonnen zu fahren hatten, aufeinander warten sollten, um eine lange und starke Karawane bilden zu können. Denn bis zu dem indianischen Städtchen Tsobtajal war der Weg nicht ganz sicher vor Banditen, die hier in einsamen Ranchos hausten und darauf rechneten, dass von dem reichen Segen, den der heilige Caralampio den Hunderten von Händlern und Spielbankhaltern gespendet hatte, ein gutes Teil für sie abfallen könnte, falls sie sich geschickt darum bemühen würden.
Weil die Carretas alle nun sich in guter Marschverfassung befanden, die Ochsen herbeigeholt worden waren und unter Aufsicht in der Nähe des Lagers gehalten wurden, um sie schnell zur Hand zu haben, sobald der Abmarsch angeordnet wurde, so gab es am Abend eigentlich nichts mehr im Lager zu tun.
Und weil das Lager so durchaus gar keine Anziehungskraft bot, denn man kannte es zu gut, so machten sich einige Carreteros auf, noch einmal in die Stadt zu gehen, um die letzten Überbleibsel des Heiligenfestes, das jetzt am Verlöschen war, auszukosten und von den Freuden noch schnell mitzunehmen, was nur in den letzten Stunden noch erhascht werden konnte.
Unter den Carreteros, die zur Stadt gingen, befand sich auch Manuel, der Freund und Mitarbeiter des Andres.
Als er zur Stadt kam, fand er, dass der Markt bereits sehr ruhig geworden war und die ganze Stadt sich vorzubereiten schien, nach jenen tumultösen Wochen wieder in ihr stilles und selbstzufriedenes Dasein zurückzufallen. Es machte ganz den Eindruck, wenigstens auf dem öde werdenden Markte, dass die Stadt und ihre Bewohner im Grunde froh waren, dass jenes tolle Fest vorüber war und sich alle wieder stiller Beschaulichkeit widmen konnten, in der das einzige Erfreuliche und Abwechslungsvolle war, Klatsch aufzusuchen und soweit wie möglich zu verbreiten, Hass und Eifersucht unter sich und unter den Sippen zu erwecken, gut zu nähren und zu züchten und dick und voll werden zu lassen. Die guten Bürger machten sich im übrigen herbei, neue Bürger zu zeugen, von denen viele von ihren Eltern verdammt wurden, den, für das mexikanische Ohr, hässlich klingenden Namen Caralampio durch ihr ganzes Leben zu tragen, mit keiner anderen Begründung, als dass die Eltern glaubten, dass ihr Kind, wenn es diesen auserwählten Namen bekomme, sich in hervorragendem Maße des besonderen Schutzes des heiligen Caralampio erfreuen würde, in allen Dingen des irdischen und himmlischen Lebens.
Die Mehrzahl der Händler hatte bereits geschlossen, und ihre ausgeborgten Tische und Buden waren schon fortgeräumt oder wurden gerade jetzt von den Verleihern abgebrochen. Nur an den Spieltischen war noch reichlich Geschäft, sowie an den Küchentischen, an den Zeltrestaurants und natürlich in den Cantinas, wo die Kellnerinnen von ihren Ammen mit nervöser Hast angetrieben wurden, den letzten Abend zum erfolgreichsten zu gestalten. In den Cantinas ging es wild zu, je weiter die Stunden vorrückten und je näher der Augenblick kam, wo auch die Mädchen, die soviel Freude zu den hungrigen Männern der Stadt gebracht hatten, sich reisefertig machen mussten, um ihre abfahrbereiten Carretas zu erwischen.

 

2

Alles, was Obrigkeit war und was in unmittelbaren Diensten der Obrigkeit stand, war in der lauten Seligkeit reichlich hineingeschwemmten Comitecos und Bieres. Die Obrigkeit war fröhlich mit den Fröhlichen. Sie sah nichts mehr und hörte nichts mehr. Der heilige Caralampio tolerierte und segnete seinen Kehraus für dieses Jahr.
Die ehrbaren Frauen der guten und ehrsamen Bürger der Stadt waren gut verwahrt in ihren ehelichen Betten. Und weil es gegen jede gute Sitte geht, dass eine Frau in der Nachtzeit durch die Straßen eilt und in den Cantinas, Freudenhallen und Genusstempeln nach ihrem Manne sucht, weil sie ohnehin weiß, was er tut in dieser schönen Zeit wohliger Nacht, so blieben die Männer ungestört in ihrem Bestreben, ihre letzten tiefen und ehrfürchtigen Danksagungen an den heiligen Caralampio abzuliefern.
Der Mann, der arbeitet, soll sein Vergnügen haben; und der Mann, der nicht arbeitet, soll noch mehr Vergnügen haben.
Die Mehrzahl der ehrsamen Bürger von Balun Canan arbeitet nicht. Wenn ihr eigentliches Leben als reifer Mann beginnt, so trachten sie danach, auf irgendeine Weise fünfhundert Pesos zusammenzuraffen.
Haben sie diese fünfhundert Pesos, oder vierhundert, auf den Centavo mehr oder weniger kommt es nicht an, so heiraten sie. Wenn sie zwei Wochen verheiratet sind und die obersten Cremeschichten des ehelichen Lebens sind abgelöffelt, dann kaufen sie eine kleine Tienda, einen kleinen Laden, in dem die notwendigsten Bedürfnisse des täglichen Lebens feilgeboten werden.
In diesen Laden setzen sie ihre Frau, weil doch jemand im Geschäft sein muss. Die Frau gibt nun jeden Tag ihrem Manne zwei Pesos,  manchmal  drei,  manchmal  einen, von dem
Geschäftserträgnis ab. Alle Ausgaben für das Haus und für den Unterhalt der Familie hat die Frau aus dem Laden herauszuwirtschaften, nachdem sie ihrem Mann seine tägliche Ration von drei oder zwei Pesos abgeliefert hat.
Sie bereichert das Geschäft dadurch, dass sie Kerzen gießt, Kleider näht, mit den Indianern, die ihre Produkte verkaufen, schachert, Eierlikör, den Rompope, fabriziert, im Hinterstübchen nicht versteuerten Comiteco verschleißt und mit den Schmugglern aus Guatemala, die Seidenstoffe über die Grenze bringen, stundenlang verhandelt.
Der Mann macht ihr tüchtig Kinder. Das ist seine ganze Arbeit. Das Amt des Prinzgemahls. Er ist immer lustig, freundlich, zufrieden mit der Welt im allgemeinen und mit allen seinen Mitbürgern im besonderen.
Im übrigen macht er Politik. Er hat immer den Revolver im Gurt. Wenn es zu den Wahlen kommt, so versucht er, einen Posten zu erhaschen, Bürgermeister oder Polizeichef oder Steuermarkenverkäufer oder Steuereinnehmer oder Postmeister zu werden. Wenn er Bürgermeister wird, erhalten alle seine dicken Freunde einen guten Posten. Er vergisst keinen. Er wird bei diesem Leben und bei dem unvergleichlich schönen, das ganze Jahr hindurch immer gleich bleibenden balsamischen Klima der Gegend, wo es weder Tuberkulose noch Krebs gibt, ohne etwas dazu zu tun, achtzig, hundert, hundertdreißig Jahre alt. Ein Alter, das man ihm nie ansieht; denn seine Frau bringt immer wieder Kinder zur Welt, wenn er schon seit zwanzig Jahren Großvater ist. Er stirbt überhaupt nur dann, wenn die Wahlen unentscheidend verlaufen, weil der wirkungsvollste Stimmzettel der Revolver ist. Natürlich nicht der Revolver, der zur Zierde im reichverzierten Gürtel getragen wird, um zu zeigen, dass der Träger wirklich ein Mann ist, sondern der Revolver, der auf die abgefeuert wird, die sich mit seiner politischen Meinung hinsichtlich der Mitbürger, die Posten haben wollen, nicht einverstanden erklären können. Da aber auch andere Wähler einen Revolver haben, so ist die freie Wahl nicht einseitig auf eine Gruppe beschränkt. Der beste Scharfschütze, der die besten Scharfschützen als Parteigenossen hat, wird zum Stadtoberhaupt gewählt. Republik und Wahlsystem nach dem Muster der vielbesungenen alten ehrwürdigen Republik Rom. Ermorde Cäsar, und du wirst Erster Römischer Konsul; ermorde Francisco Madero, und du wirst Präsident des schönsten und reichsten Landes auf Erden, Präsident der liebenswertesten und geduldigsten Bevölkerung auf Erden, Präsident der Vereinigten Staaten von Mexiko.
So, wenn keine Wahlen sind, dann bleibt den Männern der lieblichen und gastfreundlichen Stadt Balun Canan nichts anderes übrig als das Fest des heiligen Caralampio, um Abwechslung in das stille, beschauliche und sonst wenig aufregende bürgerliche Leben zu bringen.
In einer guten Republik geht die Obrigkeit aus dem Volke hervor. Und wer die Obrigkeit ist, unterscheidet sich nicht von den übrigen Bürgern der Stadt. Die Obrigkeiten sind morgen wieder Bürger, und die heute Bürger sind, werden morgen Obrigkeiten sein. Ja, warum denn in aller Welt dann den Leuten das Vergnügen versauern, wenn jeder das Vergnügen für den wertvollsten Teil des sonst so trüben irdischen Daseins betrachtet. Dass Menschen der Arbeit wegen leben, ist die Philosophie der Mucker und der moralisch Kastrierten. Wenn das Leben des Menschen überhaupt einen Sinn hat, was bezweifelt werden kann, so ist der Sinn nur der eine und einzige: Vergnüge dich nach Herzenslust, las jeden anderen sich vergnügen nach seiner Weise; und solange er weder dir noch deinen Mitmenschen persönlichen Schaden zufügt, lasse ihn gefälligst in Ruh; du bist um nichts besser als er, und er ist um nichts heiliger und wertvoller als du; denn Unheilige, Böse und Verbrecher sind nur die, die bei ihren Taten erwischt werden.
Morgen ist das Fest des heiligen Caralampio wieder einmal für ein volles Jahr zu Ende. Darum lasst uns heute fröhlich sein, wo es Zeit ist, wo wir unter dem Schutz des heiligen Caralampio stehen, dem zu Ehren wir uns vergnügen und dem zur Lobpreisung alle unsere Sünden für eine Beichte oder für eine gut bezahlte Messe oder für einen Knierutsch von der Kirchtür bis zum Altar vergeben werden.
Welche Menschen würden bei einer Religion so lange aushalten, wenn ihnen die Religion keinen Karneval erlaubte mit dem Recht der Maskenfreiheit. Wenn nur der Aschermittwoch geheiligt wird, an dem man die Messe nicht versäumt, noch im Tran und den Nabel ungewaschen.

 

3

Oh, geliebter heiliger Caralampio, dass du das nicht sehen konntest, was in der letzten Nacht zu deinen Ehren in den Cantinas geschah. Dank gebührt den Klugen, die den hölzernen heiligen Caralampio in ein stilles dunkles Eckchen der Kathedrale rechtzeitig gestellt und die Kirchtüren verschlossen und verrammelt hatten, dass er nicht gleich Harun zur Nachtzeit ausgehen konnte, um zu sehen, was seine Gläubigen taten.
In den Cantinas nahm sich niemand mehr ein Blatt vor, weder unten noch oben. Die Schenkmädchen tanzten, wie man wollte, in irgendwelcher Weise und in irgendwelcher Kleidung. Unter dem einen hervor, unter den andern hinunter. Und weil die letzten und allerletzten Pesos so rasch, wie der Sprung es nur zuließ, hereingeholt werden mussten, weil die Carretas schon warteten, so nahm sich niemand Zeit, Vorhänge vorzuziehen, Türen zuzumachen, Fenster zu schließen. Viele, um das Geschäft nicht leiden zu lassen, nahmen sich nicht einmal so viel Zeit, bis zu einer der Familien zu rennen, die Zimmer por un ratito, für ein kurzes Weilchen, vermieteten, nicht einmal so viel Zeit, um ein Gelegenheitskämmerchen, das der Wirt hatte und teuer genug anbot, aufzusuchen. Dieses Kämmerchen war beinahe immer, wie die Kämmerchen in den Road-Houses in USA, zu gleicher Zeit mit zwei, drei oder gar vier Paaren besetzt, der Eiligkeit und der beschränkten Räumlichkeiten wegen. Aber nicht einmal so viel Zeit war, denn die Ammen und Mütter drängten und eiferten, der Prozente halber.
Gleich in einem Winkel oder in einem Eckchen. Und wenn die Winkel und Eckchen in und an der Cantina besetzt waren, rüber in den Winkel einer der Kirchtüren, nahe dem Schutze des heiligen Caralampio.
Es war ein öffentliches Freudenfest, die Orgie um das goldene Kälbchen. Alles öffentlich, wer Zeit und Lust hatte, konnte seinen Genuss haben vom Zusehen. Denn je weiter die Stunde vorrückte, um so ungehinderter und unverschleierter trubelte das durcheinander und übereinander. Aber es ging friedfertig zu. Zuweilen blökte einer, dann wieder schrie oder sang ein anderer. Aber alle vertrugen sich brüderlich. Und alles schien richtig bezahlt zu werden; denn man hörte kein Streiten um Geld. Die Bürger der Stadt waren müde geworden oder hatten sich ausgegeben. Man sah immer weniger von ihnen.
Das Feld wurde endlich nur noch beherrscht von den Finqueros, den Agenten und Kontraktoren der Monterias und von auswärtigen Händlern, die jetzt endlich auch etwas von dem Segen des heiligen Caralampio mitgenießen wollten.

 

4

Am Brunnen ging der öffentliche Tanz jedoch ruhig weiter. Verglichen mit dem wilden Aufruhr in den Cantinas, war es hier, wo der Teil der Bevölkerung, der jeden Centavo bitter hart verdienen musste, sich zu Ehren des heiligen Caralampio vergnügte, recht bescheiden und sittsam. Nicht etwa, weil diese Leute hier etwa um soviel besser und frömmer waren als die übrigen, sondern weil sie nicht das Geld hatten, sich in den Cantinas zu tummeln. Auch wenn sie das Geld gehabt hätten, so hätte ihnen dennoch die Übung gefehlt, die jene besaßen, die immer reichlich Geld hatten, mit dem sie nicht wussten, was damit anzufangen. Sich richtig und erfolgreich vergnügen zu können, muss lange und geduldig geübt werden wie jede andere Tätigkeit.
Auch hier vom öffentlichen Tanz verzogen sich zuweilen Paare hinüber zu den dunklen Winkeln der Kirche, um Architektur zu studieren. Aber die Mehrzahl der hier tanzenden Leutchen schienen mehr Gefallen am Tanz und an nichts als am Tanz zu finden als an irgendwelchen anderen Dingen. Vielleicht wussten sie, dass sie andere Dinge an jedem beliebigen anderen Abend haben konnten, wenn sie nur wollten; aber Tanz konnten sie nicht jeden Abend haben, weil keine Musik da war und die Marimba nicht so billig zum Tanz aufspielte, wie es hier die wandernden indianischen Musikanten taten.
Manuel, der Carretero, war schließlich auch hier gelandet, weil es sonst auf der Plaza eigentlich schon nichts mehr von Interesse zu sehen gab. Die Spieltische, wo jetzt, wie in den Cantinas, mit einem wilden Hetzen gearbeitet wurde, um während der letzten paar Stunden den letzten krummen Centavo aus dem guten Balun Canan herauszuquetschen, wurden für Manuel langweilig, weil er nichts zum Verspielen hatte und er nicht so viel Vertrauen in sein Glück fühlte, dass er hoffen durfte, mit seinen paar Centavos ein Vermögen oder wenigstens einige Pesos zu gewinnen. Er fand es immerhin hier bei dem Tanz, wo nur Leute seiner Schicht waren, am lustigsten und am unterhaltsamsten.
Als er sich umsah, um nach einer Tänzerin zu suchen, bemerkte er ein Mädchen, das ein kleines Bündelchen in der Hand hatte. Sie schien niemand anzugehören, und vielleicht war sie das Mädchen einer Händlerin, die mit den Carretas am frühen Morgen heimreisen würde.
Er ging näher zu dem Mädchen heran. Hier stand er eine Weile unschlüssig. Er glaubte, dass vielleicht einer der tanzenden Burschen ihr Mann sei und dass sie auf ihn warte. Als aber mehrere Tänze vorübergegangen waren und keiner der Burschen auf sie zugekommen war, ging er noch ein wenig näher an sie heran.
Wieder stand er eine Weile. Dann schien sie ihn zu bemerken. Sie sah ihn an.
Und als sie ihn anblickte, lachte er. Sie lachte ebenfalls.
Darauf sagte er: »Wollen wir tanzen, Chica?«
»Como no«, sagte sie, »warum nicht? Aber wo lasse ich mein Bündelchen? Ich kann doch nicht gut mit dem Bündelchen tanzen.«
»Ach was, das kleine Bündelchen«, erwiderte er, »das nehme ich in die Hand.«
Er nahm das Bündelchen in seine rechte Hand, und weil er sie bei dem Tanzen ja nicht zu umarmen brauchte, so tanzte er mit dem Bündel in der Hand. Es sah drollig aus. Aber niemand von den Tanzenden kümmerte sich darum, ob da einer mit dem Bündel in der Hand tanzte oder mit einer Kiste unter dem Arm. Und wenn jemand im Ernst darauf geachtet hätte, so hätte er sich gesagt, dass, wenn jemand mit einem Bündel in der Hand tanze, er wohl seinen guten Grund dazu haben werde, weil es unbequem ist.
Nachdem sie den ersten Tanz beendet hatten, lud er sie ein, mit ihm ein Krügchen Kaffee zu trinken.
Sie schien darüber froh zu sein. Und als sie den Kaffee tranken, schlürfte sie ihn mit tiefem Behagen, so dass er fragte: »Du bist wohl recht hungrig?«
Sie sagte: »Ja«, und er kaufte ihr einige Tacos.
Er fragte dann die Indianerin, wo sie den Kaffee getrunken hatten, ob er nicht für eine Stunde das Bündelchen hier unter ihrer Obhut lassen könnte. Dann gingen sie wieder hinüber zu den Tanzenden. »Wie heißt du denn, Chica?« fragte er nach einem Tanz.
»Warum willst du denn das wissen?« gab sie zurück. »Ich kann doch nicht immer Chica zu dir sagen, wenn ich dich mit mir nehme«, sagte er lachend. »So schnell?«
»Warum nicht«, sagte er trocken. »Ich muss schnell mit dir sein, denn gleich nach Mitternacht torkeln wir los. Ich bin Carretero. Und wenn du willst, kannst du mit mir kommen.«
Nur einen Wink besann sie sich, und dann sagte sie: »Wohin geht ihr?«
Als wäre die ganze Karawane seine eigene, sagte er: »Zuerst gehe ich mit meiner Kolonne nach Jovel, dann nach Niba, dann nach Socton. Da bekomme ich neue Orders. Dann wahrscheinlich gehe ich nach Tullum und dann hinunter nach Arriaga und vielleicht auch bis nach Tonalja.«
»Das würde mir wohl gefallen«, sagte sie, »Tullum, das ist groß, da kann ich gut schönen Dienst bekommen, zehn oder gar vierzehn Pesos.« - »Freilich«, unterbrach er sie. »Und wenn du keinen Dienst dort bekommst und weiter willst, auch in Arriaga und in Tonalja ist es recht schön, und da gebrauchen sie immer Criadas. Aber wenn du mir nicht sagst, wie du heißt, dann nehme ich dich nicht mit, und ich lasse dich hier.«
»Rosario Lopez, su servidora, Ihre gehorsame Dienerin«, sagte sie höflich.
»Also Rosario. Rosita, querida mia«, sagte er.
Aber sie warf gleich ein, jedoch mit Lachen: »Ora, ora, Caballero, nicht so schnell, nicht so schnell.
Querida suya, Ihre Geliebte, das wollen wir doch erst sehen. Nicht so schnell. Sie wissen ja noch gar nicht, ob Sie mir überhaupt gefallen. Pero, pensando, yo creo que Si.«
»Was que si?« fragte er. »Was ja? Ich gefalle dir oder ich gefalle dir nicht. Klar mit der Sprache, und heraus mit dem Bekenntnis!«
Sie wurde rot, und lächelnd verlegen sagte sie: »Ich glaube, dass Sie mir gefallen.«
»Gut, abgemacht«, sagte er kurz. »Also ich nehme dich mit. Das übrige werden wir dann schon auf dem Wege sehen. Heute gibt es nicht viel Schlaf für mich. Wir haben noch zu laden, und es muss eingespannt werden. Aber du kannst zwei oder drei Stunden schlafen. Ich mache dir unter einer schon geladenen Carreta ein Lager zurecht. Wir haben noch ein anderes Mädchen mit uns, die Frau von Andres.
Kannst mit ihr schlafen, dass ihr warm bleibt. Wir, auch der Andres nicht, wir haben heute Nacht keine Zeit, uns um unsere Frauen zu bekümmern. Alles dick und voll mit Arbeit. Da geht ein neuer Tanz los. Vorwärts, Rosita, ran und mit den Beinen gewackelt.«
Während des Tanzes begann er nun erst in Ruhe über die schnelle Werbung und Eheschließung nachzudenken.
Er sah sie mehrere Male an, ohne dass sie es bemerkte, denn sie hielt während des Tanzes ihre Augen auf ihre beweglichen Füße gerichtet, wie es einer sittsamen Tänzerin bei einem indianischen Zapateado geziemt.
Sie gefiel ihm immer mehr, je häufiger er sie ansah. Sie war
Indianerin, aber in einer Stadt aufgewachsen.
Denn sie sprach ein reines mexikanisches Spanisch, mit Guatemala-Ausdrücken gemischt, wie es in den Grenzregionen des Staates gesprochen wird. Sie war, kein Zweifel, erfahren und nicht mehr in nackter Unwissenheit über das Leben. Denn ohne Zieren und Zögern hatte sie eingewilligt in das, was er angedeutet hatte, ohne es zu sagen. Lediglich die Raschheit und das Direkte und Deutliche seines Antrages kritisierte sie ein wenig, was zu tun ein jedes Mädchen als ihre Pflicht betrachtet, um den letzten Fetzen des Schleiers wenigstens an einem Zipfelchen halten zu können. Keine Frau liebt es, dass ihr von dem, den sie beehrt, einmal vorgeworfen wird, dass sie ihm gleich in der ersten Minute unter die Beine gefallen ist. Sie liebt es selbst dann nicht, wenn sie auf nichts sehnlicher wartet und gewartet hat, als so schnell wie möglich an die richtige Stelle zu fallen, sobald sich die Gelegenheit bietet.
Und als er darüber nachdachte, fand er nur um so mehr Geschmack an ihr. Schiet auf die Vergangenheit des Mädchens, wenn es drängend ist und man nichts Besseres haben kann. Nach einer Weile stellt sich immer heraus, dass die Unterschiede nur gedankliche sind, keine wirklichen. jede Frau kann gut sein, und jede kann unerträglich sein, ganz gleich, was und wie ihre Vergangenheit war. An einer Frau bleibt viel seltener ihre Vergangenheit kleben als an einem Manne. Der Mann ist immer zu sehr geneigt, pedantisch, moralisch und durch und durch ehrbar zu sein, vom Gewissen geplagt zu werden und seiner engherzigen und beschränkten Ehrbarkeit alles zu opfern, selbst seine Frau. Abgesehen von den vertrockneten Betschwestern und den verbleichenden Stehengebliebenen, ist der Mann viel mehr ein unerträglicher und stinkigrotziger Mucker als die Frau. Als Vermieter möblierter Zimmer an allein stehende Herren ist der Mann bei weitem ekelhafter als die Frau, die viel leichter versteht, viel weitherziger und damit viel natürlicher und in Wahrheit moralischer ist. Sie wird nur verdorben in den
Ländern, wo es noch Gesetze aus der Zeit des wetternden Luther gibt, die von Kuppelei und von öffentlichem Ärgernis faseln, von Dingen, die rein relativ sind und die nicht definiert werden können, wie man etwa einen Bankdiebstahl definieren kann. Aber es sind nicht die Frauen, sondern die Männer, die solche idiotischen Gesetze aufrechterhalten, verteidigen und sie, da sie nichts anderes haben, gebrauchen, um der Öffentlichkeit in heuchlerischer Weise zu offenbaren, wie ehrbar und wie tief moralisch sie seien. Doch die Wahrheit ist, dass gerade die moralischen Männer alle Frauen für sich selbst haben wollen und keine einzige Frau einem andern gönnen. Das beste Beispiel in der Geschichte ist der große Moralist und Weltverbesserer Joseph Smith, der Gründer der Mormonen-Kirche in Nordamerika.
Keuschheit, Züchtigkeit, Sittlichkeit und Religiosität waren die hohen Ideale des Mannes, der, in der Blütezeit der Mormonen-Sekte, achtzig Frauen sein Eigentum nannte, so wie man Pferde oder Kühe sein Eigentum nennt.

 

5

Nachdem Manuel noch mehrere Male mit seinem neugewonnenen Mädchen getanzt hatte, sah er auf zum Himmel, um an den Sternen zu sehen, welche Zeit es sei.
»Wir können noch zweimal tanzen, Querida, und dann gehen wir«, sagte er. »Wir haben tüchtig zu tun.«
Als die beiden Tänze vorüber waren, nahm Manuel das Mädchen am Arm, und sie holten das Bündelchen ab. Sie kamen an einer der Cantinas vorbei.
»Da, Chica, sieh dir das nur einmal an«, sagte er, stehen bleibend. »Die Finqueros und die großen Herren von den Monterias pfeffern das Geld herum, dass es nur so eine Freude ist. Sie lassen San Caralampio aber einmal gut leben. Verflucht noch mal! Jeder hat zwei von den bemalten Mujeres auf seinen Knien reiten, und da unter den Tischen wälzen sie sich herum. Und da, hinten in der Ecke, sieh dir doch das nur an, da haben sie drei auf dem Tisch vor sich sitzen und bis auf die Strümpfe ausgezogen.
Die ganze Kleiderschaft der Mädchen hängt an den Huthaken. Trommeln und Flöten, das ist ein Leben!
Der Cantinero sackt ein. Aber gut.«
»Was siehst du denn da hin?« fragte sie unwillig und ihn am Arm weiterziehend. »Möchtest wohl dabeisein.
Das könnte dir gut gefallen.«
»Celosa? Eifersüchtig?« fragte er und lachte auf. »Fängst ja gut an, Querida. Lass nur sein, Chica, wir werden schon gut miteinander fertig werden. Sollst dich nicht beklagen können. Aber«, setzte er hinzu, »wenn ich die da so herumwirtschaften sehe, da muss ich doch an die geschundenen Peones denken und an die bedauernswerten Muchachos in den Monterias, die nichts haben, die da verrecken und verderben, schlimmer als Mules und Hunde, und hier wird das Geld verfuckt und versoffen und herumgefeuert, und stecken es den Weibern vorn hinein und hinten, wo sie es hinhaben wollen, wenn es nur Goldstücke sind. Und die Weiber werden auch nicht reich davon. Das meiste kriegen ihre Duenas, ihre Wachthalterinnen, ab, die es ihnen stehlen, wenn die armen Mädels besoffen auf ihr Bett fallen. Und was ihnen bleibt, das nehmen ihnen wieder ihre Patrones ab, ihre Burschen, die von ihnen leben und die sie in Tapachula, in Veracruz, in Frontera, in El Carmen, in Progreso haben, oder wo sie nun herkommen.
Und die Burschen verbringen das Geld, das ihnen die Mädels hier verdienen, wieder mit andern Mädels um die Ecke. In einer Kolonne, die mit uns kam, war eine Herde von diesen Mädchen. Da habe ich zugehört, was sie sagten und was sie sich erzählten und wenn sie sich zankten. Das ist eine Welt, Gottverflucht noch mal!«
Er packte sie plötzlich fest an den Armen und riss sie an sich, presste sie fest gegen seinen Körper und sagte: »Ah, schitt und schutt, Querida, las uns gehen. Wenn ich an meine Carretas denke und das hier mit ansehe und dann denke, wie wir im Dreck stecken bleiben und niemals einen ganzen Fetzen am Kadaver haben! Ja, Himmelgottverflucht noch mal, da möchte ich doch wissen, wer diese Welt geschaffen hat!«
Sie gingen ein Stück. Aber es rumorte weiter in ihm, da es nun einmal begonnen hatte.
Den warmen Körper des Mädchens dicht an sich fühlend und stolpernd durch die finsteren Straßen trottend, Steinen und Löchern und Pfützen und Lachen ausweichend, begann er, wahrscheinlich zum ersten Male in seinem Leben, seine wirtschaftliche Lage, ja sein ganzes elendes Leben klar zu sehen.
Das Mädchen war ein starkes, gesundes Mädchen, ganz unähnlich dem Kind, das Andres zur Frau hatte.
Er hatte, als er mit ihr tanzte, dann mit ihr herumstand, mit ihr Kaffee trank, etwas Neues gesehen in einer Frau. Etwas, was er bisher nicht gesehen hatte.
Die Offenheit dieses starken gesunden Mädchens, die so harte durchgearbeitete Hände besaß, ihre Freimütigkeit ihm gegenüber und die warme volle Fraulichkeit, die von ihr ausströmte, gaben ihm einen wilden und gleichzeitig beinahe demütigen Wunsch.
Ein Stück noch gingen sie weiter. Dann blieb er stehen, zog sie ganz dicht an seine Brust und sagte zu ihr: »Rosita, ich kenne dich nur gerade einen Augenblick. Mir ist es ganz gleich, was du bist und warum du fortläufst. Ich möchte, dass du meine Frau bist.« Sie sagte: »Aber - nun warte doch, wenn wir auf dem Wege sind oder - nicht gerade hier - und las doch erst einmal -und natürlich will ich, du nimmst mich ja mit nach Tullum, und ich weiß recht gut, warum du mich mitnimmst. Ich will, ja doch.
Das weißt du doch - aber -«
»Nein, nicht,« antwortete er, »nicht, das meine ich nicht. Ja, natürlich, das meine ich auch. Aber, ich meine etwas anderes. Ich will gern, dass du überhaupt meine Frau bist. Ich meine für immer. Was ich meine, ist, ich will mit dir wohnen in einer Hütte, auf einem Stückchen Land. Oder wir gehen in eine Stadt, wo ich Arbeit finden kann und wo du immer mit mir bist. Siehst du, was ich will, das ist, ich will Kinder mit dir haben und ganz richtig Mann und Frau sein. Ich werde sehen, dass ich ein wenig Geld bekommen kann. Wenn wir nach Arriaga kommen, renne ich fort mit dir nach der nächsten Station.
Dann kaufen wir eine Fahrkarte, und wir fahren ein Stück, bis wir in eine Stadt kommen, wo uns niemand kennt, wo man nicht weiß, dass ich fortgelaufen bin und Schulden beim Patron habe. Ich sage, ich bin von Tapachula. Und nach einer Weile gehen wir noch immer weiter, zu einer größeren Stadt.
Da weiß dann keiner mehr etwas. Und ich kann in einer
Fabrik arbeiten oder irgendwo. Und wir haben dann ein Leben ganz für uns, nur für dich und für mich und mit Kindern. Willst du das, Rosita?«
»Ich glaube, dass ich will«, sagte sie einfach.
Durch diese Unterredung, vielleicht aber mehr noch infolge der schlichten und unpoetischen Antwort des Mädchens, überkam Manuel eine zufriedene und satte Ruhe, die drängende Wünsche, die hart auf den Augenblick gerichtet waren, auflöste und verwehen ließ.
Es begab sich ähnliches in seiner Seele, was sich wenige Nächte vorher in Andres Gemüt ereignet hatte; wenngleich die Ursachen und Voraussetzungen völlig verschieden waren. So verschieden waren, wie Andres verschieden war von Manuel und Estrellita von Rosario. Für Manuel war das nahe Zusammensein mit einer Frau keine Neuheit. Und wie er wohl fühlte, war auch Rosario in die Natürlichkeiten des Lebens eingeweiht. Ganz sicher gab es weder für ihn noch für sie ungelöste Mysterien in den sichtbaren und fühlbaren Vorgängen menschlicher Lebensäußerungen.
Aber an Stelle des drängenden Wunsches, der ihn während der letzten Stunden gequält hatte, wuchs in ihm die Hoffnung auf etwas Schönes heran. Ob es schön war, dessen war er sich nicht klar. jedoch in seinem Empfinden schien es ihm das Beste zu sein, wofür das Leben überhaupt Wert hat. Als Carretero hatte er hundertmal gedacht, dass man ebensogut auch nicht zu leben brauche, als dieses hoffnungslose und harte Leben zu ertragen, das niemals in dieser Form zu Ende zu gehen schien.
Angesichts des starken, gesunden und so freimütigen Mädchens war in ihm die dem Indianer eingeborene Sehnsucht nach Familie aufgelodert, nach Familie, mit der sich Heimat und Land verknüpft, wo Arbeit ist, die man beginnen, sich entwickeln, sich reifen sieht, deren Ziele und Erträge man überblickt.
Es war die niemals stillbare, niemals satt werdende Sehnsucht des Menschen nach einem Ruhepunkt, nach einem Mittelpunkt des Lebens. Des Lebens, das immer und immer rastlose Bewegung ist.
Der Beruf, in den er gepresst war, versuchte eine solche Sehnsucht in den Menschen, die ihm verfallen waren, zu ersticken. Und bis heute, ja bis zu dieser Stunde, hatte Manuel diese Sehnsucht kaum recht gefühlt. Es war den Carretas wirklich beinahe gelungen, diesen Wunsch in ihm zu ertöten.
Als er das alles erkannte, verlor er ihr gegenüber die dreiste Angriffslust, die er den ganzen Abend hindurch offenbart hatte. Er sah in ihr nicht mehr nur gerade ein aufgefundenes oder hergelaufenes Mädchen, das man nimmt und behält oder nicht behält, je nachdem, wie man sich fühlte. Diese Frau wollte er behalten für immer. Und um sie behalten zu können, dachte er sie vorerst zu gewinnen.
Es leiteten ihn keine Sentimentalitäten, und Kniffe und Tricks kannte er nicht. Weiche und süße Gefühle waren ihm fremd; er hätte sich mit ihnen auch nicht zurechtfinden können im Leben. Und wenn er meinte, die Frau zu gewinnen, so war es nicht, dass er mit langen Reden und schönen Worten zu wirken gedachte oder mit ausgesuchter Höflichkeit und dienstbereitem Respekt. So etwas kam ihm nicht in den Sinn. Das käme keinem Indianer, der sich noch Natürlichkeit und gesunde Lebensweise erhalten hat, je in den Sinn.
Er, seinem Instinkte folgend, versuchte die Frau zu gewinnen, dass er alles, was er jetzt hätte haben können, nicht nahm, dass er sogar jeglichen Gedanken daran aufgab. Nicht etwa darum, dass er von einer Vorstellung geplagt wurde, es sei hässlich oder unrein, oder gerade unter diesen Umständen nicht ehrlich gehandelt.
Er hatte ganz urplötzlich die Sehnsucht bekommen, sich zu befreien. Er fühlte in seinem Wesen, dass er sich nur durch diese
Frau und nur mit ihr befreien konnte. Solange diese Frau der Mittelpunkt seiner Sehnsucht war, würde er den Gedanken, sich von den Carretas zu befreien, nicht mehr aufgeben. Es mochte sein, dass, wenn er sich gehen ließ, schon heute die Frau ihm nicht mehr das sein würde, was er wünschte, das sie ihm sein sollte. Vielleicht nicht. Aber er wollte um dieses >Vielleicht nicht< nicht unüberlegt spielen. Mit seiner Sehnsucht nach einer Heimat und einer Familie verband sich der Wunsch, sich etwas aufzuheben für eine Gelegenheit, die nicht so zufällig und ungerufen sein sollte wie heute.
Wäre Manuel ein hochzivilisiertes Gezücht von Mann gewesen, so hätte ein solches Verhalten den Anschein erwecken müssen, dass er in einer fein ausgeklügelten Weise nur an seinen Genuss dachte und daran, wie dieser Genuss zu erhöhen sei. Aber Manuel war Indianer und Carretero. Genüsse durch geschickte Spekulationen, Vorbereitungen und Verzögerungen zu erhöhen, war ihm unbekannt. Selbst wenn er Ideen darüber gehabt hätte, er würde sich nie die Mühe gemacht haben, sie anzuwenden. Es hätte ihm zu lange gedauert. Spielereien kannte er nicht. Das Ziel ist am sichersten zu erreichen auf dem kürzesten Wege, war seine Meinung. Warum er so handelte, hätte er nicht erklären können. Er war instinktiv darauf verfallen. Hätte er die Frau nur dadurch halten können, dass er keine Stunde zögerte, so würde er das sicher getan haben. Aber er fühlte, dass er sich mit dieser Frau besser verständigen könne und dass sie bessere Freunde werden würden, wenn er warte. Es werde ihr zu denken geben, warum er nicht nehme, was sie erwarte, das er nehmen würde. So werden sie erkennen, dass er mehr und ernster für sie empfinde, als sie bisher geglaubt habe.
Er handelte in dieser Weise, weil er nicht wusste, wie er sich sonst hätte ausdrücken sollen, um ihr zu sagen, was er für sie fühlte, und dass dies, was er fühlte, aus der Tiefe seines Herzens kam. Denn Worte für dieses Gefühl konnte er nicht bilden. So weit ging seine Fähigkeit nicht, in Worten tiefe Empfindungen ausdrücken zu können, sowenig wie er die Fähigkeit besaß, sich Tränen auszupressen, wenn er in seiner Seele Trauer oder einen Schmerz fühlte.

 

6

Sie waren unterdessen weitergegangen.
Manuel hatte das Mädchen nicht mehr dicht an sich. Während er mit sich verhandelte, um sich klar zu werden, was er wollte, hatten sich beide voneinander gelöst, ohne es recht zu bemerken.
Die wahre Ursache mochte wohl der Weg sein: die Steine, Löcher, Pfützen, Lachen, Gruben, Balken, die das Gehen in der finsteren Straße erschwerten. So waren sie bei dem Herumstolpern aus ihrer Umarmung gekommen. Es ging sich besser, wenn hier jeder seinen Weg für sich allein kämpfte.
Als die äußerste, die letzte Straße der Stadt erreicht war und sie vor der freien Prärie standen, wurde der Weg wieder besser.
Rosario ging jetzt neben ihm her.
Es fiel ihm etwas ein, und er sagte: »Rosita, du darfst aber zu niemand, selbst zu keinem von den Muchachos, auch nur ein Wort sagen, dass ich fortlaufen will. Du weißt, wenn der Patron das erfährt, lässt er mich nicht mehr hinunter nach Arriaga zu den Stationen. Oder es kann tausendmal schlimmer werden, er verkauft mich für die Schuld an eine Monteria, um sicher zu sein, dass er nicht durch mein Fortrennen sein Geld verlieren kann. Aus der Monteria kann man nicht fort, da sind die Muchachos besser verwahrt als in einer Strafkolonie.«
»Ich werde ganz gewiss nichts sagen, Muchacho«, beruhigte sie ihn. Dann fügte sie hinzu: »Aber wie heißt du denn, Junge, dass ich weiß, wie ich dich rufen kann. - Ha, so? Manuel. Ja, gewiss, Manuel, das gelobe ich dir, ich verrate dich nicht.«
Dass sie seinen Plan geheim zu halten versprochen hatte, verband ihn in seinem Gefühl nur um so stärker mit ihr. Sie waren Verbündete geworden. Aus dem Ton, mit dem sie gesprochen hatte, hörte er heraus, dass er sich auf sie verlassen durfte, dass sie zu dem Worte, das sie gelobt hatte, stehen würde.
Sie waren nicht nur Verbündete, sondern sie wurden nun auch noch treue Kameraden. Es waren solche wenigen, scheinbar unwichtigen Worte, durch die sie sich näher und inniger verbanden. Die Worte selbst waren es aber nicht allein, es war vielmehr der Ton und die Art, wie sie sprach, was ihn erkennen ließ, dass er auf gutem Wege mit einer Frau war, die ihren Wert hatte.
Viel hatte sie bis jetzt noch nicht gesprochen. Sie schien nicht redefiebrig zu sein. Es war gegen ihr Wesen, wie er vermutete.
Aus den Kinderjahren war sie längst heraus. Sie mochte wohl fünfundzwanzig Jahre haben oder so herum.

 

7

Jetzt in der Finsternis, die nur von den klaren Sternen dünn aufgehellt war, neben ihr gehend, sah er sie nur wie einen Schatten. In der Gestalt war sie nur um ein weniges kürzer als er.
Sie war barfuss und ging mit einem weiten sicheren Schritt. Er trug noch immer ihr Bündelchen.
Und um nur etwas zu sagen, weil sie so schweigend dahingingen, fragte er: »Was hast du denn in dem Bündelchen, Querida?«
»Nur mein Sonntagskleid, zwei Hemden, ein Handtuch und ein Paar Halbschuhe und ein Paar lange Baumwollstrümpfe«, sagte sie. »Es ist nicht viel, was ich dir mitbringe, Junge, aber ich habe es nicht gestohlen, und ich brauche nicht viel.«
Mit brutal sachlichen Sätzen und ohne irgendwelche Färberei, ohne eine Furcht, ihn verlieren zu können oder zu denken, dass er sie verachten möchte, erzählte sie ihm, was los war. Sie sah in ihren Erlebnissen keine Tragik, so wenig wie er je das Los der Carreteros als tragisch ansah oder gar als einen Fluch des Schicksals. Es war ihnen, wie allen ihresgleichen, jedes Ding, jedes Vorkommnis, jedes Erlebnis, jeder Jammer, jede Freude etwas, was natürlich war, dem man vielleicht entweichen oder ausweichen kann, wenn man schlau ist, was man aber hinzunehmen hat, wenn es einen trifft und man nicht rechtzeitig entrinnen konnte. Und wenn sie doch nach einer Erklärung suchen, so ist es die gut eingedrillte Unterwürfigkeit: Gott hat es nicht anders gewollt. Dass Gott nur das will, was der Mensch mit seiner Vernunft, mit seiner Beharrlichkeit, mit seinem Willen sich erzwingt, das war ihnen nicht gewohnt. Sonst wären sie ja nicht so tief unten, in der untersten und armseligsten Schicht des Volkes, gewesen. Denn es ist die geduldige Frömmigkeit und die kindliche Gläubigkeit, die alles Gott überlässt, anstatt selbst ordentlich zuzupacken, die das größte Hindernis ist, warum sich die Proleten nicht nehmen, was ihnen gebührt.

 

8

Rosario war gezwungen gewesen, wie sie jetzt, als sie über die Prärie dahingingen, erzählte, mit zwölf Jahren das unabhängige indianische Dörfchen, in dem sie geboren war, verlassen zu müssen, weil zu viele Kinder im Hause waren. Das Land, das ihr Vater von der Kommune hatte, war steinig und mager und zu klein für eine große Familie. Das gute und reiche Land war der indianischen Kommune nach und nach von den politischen Chefs des Don Porfirio abgenommen worden und an spanische und deutsche Großlandbesitzer verkauft worden.
Rosario kam in den Dienst nach Yajaton, zu einem Mexikaner, der dort einen Laden hatte. Sie bekam einen Peso den Monat Lohn. Ehe sie vierzehn Jahre alt war, hatte ihr der Dienstherr ein Kind beigebracht.
Sie blieb im Dienst und bekam einen Peso fünfzig Centavos im Monat Lohn. Ihr Kind starb, und ihr Dienstherr wollte ihr ein zweites verschaffen.
Das erste Kind war ihr gekommen, ohne dass sie gewusst hätte, wie das zugegangen war. Sie hatte sich darüber gewundert, als es plötzlich eines Tages zur Welt kam, während sie vor dem Herde stand und kochte und das Kind plötzlich ihr zu Füßen fiel. Ihre Dienstherrin kam herbei und gab ihr die erste Hilfe. Sie wusste, wo das Kind her war. Darum blieb das Mädchen ungestört im Hause, weil das Kind ja rechtmäßig in das Haus gehörte. In Mexiko ist hierbei keine Tragik mit solchen rein natürlichen Vorgängen verknüpft. Die Frau macht ihrem Manne ein paar Stunden lang Skandal; und dann versöhnen sie sich wieder. An Scheidung denkt sie auch nicht eine Sekunde lang. Sie sind gut katholisch verheiratet, und die katholische Kirche lässt jede Dreckerei in der Ehe zu, Prügeleien und Skandale; aber Scheidung erlaubt sie nicht, ganz gleich, ob die Eheleute sich weder stinken noch sehen können vor Hass. Denn Gott hat sie ja zusammengefügt, auch dann, wenn die Heirat eine reine Geldfrage oder Versorgungsversicherung oder ein Drang war, der sich nicht mehr länger halten ließ.
Als nun ihr Dienstherr abermals sich an sie heranmachte in der Erwartung, dass es nun leichter sei, weil er glaubte, sich Rechte ihr gegenüber erworben zu haben, war sie klüger geworden. Erfahrung hatte sie gelehrt, wo die Kinder herkommen und wodurch. Sie schlug Lärm mitten in der Nacht. Ihre Dienstherrin kam hinzu, und der Kindermacher kam um seine Entlastung.
Rosario blieb noch einige Monate im Hause. Aber es wurde für sie immer unerträglicher, weil sie keine Ruhe vor dem Manne bekam. Sie zog endlich ab und nahm in den folgenden Jahren Dienst in verschiedenen Orten der Region, mit zwei, drei und vier Pesos im Monat. Endlich kam sie nach Balun Canan. Hier diente sie in verschiedenen Häusern als Köchin und als Mädchen für alles. Nach einigen Wechseln erhielt sie eine Stellung bei einer Witwe, die, verärgert, weil sie keinen Mann im Bett hatte, von Monat zu Monat immer bösartiger wurde in ihrem Charakter. Aber sie hatte Zeiten, wo sie zu Rosario vertraulich wurde; und oft so vertraulich, dass dieses indianische Mädchen, völlig unverdorben in ihren sexuellen Instinkten, sich nicht zurechtfand, ob die Frau mehr Mann als Frau sei. Sie forderte Dinge und Handlungen, die das Mädchen verwirrten und meist bis zum Ekel belästigten.
So bekam das Mädchen nach und nach eine Furcht vor der Frau, die um vieles stärker war als die Furcht, die sie vor ihrem ersten Dienstherrn gehabt hatte, dem sie ja auch nur aus zu großer Furcht vor ihm und seinen Schlägen unterlegen war.
Sie kündigte ihren Dienst. Die Frau, die sich in der bösesten Zeit der Übergangsjahre befand, verlor nun jede Vernunft. Sie hatte gehofft, in Rosario ein geeignetes Objekt gefunden zu haben, von dem sie glaubte, es sich mit der Zeit und durch Geschenke und andere Vergünstigungen für ihre von der
Natürlichkeit abgewichenen Begehrungen geneigt zu machen. Als Rosario auf ihrer Kündigung bestand, rächte sich die Frau an ihr, immer noch mit der Hoffnung, das Mädchen gefügig zu machen. Die Frau ging zur Polizei und klagte das Mädchen an, dass sie ihr Geld gestohlen habe. Das Geld wurde auch in dem dunklen Loch, wo das Mädchen schlief, gefunden.
Das Mädchen hätte, wenn es zum Gericht gekommen wäre, mit Gefängnis bestraft werden müssen.
Die Frau jedoch, immer die Hoffnung haltend, das Mädchen nun klein und willig zu kriegen, besprach sich mit dem Polizeichef, dass sie die Anklage nicht bis zur äußersten Grenze führen wolle, dass aber der Polizeichef sie in das Ortsgefängnis sperren möge und sie mit einer Multa, einer Geldstrafe, von fünfzig Pesos belegen solle. Diese Multa war dem Polizeichef bei weitem lieber. Er hatte nichts davon, dass jemand im Gefängnis saß. Er hatte mehr davon, dass die Multa hereinkam, weil er die Multa so verrechnen konnte, dass der größere Teil in seine Tasche gelangte. Denn die Multas sind ja eine der Ursachen, warum in den kleinen Städten bei den Neuwahlen der Behörden, je nach der Heftigkeit des Wahlkampfes, fünf oder fünfzig Wahlberechtigte auf dem Schlachtfeld bleiben. Als Tote. Wenn sie Glück haben, als Krüppel.
Die Frau erwartete, dass Rosario im Gefängnis mürbe werden würde und dass sie ihre Herrin bitten würde, doch die Multa für sie zu bezahlen, damit sie herauskönne aus dem Gefängnis. Die Frau würde sie unter der Bedingung befreien, dass Rosario vor dem Bilde der Heiligen Jungfrau unbedingten Gehorsam gelobe und dass dieser Gehorsam sich auf alles beziehen müsse, was die Frau befehlen würde.
Aber Rosario war keineswegs so schreckhaft vor dem Gefängnis, wie ihre Herrin gedacht hatte. Sie zog es vor, im Gefängnis zu bleiben, als dass sie sich mit ihrer Herrin nach deren Wünschen eingelassen hätte.
Vielleicht war der Grund auch der, dass Rosario nicht schlecht im Gefängnis behandelt wurde. Die Gefängnisse in den kleinen Orten in Mexiko sind ja zumeist wirkliche Pesthöhlen, voll von Ratten, Flöhen, Läusen und dem bösesten Unrat. Aber das wird dadurch reichlich wettgemacht, dass jegliche Disziplin fehlt. Während des Tages sind die Insassen im Hofe. Sie können spielen und rauchen, soviel sie wollen. Sie dürfen Besuche empfangen, wann sie wollen und solange sie wollen. Sie dürfen, meist nur unter ganz flüchtiger Untersuchung, an Speisen, Getränken, Zigaretten, Kleidungsstücken, Büchern, Zeitungen von ihren Freunden in Empfang nehmen, was ihnen gebracht wird. Die Frauen haben meist ihre Kinder bei sich, und Säuglinge werden ihnen niemals fortgenommen, häufig nicht einmal in den großen gutorganisierten Staats- und Landesgefängnissen. Einer gefangenen Frau die Kinder fortzunehmen betrachtet der Mexikaner als grausam. Selbst Strafgefangene der schweren Art dürfen zuweilen ihre Frauen empfangen, mit ihnen den ganzen Tag, zuweilen sogar in der Nacht, allein zusammenbleiben.
Der Mexikaner weiß, dass dies der Gesundheit und dem seelischen Zustand des Inhaftierten dienlich ist und günstiger für die natürliche Sitte der Gefangenen ist als Absonderung. Unter allen Ländern der Erde hat Mexiko heute das großzügigste und menschlichste Strafvollzugssystem, trotz des Umstandes, dass, wie in allen menschlichen Handlungen, auch hier genug Entgleisungen und Unrechte geschehen.
Rosario bekam viel mehr Vergünstigungen, als sie je erwartet hatte. Da sie ein tüchtiges, arbeitsgewohntes und arbeitswilliges Mädchen war, so arbeitete sie schon am ersten Tage ihrer Haft in dem Hause des Polizeichefs. Am zweiten Tage ging sie schon allein auf den Markt einkaufen, und die Frau des Polizeichefs vertraute ihr ohne Zögern das nötige Geld für die Einkäufe an. Die Frau des Chefs behandelte sie nicht eine Stunde lang, als wäre sie eine Strafgefangene. Am dritten Tage schlief sie schon nicht mehr im Gefängnis, sondern im Hause des Polizeichefs, der ebenso sehr wie seine Frau erfreut war, ein so tüchtiges Mädchen als Arbeitskraft im Hause zu haben, der er nichts zu bezahlen brauchte. Im Gegenteil, er konnte die Verpflegungskosten für sie auch noch auf die städtischen Kosten buchen, und weil das Mädchen im Hause aß, so konnte er diese Centavos in seine Tasche stecken, wo sie seinen Bedarf an Zigaretten bezahlten.
Die Dienstherrin kam gänzlich um ihre Rache und erst recht um ihre Hoffnung, doch noch eine Liebhaberin zu gewinnen. Sie konnte nun nichts mehr tun, weil sie sich mit dem Polizeichef über die Verfolgung und Verurteilung des Mädchens geeinigt hatte.
Dem Polizeichef aber war es mehr um die fünfzig Pesos Multa zu tun als um das billige Dienstmädchen.
Es kamen genug Frauen und Mädchen in das Gefängnis, die er im Hause beschäftigen konnte und die ihn nichts kosteten. Sich mit ihnen herumzuärgern, wenn sie nichts vom Hausdienst verstanden, war ja Sache seiner Frau. Das kümmerte ihn nicht.
Es war in der dritten Woche ihrer Haft, als der Polizeichef im Hotel einen Arzt traf, der zugezogen war und der ihm erzählte, dass seine Frau sich beklage, weil sie keine tüchtige Köchin finden könne. Sie sprachen darüber, und der Polizeichef bot dem Arzte an, dass er Rosario als Köchin haben könne, falls er willens sei, die Multa in Höhe von fünfzig Pesos und acht Pesos Kosten für sie zu bezahlen; er, der Arzt, könne ja dem Mädchen diese Multa als Schuld anrechnen, die er ihr von ihrem Lohne abziehen könne, weil das recht sei wie mit jeder Schuld, die ein Arbeiter habe. Der Polizeichef sagte ihm offen, dass er nicht glaube, das Mädchen sei eine Spitzbübin, und dass hier eine falsche Anschuldigung vorliege; aber er könne nichts tun, weil die ehemalige Dienstherrin eine angesehene Bürgerin sei, deren Wort als Zeuge mehr gelte als das Wort eines indianischen Mädchens.
Der Arzt sagte, er werde mit seiner Frau sprechen. Die Frau sagte, sie wolle es mit ihr versuchen. Sie nahm das Mädchen ins Haus und war so zufrieden mit ihrer Arbeit und mit ihrer Reinlichkeit, dass sie ihrem Manne sagte, er möge die Multa für Rosario bezahlen.
So verkaufte der Polizeichef Rosario an den Arzt für die Multa und die Kosten. Die Frau des Arztes war nicht knickrig. Sie bezahlte den für die Stadt unerhörten und viel beredeten Lohn von sieben Pesos an Rosario, obgleich das Mädchen, wie die Frau des Arztes offen erklärte, nicht mit zwanzig Pesos überbezahlt sei, denn sie brauche sich um nichts mehr im Hause zu bekümmern.
Acht Monate aber musste nun Rosario umsonst arbeiten, weil sie die Schuld abzuverdienen hatte. Sie war immer noch Gefangene und konnte jederzeit wieder in das Gefängnis gesteckt werden, wenn sie etwa fortlaufen sollte, ehe diese Schuld abgetragen war. Das hatte der Polizeichef dem Arzt versprechen müssen, dass er für das Mädchen garantiere.
Rosario brauchte natürlich einige Sachen, Hemden, Röcke und einiges andere. Und um diese Sachen kaufen zu können, musste sie sich von ihrer Herrin Geld borgen, wodurch sie ihre Schuld vergrößerte.
Nach achtzehn Monaten war sie aber heraus aus der Schuld und war frei, zu gehen, wohin sie wollte.
Sie gedachte nach Tullum zu gehen, wo bessere Löhne bezahlt wurden als so tief im Hinterlande. Aber die Frau Doktor bot ihr, als sie aufkündigen wollte, zehn Pesos Lohn, und Rosario blieb. Dieses Lohnes wegen wurde die Doktorin von den übrigen Frauen ihrer Gesellschaftsklasse in der Stadt in den Bann getan, weil sie die Löhne der Dienstmädchen verdarb und die Arbeitsbedingungen und Behandlung verschlechterte. Verschlechterte zuungunsten der ehrsamen Bürgerinnen der Stadt, die gewöhnt waren, Sklavinnen um sich zu haben.
Rosario war zwei Jahre im Hause des Doktors. Sie wäre wahrscheinlich noch einmal zwei Jahre dort geblieben, wenn es nach ihr gegangen wäre. Aber der Doktor, der sich nach Abwechslung von seiner Frau sehnte, an die er zu gut gewöhnt war und die ihm darum nicht immer genügend zusagte, begann Gefallen an Rosario zu finden, weil sie ihm, wie er hoffte, mehr und Besseres geben könnte als seine Frau.
Eines Tages war seine Frau zu einem Nachmittagsklatsch zu anderen Frauen gegangen. Der Doktor war allein. Er rief das Mädchen in seinen Consultorio, Konsultationszimmer, und sagte zu ihr: »Rosario, ich habe bemerkt, dass du es an der Lunge hast. Du kannst leicht Tuberkulose bekommen.«
Er machte ihr klar, was dies sei, und erschreckte sie, dass sie sterben könne, dass sie abmagern und hässlich werden würde, dass sie wohl gar keinen Mann bekommen möchte und dass, wenn sie einen bekäme, alle ihre Kinder jung sterben würden, und sie würde sehr unglücklich im Leben werden.
Das letzte war ausschlaggebend. Rosario wollte sich verheiraten, sobald sie einen Mann fände, der ihr zusagte. Sie war viel zu sehr Frau, um dauernd unbemannt zu bleiben. Und erst recht wollte sie Kinder mit ihrem Manne haben.
Sie ließ sich untersuchen, nachdem ihr der Doktor lange genug zugeredet und sie so ängstlich gemacht hatte, wie die Priester die Menschen mit der Hölle und den Teufeln ängstlich machen, wenn sie die Leute in die Kirche haben und deren Geld einkassieren möchten.
Er sagte ihr, dass sie wirklich, wie er vermutet hatte, schwer an der Lunge angegriffen sei und dass es die höchste Zeit wäre, eine Kur zu beginnen. Aber die Kur wäre teuer, weil er wohl nichts für die Behandlung berechnen wolle, da sie zum Hause gehöre, aber die Medizinen und Injektionen müsse er selbst kaufen.
Er machte ihr eine Injektion sofort, um eine Krankheit aufzuhalten, die sie gar nicht hatte. Denn sie war so gesund, wie nur immer ein Mädchen indianischen Vollblutes sein kann.
Nachdem er das Injektionsinstrumentchen gesäubert hatte, sagte er: »Die Injektion kostet drei Pesos, für dich aber nur zwei. Wir müssen jede Woche aber wenigstens drei machen, wenn ich dich am Leben und bei Gesundheit behalten will.«
»Aber Senor Doktor«, sagte sie darauf, »wie kann ich denn sechs Pesos die Woche bezahlen, wenn ich nur zwei und einen halben verdiene?«
Er arbeitete an seinen Instrumenten herum oder tat wenigstens so. Dann wendete er sich um und sagte:
»Das sehe ich ein, Rosario, soviel kannst du nicht bezahlen. Aber ich kann dir das auch nicht schenken.
Es ist mein Beruf. Es geht gegen die Berufsehre, siehst du, dass wir Ärzte etwas verschenken. Das Studium kostet viel Geld, und die Instrumente und Medizinen sind sehr teuer. Aber was hast du davon, wenn du stirbst, wo du doch leicht gerettet werden kannst! Du willst doch nicht etwa freiwillig sterben, oder willst du?«
»Nein, das will ich nicht!« sagte sie erschreckt. »Lieber Senor Doktor, helfen Sie mir doch, dass ich nicht zu sterben brauche!«
Er wurde gutmütig und sagte: »Das ist recht. Das gefällt mir. Wozu sterben, wenn du gerettet werden kannst und glücklich werden kannst im Leben mit einem Manne und mit Kindern!«
Rosario lachte; aber sie hatte feuchte Augen, als sie lachte. »Ich habe mir das überlegt, Rosario«, sprach er weiter, »sieh einmal hier. Ich muss dir etwas sagen.
Aber sage das nicht zu meiner Frau. Sie erschlägt dich sonst. Meine Frau ist nicht ganz gesund, wenn sie auch sonst nach außen gesund aussieht. Was ich sagen will, ist das: Sie kann nicht mit mir schlafen.
Verstehst du, was ich meine?«
»Ja, ich verstehe«, sagte sie, bereits ahnend, was kommen würde. Es war ähnlich, was auch ihr erster Dienstherr, nur mit gröberen und kräftigeren Worten, gesagt hatte. Aber ihr erster Dienstherr hatte Gewalt angewendet, sie geprügelt und sie mit Erwürgen und Erschießen bedroht, falls sie nicht seine Frau ersetze.
»Und siehst du, Rosario«, sagte der Doktor, »du wirst schon verstehen, was ich meine. Ich muss eine Frau haben. Ich kann hier nicht jeden Monat fortreisen nach Tapachula oder nach Tonala oder sonst wohin.
Ich mache dir jede Woche drei Injektionen, die du nötig hast, um dich zu kurieren, und du bezahlst, ich meine, für jede Injektion, du zeigst dich erkenntlich dafür. Ich denke, dass dir dein Leben und deine Gesundheit und das Leben deiner zukünftigen Kinder soviel wert ist. Oder meinst du nicht?«
Die Erwähnung der Kinder aber brachte sie auf einen Einwand: »Ich möchte aber keine Kinder von Ihnen haben, Senor Doktor. Es ist dann nicht so leicht, einen guten und richtigen Mann zu bekommen.
Das wissen Sie doch auch, Senor Doktor.«
Er klopfte ihr beruhigend auf die Schulter und sagte: »Ich bin doch Doktor, nicht wahr, das bin ich doch! Da brauchst du keine Sorge zu haben. Ich weiß das zu verhindern, dass da Kinder sind. Ich will keinen Skandal haben mit meiner Esposa. So, das wirst du mir doch glauben. Denn wenn du Kinder bekommst, dann erfährt alles die Senora Doktor. Sei nur ganz beruhigt darüber.«
Sie sagte nichts.
Er wurde ein wenig ungeduldig: »Also, wie du willst, Rosario. Wenn du sterben willst, mir ist es recht.«
Sie schluckte und sagte dann: »Nein, sterben will ich nicht.« Und zögernd und leise fügte sie hinzu:
»Ja, dann muss ich wohl, wie Sie sagen, Senor Doktor.« Das ging drei Wochen. Dann kam eines Abends die Senora Doktor von einem Klatsch früher heim, als der Senor Doktor erwartet hatte. Sie fand den Senor Doktor und Rosario aber auch gleich so und auch noch über seinem eigenen Bett im ehelichen Gemach, dass selbst das verwegenste Schwören bei Gott, bei der Heiligen Jungfrau und bei allen Heiligen zugleich keinen Zweifel an dem, was sie fand und sah, zugelassen hätte.
Und nun auch noch am Tage des Festes zu Ehren des heiligen Caralampio.
Die Senora Doktor schrie nicht und machte keinen Skandal. Sie behielt sich offenbar alles das für den Senor Doktor vor.
Sie sagte kurz und hart: »Rosario, packe deine Sachen und komme sofort in die Sala für deinen Lohn.
Schade, dass ich dich gehen lassen muss. Du bist ein tüchtiges Mädchen. Aber hinaus aus dem Hause!
Du bist kerngesund. Der Senor Doktor braucht dich nicht zu kurieren.«
Durch diese Worte erlebte Rosario eine neue Erfahrung. Sie war nicht die erste, die von dem Senor Doktor von einer tödlichen Krankheit geheilt werden sollte. Und trotz der Scham, die sie empfand, so überrascht worden zu sein und hinausgeworfen zu werden wie ein Scherben von der Senora, die sie achtete und verehrte, war sie dennoch froh, auf diese Weise zu erfahren, dass sie keine tödliche Krankheit hatte und dass sie weitere Kurmittel entbehren konnte.
In fünf Minuten hatte sie ihr Bündelchen gepackt. Sie ging ein wenig furchtsam in die Sala zur Senora.
Aber die Senora war nicht böse mit ihr. Sie kannte wohl ihren Gespons. Scheiden konnte sie sich auch nicht lassen, weil sie katholisch war. Sie musste aushalten und jede Fahrt des Senor Doktor in die Nachbarschaft erdulden.
Für einen kurzen Augenblick dachte sie daran, Rosario zu behalten, weil sie wusste, dass ein neues Mädchen mit Sicherheit in die gleiche Nachbarschaft des Senor Doktor geraten würde.
»Hier hast du deinen Lohn, Rosario«, sagte sie. »Und vielen Dank für deine gute Arbeit hier in meinem Hause. Hier hast du zehn Pesos mehr, als dir zukommt. Aber morgen früh bist du aus der Stadt heraus, oder ich lasse dich ins Gefängnis stecken. Und noch eins, wenn du ein Wort über das sagst, was hier geschehen ist, dann sorge ich dafür, dass du ein Jahr ins Gefängnis kommst wegen Beleidigung meines Hauses. Du weißt es nun. Adios, Rosario.«
Rosario nahm ihr Geld an sich. Sie stand barfuss vor ihrer Herrin und hatte nur ihren wollenen Wochentagskittel an. Ihr Bündelchen hatte sie in den Gang an die Haustür gebracht.
Sie sagte: »Mil gracias, Senora Doktor, für die liebe Behandlung, die ich hier bei Ihnen gehabt habe.
Ich will immer gut an Sie denken in meinem Leben. Und mil gracias für das Geld. Ich gehe morgen früh fort, wie Sie mir befohlen haben, und ich werde ganz bestimmt zu niemand etwas sagen, das gelobe ich Ihnen bei der Heiligen Jungfrau.«
Sie verteidigte sich mit keinem Worte, dass sie ein Opfer des Senor Doktor geworden sei, ohne es wirklich zu wollen. Sie glaubte, es möchte die Senora verletzen.
Sie kniete nieder und küsste der Senora die Hand. Dann ging sie aus dem Hause.
So war sie mit ihrem Bündelchen zu den Tanzenden gekommen in der Hoffnung, jemand zu finden, mit dem sie am frühen Morgen aus der Stadt wandern könne. Sie gedachte, sich reisenden Händlern anzuschließen, so dass sie nicht allein zu gehen brauche.
»So, das ist es, Manuel«, endete sie, »das ist alles. Du magst mich nun mit dir nehmen und mich zu deiner Frau machen. Und wenn du nicht willst, dann sage es, und ich gehe mit andern. Aber weil ich ganz ehrlich mit dir sein will, darum habe ich dir alles gesagt, wie es ist. Sei auch ehrlich zu mir und sprich zu niemand darüber, was ich der Senora gelobt habe, niemand zu sagen. Dir jedoch musste ich es sagen, damit du mich kennst. Niemand sonst auf Erden soll es von mir erfahren. Die Senora ist immer gut zu mir gewesen. Sie ist eine Santa, eine Heilige, die ich mehr verehre als alle heiligen Jungfrauen, von denen mir nie eine etwas gegeben hat.«
Manuel ließ ihr Bündelchen fallen, umarmte sie und sagte: »Querida linda, was du mir erzählt hast, das habe ich schon jetzt alles wieder vergessen. Ich habe wohl, wenn ich nun daran denke, gar nicht ganz zugehört und das meiste von dem, was du sagtest, wohl ganz überhört, weil ich immer nur dachte, dass du mehr und mehr meine Frau bist, weil du mir das alles erzählst. Ich habe nur an dich gedacht und was ich tun kann, um dich froh zu machen im Herzen. Ein neues Leben fängt an für dich und für mich. Ich weiß jetzt, was ich will. Und das weiß ich durch dich. Ich will fort von den Carretas, wo keine Hoffnung ist. Und ich will fort mit dir, so weit wir nur gehen können auf unsern Füßen. In der Ferne ist die Freiheit.«

 

9

Umarmt und eng aneinandergepresst standen sie so eine gute Weile auf der weiten Prärie. Ohne mehr zu sprechen, ohne zu denken, einander fühlend, einander verstehend, einander vertrauend.
Über ihnen die Sterne, und rund um ihnen die satte Mitternacht. In einer kurzen Entfernung vor ihnen hoben sich in Schatten gegen den schwarzblauen Horizont die Carretas und die ruhenden Ochsen ab.
Die Lagerfeuer der Carreteros begannen aufzuflackern in lichten leckenden Zungen und roten Fladen, die in ihrem Schein die Carretas, die Ochsen und die arbeitenden Carreteros bald in weites Licht tauchten, bald in tiefe Schatten trieben.
Er löste sich aus ihren Armen, nahm ihr Bündelchen wieder auf, und sie gingen nebeneinander auf das Lager seiner Kolonne zu. Die Burschen, sowohl hier als auch bei den Nachbarkolonnen, waren schon alle auf.
Die verrußten Blechkännchen mit Kaffee und die zerbeulten großen Emailletöpfe mit den schwarzen Bohnen standen im Feuer. Die Carreteros trieben die Ochsen auf und begannen sie aufzujochen und einzuspannen.
Manuel stand eine Weile unschlüssig da und sah über das auflebende Lager hin. Er fühlte sich halb schon nicht mehr zugehörig. In seinen Gedanken war er bereits weit fort mit seiner Frau.
»Ola«, rief Andres gut gelaunt, als er Manuel sah, »gut, dass du hier bist, Manuelito. Du fehlst uns.
Weißt ja, die andern sind junge Schäflein, wissen von Böcken und Klöten nichts. Wir haben verflucht noch mal mit den Ochsen zu schaffen. Wollen und wollen nicht heran. Sind ganz aus der Arbeit gekommen.«
»Keine Sorge, Andresillo«, meinte Manuel, sofort wieder in das gewohnte Geschirr fallend, »wir werden sie schon noch munter machen.«
»Ich hatte geglaubt«, sagte Andres lachend, sich das Haar aus dem Gesicht streifend, »dass du dir einen gehoben hättest als Abschied vom Caralampio und dass wir dich mitverladen müssten.«
»Beinahe«, sagte Manuel, »aber ich hatte anderes zu tun.«
»Ay, Hombre«, rief Andres nun, in arbeitsgewohnter Weise, »Hombre, sieh mal herum, wo der gottverfuckte Amarillo steckt, der mit dem halb abgebrochenen Horn. Er ist uns gerade hier unter den Händen weggewischt. Scheint da drüben zu sein bei der Kolonne des Luciano.«
Dann sah Andres Rosario.
»Buenos dias, Muchacha«, grüßte er sie freundlich.
»Ich bin die Frau des Manuel«, stellte sie sich vor, »und ich gehe mit euch nach Arriaga hinunter.«
»Felicitaciones«, rief Andres lachend, »viel Glück, ihr beiden. Bienvenido. Willkommen.« Er gab ihr die Hand und sagte: »Da bleibt doch nun mein kleines Sternchen nicht allein. Geh rüber zu ihr, Muchacha.
Mein Sternchen liegt dort unter der Carreta links. Lege dich neben sie auf den Petate und schlafe ein wenig. Eine halbe Stunde haben wir hier noch zu würgen, ehe wir abtrotten. Müsst beide laufen, haben die Carretas voll bis oben hin. Wenn du willst, trinke einen Schluck Kaffee und nimm das Kännchen mit hinüber zum Sternchen.«
Sie ging zu der Carreta, und sie kroch sich dicht an das Sternchen an, das aufwachte und dem sie, in der ihnen beiden vertrauten Sprache, aus ihrem frohen Herzen heraus zuredete und zuflüsterte.
Und sie waren gleich, als wären sie alte Bekannte. Denn sie verstanden sich sofort, weil sie beide beseelt waren von derselben frohen Hoffnung, in der für sie nach trüben, wolkenschweren Tagen die Sonne aufging. Aber ehe sie dann einzuschlafen vermochten, begannen schon die ersten Carretas der Kolonne schwankend, quietschend und ratternd von der Prärie abzumarschieren.

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