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B. Traven - Der Karren (1930)
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FÜNFTES KAPITEL

1

Staggernd und ratternd quälte sich die Karawane der Carretas den fünfzehn Meilen langen Weg von Socton hinauf zum Hochpass El Calvario. Der Hochpass El Calvario führte über den Cerro de Chiapa hinweg. Der Cerro de Chiapa war der höchste Punkt der Sierra, jenes steilen Felsengebirgszuges, der sich lang zwischen Socton und Niba hinstreckt und das tropische Tiefland von Tullum von dem kühlen Hochland La Mesa de Las Casas trennt.
Der Hochpass El Calvario hatte trotz seines so frommen und so gut katholischen Namens einen verteufelt bösen Ruf. Er war in jeder nur denkbaren Hinsicht ein wahrer Leidensweg. Ein Leidensweg für Reisende jeder Art und jeder Gattung; für Reisende zu Fuß, zu Pferde oder auf dem Rücken von Mules.
Nicht minder war er ein Leidensweg für die indianischen Träger, die hier schwere Lasten von Waren hinaufzuschleppen hatten oder Tragkörbe, in denen reisende Frauen oder alte und nicht reitfähige Männer saßen. Und die Frauen hatten oft genug ein behäbiges Eigengewicht von hundertdreißig oder hundertfünfzig Kilo. Und erst recht war der Hochpass ein Leidensweg für die Carretaführer und für die Treiber von Packtierkarawanen.
Diese Führer, nicht so stoischen Charakters wie die indianischen Träger, die schweigend und unverdrossen in ihrem leichten und wiegenden Schritt dahintrabten, begannen zu fluchen, nachdem sie das freundliche, im ewigen Grün der Palmen und der Bananenbäume genestete Städtchen Socton eine Stunde verlassen hatten. Je steiler und je schwieriger der Weg wurde, umso gründlicher und um so wilder wurden die Flüche.
Diese Carretaführer und Muletreiber verschworen und verfluchten auf diesem Wege ihre eigenen Seelen und die Seelen ihrer Mütter, sie verfluchten ihre Erzeuger, und sie verfluchten den Tag, an dem sie geboren wurden, und erst recht verwünschten sie den Tag, der sie zu Carretaführern gemacht hatte. Sie verfluchten mit schreienden Stimmen Gott im Himmel und die Heilige Jungfrau, und als Dreingabe wünschten sie alle Heiligen der Kirche zur Hölle. Bei jeder neuen Windung, die der Weg machte, versprachen sie ihre Seele und die aller ihrer Kinder dem Teufel, wenn er ihnen ohne Radbruch, ohne Achsenbruch, ohne Absturz der Zugochsen in die tiefen Abgründe, ohne Hinuntergleiten der Packtiere von dem Wege in die zerklüfteten Schluchten glücklich vorüberhelfen würde.
Oben auf der Höhe des Calvarienberges stand ein großes verwittertes Holzkreuz, aufgerichtet in einem hohen Steinhaufen, auf dem verwelkte Kränze und Blumen in Haufen lagen. Wenn die Carreteros und die Muletreiber am Kreuze angelangt waren, dann zogen sie ihren verwetterten großen Strohhut, machten drei Kniebeugen und bekreuzigten sich. Damit waren sie wieder aufgenommen in die Schar der Gläubigen und Frommen, und der Teufel hatte keine Macht mehr über sie und über ihre Seelen; denn Gott und die gebenedeite Jungfrau vergeben großmütig dem Sünder, der reumütig zurückkehrt zu den Lobgesängen und zu den geweihten Kerzen, weil der, der Berge, Schluchten, Flüsse, Sümpfe und Seen schuf, die Verantwortung übernahm für alles, was dieser Schöpfungen wegen geschieht und getan wird. Denn hinauf auf den Hochpass mussten die Leute, und ob ihnen auf diesem Leidenswege Gott oder die Heilige Jungfrau oder der Teufel half, war ihnen im Grunde gleichgültig, wenn sie nur hinaufkamen mit ihren Karren, ihren Tieren, ihren Lasten und ihren Waren.
Nun war freilich mit dem Erreichen des Kreuzes der Leidensweg keineswegs beendet, wie man wohl glauben sollte, weil doch hier das Kreuz stand, das allen Menschen Erlösung verspricht. So leicht wird es den Menschen auf Erden nicht gemacht, sie würden sonst zu rasch in Völlerei und Unzucht ausarten.
Und das Bekreuzigen allein tut es auch nicht. So billig ist es nicht im irdischen Jammertal.
Für viele Reisende, besonders für jene zu Pferde, die allein reisten oder nur zu zweien und nur gerade von einem oder zwei Burschen begleitet, begann jetzt erst der wirkliche Leidensweg.
Denn El Calvario hatte eine doppelte Bedeutung. Hatte man die eine Bedeutung unter Fluchen, Verschwören, Ächzen, Stöhnen und Schwitzen begriffen, dann stand einem noch die Lösung der zweiten Bedeutung bevor. Und die Lösung der zweiten Bedeutung endete häufig genug mit einem raschen und geschäftsmäßigen und damit mitleidlosen Tode der Reisenden. Aus diesem Grunde fluchten diejenigen, die sich nicht so ganz sicher fühlten, dass sie heil und ungeschoren an dem Kreuze vorüberkommen würden, weniger häufig auf dem Wege als die Carreteros und die Arrieros, die eine robustere Natur hatten und seltener an das jenseits dachten, weil sie mehr an das näher liegende Diesseits zu denken hatten. Für die Reisenden kam der Tod meist so plötzlich, dass ihnen keine Zeit blieb, sich zu bekreuzigen und sich damit rechtzeitig ein bequemes Leben im jenseits zu sichern.

 

2

Der Hochpass war berüchtigt und gefürchtet der Banditen wegen, die hier den Reisenden und den Karawanen auflauerten. Die Banditen waren smarte und kluge Geschäftsleute, die ihr Handwerk verstanden und ihrem Verdienst mit Bedacht und Weisheit nachgingen. Dort, wo Gouverneure, Generale, Polizeichefs, Disputados, Bürgermeister        und
Steuermarkeninspektoren Land und Volk bestehlen, wo nur immer sich eine Gelegenheit findet, bleibt Hunderten von Unbeamteten oft nichts anderes übrig, als ebenfalls zu stehlen. Wenn die Beamteten stehlen, so heißt es Korruption, wenn Nichtbeamtete stehlen, so heißt es Banditentum. Aber immer nur dort, wo Beamte stehlen, gibt es Banditen. Und sobald oben aufgehört wird zu stehlen, sterben unten die Banditen alle in einer Woche aus.
Die Banditen am Calvarienberg lagen nicht jeden Tag auf der Lauer. Das würden ihre Frauen auch schon gar nicht geduldet haben; denn eine Frau will ja von ihrem Manne auch noch etwas anderes haben als das tägliche Brot und gelegentlich einen neuen Fetzen. Außerdem konnten die Wegelagerer auch nicht nur vom Banditentum leben, sie mussten Antlitz bewahren. Darum hatten sie alle eine kleine, manche eine große Landwirtschaft. Und dieser Landwirtschaft widmeten sie den größeren Teil ihrer Zeit. Erstens, um geachtete Bürger zu bleiben, zweitens, um nicht unnötigen Verdacht zu erwecken, und drittens, um ein sicheres Einkommen zu haben ihrer Kinder wegen, die zu ehrsamen Bürgern heranwachsen sollten.
Aus allen solchen Gründen gingen sie nicht jeden Tag auf die Jagd. Einmal hätte das die Reisenden abgeschreckt, überhaupt hierzu reisen, oder sie wären nur in großen Gruppen gereist, so dass die Banditen keine Geschäfte hätten machen können. Zum andern würde die Regierung hier einen dauernden Militärposten hingelegt haben, den die Banditen nicht gebrauchen konnten. Darum geschah es, dass viele Wochen, ja oft Monate vergingen, ohne dass auch nur ein einziger Raubanfall vorkam. Und dann plötzlich wurden drei Tage lang alle Reisenden und alle Karawanen ausgeraubt, die ihres Weges kamen.
Dann wieder mochte es zuweilen geschehen, dass nur ein oder zwei Reisende aufgehalten und nur eine kleine Maultierkarawane ausgeraubt wurde, während alle übrigen, die am selben Tage oder in derselben Woche den Weg zu machen hatten, unbelästigt blieben.
Gerade das Unbestimmte im Auftauchen der Banditen war es, was den Weg zu einem Schreckensweg machte. Nie wusste jemand vorher mit Sicherheit zu sagen, ob er heil und unberaubt vorüberkommen würde oder nicht. Nie konnte jemand mit ruhiger Gewissheit Geld, das er zu Einkäufen brauchte oder das er aus Verkäufen gewonnen hatte, oder irgendwelche anderen Werte von einem Ort zum andern bringen. Selbst wenn er kein großes Geld bei sich hatte, ja ohne irgendwelche Werte reiste, so war er doch nicht sicher, ob er die Kleider auf dem Leibe und sein Leben behalten würde. Nur Pferde und Mules und Sättel wurden nicht geraubt. Denn alle Tiere haben ihre Brandzeichen, und Sättel haben so viele besondere kleine Merkmale, dass mit deren Hilfe die Banditen hätten entdeckt werden können.
Nun konnten freilich die Reisenden in großen Gruppen reisen. Sie konnten das unter günstigen Umständen tun. Aber es lässt sich nicht so einrichten wie bei einer Kompanie Soldaten, denen befohlen wird, abzumarschieren, und dann marschieren sie eben zur befohlenen Stunde ab.
An dem Tage, an dem fünf Mann reisen können, können die andern fünf, die mit der Gruppe zu reisen gedachten, nicht abkommen, weil der eine inzwischen ein krankes Kind hat, der andere eine Frau, die niederkommt, der dritte hat ein Haus gekauft, das er sich heute ansehen muss, der vierte hat sich den Magen verdorben, und der fünfte hat sich über Nacht überlegt, dass er eigentlich überhaupt nicht zu reisen braucht und dass er seine Reise gut aufschieben kann. Die ersten fünf brechen nun auch noch auseinander. Der eine hat eine unerwartete Gerichtsvorladung, dem andern ist am frühen Morgen das Haus abgebrannt, und so bleiben drei oder gar nur zwei übrig, die jene Reise auf jeden Fall unternehmen müssen, weil ihr ganzes Geschäft davon abhängig ist, an einem bestimmten Tage in Tullum oder in Arriaga zu sein. So reisen die beiden allein. Auf gut Glück. Mit geweihten Amuletten, mit unzähligen Bekreuzigungen aller ihrer Familienangehörigen und mit einem guten Revolver behangen reiten sie los und werden zwei Tage oder zwei Wochen darauf erschossen oder erschlagen in einem der Abgründe aufgefunden. Einige der Banditen, als unschuldige, fleißige und nüchterne Landleute, denen man nichts Ehrenrühriges nachsagen kann, helfen beim Suchen, und sie klagen mit dröhnenden Worten die Regierung an und den mangelnden Kirchenglauben der Banditen, die eine Zuchtrute für das Land seien, weil ihnen jeder Glaube an eine Vergeltung im Jenseits fehle.

 

3

Wer auch immer den Hochpass El Calvario geschaffen haben mag, ein Erdbeben oder der liebe Gott im Himmel droben oder eine sehr langsame Veränderung der Erdkruste, jedenfalls wer oder was den Hochpass schuf, war freigiebig. Er baute ein Wunderwerk der Natur auf.
Der Weg zieht sich in mehr als fünfzig Windungen an dem Felsengebirge hinauf. Vielleicht sind es auch achtzig Windungen oder hundertzwanzig. Wer weiß? Quien sabe? Niemand zählt die Windungen.
Und wer sich vornimmt, sie zu zählen, vergisst sehr bald, wie viele er schon hinter sich hat. Denn er muss sich auf andere Dinge konzentrieren, die augenblicklich wichtiger sind als geographische oder topographische Feststellungen.
Das Hinaufklettern beginnt schon, wenn man noch in Socton ist. Die letzte Kirche der Stadt steht bereits so hoch über der Stadt, dass die Frommen, die kurz von Atem sind, sie nicht besuchen können.
In der Stadt sind die Straßen gut gepflastert, mit kräftigen Koppelsteinen jener Art, die vor fünfhundert Jahren als hochmodern galt. Aber sobald man die letzte gepflasterte Straße verlassen hat, beginnt auch gleich die Qual, aus der man erst wieder erlöst wird, wenn man, nach beinahe hundert Kilometern, die nächste Stadt mit gepflasterten Straßen erreicht hat.
Aus dem tropischen Tiefland, wo die Straßen und Plätze abgegrenzt sind durch hohe Palmen, wo die Äcker, die Gärten und die kultivierten Ländereien gefüllt sind mit dem Reichtum der Pflanzen, Blumen, Sträucher und Bäume der heißen Zonen, kriecht der Weg hinauf auf die kühle Höhe der Sierra, wo Tannen stehen, so schön und stark und schlank wie im nördlichen Ohio.
Immer tiefer werden die steil abfallenden Schluchten und Abgründe an der linken Seite des Weges; und rechts steht, beinahe für die ganze Länge des Weges, die hohe steile Felsenwand der Sierra, die sich nur verändert im Charakter der Pflanzen und der dornigen Gesträucher, die an ihr wachsen.
Dann oben, auf dem Hochpass, sieht man zu seinen Füßen ausgebreitet das tropische Tiefland liegen.
Weit hinten am Horizont, in einem grünblauen Flimmer, steigt die lange Bergkette eines anderen Armes der Sierra auf, mit ihren hohen Gipfeln tief in die Wolken reichend. Wie ein silberner Faden, der eingezeichnet ist in einen gigantischen Teppich, der ohne Form, ohne Muster, ohne irgendwelche Absicht ist, liegt der Grijalva-Strom scheinbar unbeweglich und scheinbar durchaus fremd in der flirrenden Ebene. Das Grotesk-­Tragische ist, dass an denjenigen Stellen des Weges, wo man sein Selbst völlig vergessen kann im Anblick der Gaben einer verschwenderischen Natur, dass gerade an jenen Stellen die Banditen mit Revolvern, Gewehren und Messern am nächsten sind. Denn es ist gerade an jenen Stellen, wo es für die Reis enden und für die Karawanen kein Ausweichen gibt, kein Umkehren, kein Fliehen. Zweihundert, dreihundert Meter tief liegt an der linken Seite des Weges der steile felsige Abgrund, und an der rechten Seite, hart, wie aus dem Wege herauswachsend, steht die Felsenwand, so steil, so holprig, so dicht und buschig mit Dornen und fingerlangen Stacheln aller möglichen Gewächse, dass selbst eine Ziege jede Hoffnung aufgibt, auf diesem Wege zu entweichen.
Man kann es wohl verstehen, warum viele Reisende den Hochpass »Ayudame Purisima!« nennen, »Heilige Jungfrau, Mutter Gottes, hilf mir hier gesund vorbei.« Weil aber die Banditen gleichfalls gute Katholiken sind und gleichfalls die Purisima anrufen, dass ihnen heute ein guter Fang gelingen möge, so stehen die Aussichten für beide Parteien immer auf halb und halb.

 

4

Die gute Kenntnis der zahlreichen Gefahren, die der Weg bot, hatte die Carreteros veranlasst, an einem Lagerplatz außerhalb der Stadt Socton aufeinander zu warten, bis genügend Karren beisammen waren, so dass sie eine sehr große lange Karawane bilden konnten.
Eine große Karawane von Carretas kann von den Banditen wohl für eine Zeit aufgehalten werden, aber sie kann nicht mit Erfolg angegriffen und ausgeraubt werden. Fallen die Räuber die erste Carreta an und kracht auch nur ein Schuss oder erschallt auch nur ein Aufschrei des angegriffenen Carreteros, so steht sofort die ganze Karawane; und die Führer der mittleren und hinteren Carretas, wohl gedeckt durch die Karren, rücken auf mit ihren Schießprügeln, mit Machetes, mit Knüppeln, mit Messern, mit Radspeichen, mit Steinen oder was sie sonst zur Hand haben mögen. Und dann geht es den Banditen übel, wenn sie nicht rechtzeitig flüchten. Greifen sie die letzte Carreta an, so findet nur eine Frontveränderung statt, aber das Resultat bleibt das gleiche. Es ist einige Male geschehen, als den Banditen bekannt war, dass Carretas bares Geld geladen hatten, dass die Karawane gleichzeitig am ersten und am letzten Karren angegriffen wurde. In dem wilden Schlachtgetümmel, das darauf folgte, gelang es den Banditen, einige Carretas den Abgrund hinunterzustürzen, nachdem sie die Ochsen rasch abgeschnitten hatten, und es gelang ihnen, einige weitere Carretas auszurauben und die Güter ebenfalls in die Schluchten zu werfen, wo einige Burschen unten auf Posten standen, die geraubten Sachen gleich in Sicherheit zu bringen. Aber dann war es auch schon höchste Zeit für die oben kämpfenden Banditen, abzuflitzen und sich selbst in Sicherheit zu schaffen, denn mehr als die Hälfte von ihnen war nicht mehr heil und einige von ihnen nicht mehr ganz vollständig in ihren körperlichen Ausmaßen. Sie mussten den Kampf aufgeben, ohne das Geld, das die Carretas führten, gewonnen oder auch nur gesehen zu haben.
Führten die Carretas Waren, die an sich nur einen geringen Handelswert hatten, wie Salz, Kacheln, Bücher, Flaschen, oder solche Güter, die für die Banditen unverkäuflich waren, wie Maschinenteile, Blechplatten, Eisenstangen, dann zogen die Carretas auch in kleinen Gruppen von vier bis acht Karren.
Die Carreteros selbst führten nur ganz wenig Geld bei sich, jeder einzelne vielleicht sechzig oder siebzig Centavos, und diese wenigen Centavos wussten sie auch noch so gut zu verstecken, dass kein Bandit sie finden konnte.
Dagegen, wenn die Carretas reiche Güter führten, wie Seidenwaren, Uhren, Kleiderstoffe, Schmucksachen, Weine und Liköre, Revolver, Jagdwaffen, Munition, zogen sie nur in großen Karawanen zu vierzig, sechzig und mehr Karren.
Aber große Karawanen so nützlich sie auch waren als Schutz gegen Banditen, hatten viele Nachteile.
Sie marschierten viel langsamer als kleine Gruppen, wodurch die Fracht sich verteuerte, denn jeder Tag kostet Futter für die Ochsen und Lohn für den Führer, und für den Kaufmann kann ein Tag Verspätung bedeuten, dass er die Ware nicht rechtzeitig verkaufen kann. Für große Karawanen war es viel schwieriger, Futter für die Tiere zu schaffen, als für kleine. In einer großen Karawane ist die Zahl der Achsenbrüche höher als in einer kleinen, und wenn die Karawane beieinander bleiben will, so muss die ganze Karawane anhalten, bis die Achsenbrüche geheilt sind. Dies war der Grund, warum die Carretas nur dann in großen Karawanen zogen, wenn sie Schutz benötigten.

 

5

Die Carretas waren plump und schwer gebaute zweirädrige Karren. Die Räder waren sehr hoch. Der Flüsse und Moraste wegen, die auf dem Marsche zu kreuzen waren. Die Carreta selbst war schmal gehalten und etwa doppelt so lang als breit; und mit einem halbrunden Dach versehen, das auf einem Gestell von Reifen ruhte. In einer Karawane von zwanzig Carretas waren wohl kaum zwei, die ein Dach von gleicher Art hatten. Die eine Carreta hatte eine Bedachung aus grober Leinwand, eine andere ein Dach aus Schilfmatten, wieder eine andere eins aus ineinander geflochtenen Palmenblättern, eine andere war bedacht mit Rehfellen, eine andere mit Antilopenfellen, eine andere mit Berglöwenfellen, eine andere mit Jaguarfellen, eine andere mit Lumpen, zusammengesucht aus alten Hemden, Baumwollhosen, zerfetzten Wolldecken. Dann war vielleicht wieder eine Carreta mit einem Dach aus einer Art Korbgeflecht, und eine andere hatte ein Dach aus braunen, gut ausgegerbten Fellen von Kühen, Ziegen oder Schafen.
Jede Carreta wurde von einem Paar Ochsen gezogen. Die Ochsen waren ungemein schwere, großhornige Tiere. Viele von ihnen sahen so schwer und gewaltig aus, als wären sie verwandelte Elefanten.
Die Ochsen zogen nicht mit Hilfe eines Joches, das über ihrem Halse lag, sondern sie zogen mit ihren mächtigen Stirnen.
Es wurden zwei Ochsen, die das Zugpaar waren, zusammengestellt, und dann wurde über ihre Köpfe, ganz dicht hinter die Hörner, ein schwerer Zugbalken gelegt. Dieser Balken an sich war schwer genug, dass ein kräftiger Bursche seine Mühe hatte, ihn allein aufzulegen. War der Balken an die gewünschte Stelle gelegt und hatten die Ochsen den richtigen Abstand voneinander, dann wurde der Balken mit derben, roh ausgegerbten Riemen fest mit den Hörnern verschnürt. In die
Hörner waren zuweilen Löcher gebohrt, um die Riemen sicherer in ihrer Lage festhalten zu können.
War der Zugbalken festgeriemt, dann wurde er mit der schweren Deichsel der Carreta verriemt. Die Deichsel stand unbeweglich im Karren.
Die Ochsen zogen mit gesenkten Köpfen. Kein Tier konnte eine Bewegung mit dem Kopfe selbständig machen. Jede Bewegung des Kopfes des einen Tieres veranlasste eine gleiche Bewegung des Kopfes des Nebentieres. Während des Marsches konnten sie sich in ihrer vorderen Körperhälfte der großen Beißfliegen und anderer Insekten, die in Tausenden die Carretas umschwärmten, nicht erwehren. Sie konnten sich nicht belecken, sie konnten sich nicht einmal schütteln. Sie mussten ertragen, was ihnen Gott, der diese Insekten erschaffen hatte, auferlegte. So kam es, dass an jenen Tagen, wenn Regen bevorstand oder wenn aus anderen Gründen die Insekten besonders hungrig und blutgierig waren, die Ochsen über und über mit Blut bedeckt waren, das unaufhörlich in zahllosen dünnen Fäden über ihre Körper rieselte.
Ihre großglotzigen und verglasten Augen stier auf den Weg gerichtet, den Augapfel nur selten einmal bewegend, marschierten die Ochsen, mit ihren Karren hinter sich, langsam Schritt für Schritt dahin.
Der Schritt war ungemein langsam, aber gleichmäßig, wie von einer Maschine geleitet.
Die Ochsen wurden nicht mit einer Peitsche angetrieben, sondern mit langen Stäben. Die Stäbe, aus Hartholz geschnitten, waren an dem einen Ende scharf zugespitzt. Manche hatten an Stelle der Holzspitze einen Nagel eingetrieben. Mit diesen Stäben piekte der Carretero die Ochsen in den Hintern, wenn er sie aufmuntern musste. Was die Insekten an den hinteren Körperteilen der Ochsen nicht erreichen konnten, weil hier die Tiere   mit   ihren   Schwänzen   die   Insekten   zu   verjagen vermochten, das erreichten die Carreteros mit ihren spitzen Stäben. Wenn der Weg besonders schwierig war und die Ochsen müde und hungrig waren und nicht so vorwärts kommen konnten, wie die Carreteros wollten, so begann bald auch aus den hinteren Körperteilen der Ochsen das Blut herunterzurieseln. Die Carreteros wiederum wurden von ihren Lohngebern wieder gespießt, gepiekt, beschimpft und mit Rausfeuern bedroht, wenn sie sich auf den Wegen allzu sehr verspäteten. So hatten die Ochsen die Genugtuung, dass die Welt vollkommen sei und dass Gott gerecht sei und Vergeltung übe.
In der trockenen Periode war der Weg überdeckt von einer zwanzig bis dreißig Zentimeter hohen Schicht eines weißen, feinen kalkigen Staubes, der in den Augen, in der Nase und im Munde wie Gift brannte und fraß. In der Regenperiode war der Weg überdeckt von einer zuweilen halbmeterhohen Schicht von dickem, zähem Erdkleister, der die Räder der Carretas und die Füße der Ochsen festklammerte wie mit Stricken.
Aber ob Trockenzeit mit ihrem ständigen Eingehülltsein in dicke Staubwolken oder ob Regenzeit mit ihrem zähen Schlamm, der Weg blieb immer und immer ein Martyrium mit seinen Tausenden von Löchern, Gruben, Einsenkungen, mit seinen Millionen von Steinen, Felsbrocken, hervorragenden Steinklötzen, ausgewaschenen dicken Wurzeln gigantischer tropischer und halbtropischer Bäume, mit seinen Abrutschungen ganzer Wegstrecken, Herunterkrachen abbrechender Gesteinsmassen und abgefaulter oder ausgewaschener Stämme. Da war kein Erbarmen für die Carreteros, kein Mitleid für die Ochsen, keine Erlösung aus den tausend Leiden von Mensch und Tier. Denn in Suchiapa, in Tullum, in Socton, in Ixtapa, in Jovel, in Comitan, in Sapaluta leben viele tausend Menschen, die Salz brauchen, Kleider, Bücher, Mandolinen, Schlösser, Liköre, Uhren, Schuhe, Schreibmaschinen, Phonographen, Porzellantassen, seidene Hemden, Ohrringe, photographische Apparate,   Parfüme,   Filzhüte,   Zündhölzer,   Zimt,   Aspirin,
Ölbilder, Häkelnadeln, Flaschenbier, Bleistifte, Sicherheitsrasiermesser, Brillen, Gummilutscher, Schrauben, Abreißkalender, Knöpfe. Keine Zivilisation ohne Transport.

 

6

Kriechend kletterte die Karawane den Calvario hinauf. Das war eine gewaltige Komposition von Geräuschen, wie sie wohl kein Künstler je hervorbringen könnte. Denn so verschieden, so entgegengesetzt auch alle Töne waren, so ergaben sie, alle vereint, dennoch eine wundervolle Harmonie.
Keuchen, zuweilen ein Brummen des einen oder des anderen Ochsen, Ächzen der Riemungen, Knirschen der Räder, Quietschen der Achsen, Knistern des aufgebauten Gestells der Carreta, Klimpern und Klirren von schlechtgepackten Gegenständen in Kisten, Holpern und Stolpern über Steine, schrilles Ausrutschen eines Rades von einer Felskuppe, Einfallen oder Einbrechen der einen Seite einer Carreta in eine Aushöhlung des Weges, Durchsinken in eine unterwaschene Grube, Poltern über eine knorrige Felspartie, Rumpeln über dicke Wurzeln, Schreien der Carreteros, Fluchen, Schimpfen, Schwören, Antreiben; einer pfeift eine Melodie, ein anderer singt sich etwas, wieder einer brummt etwas vor sich hin. Dann sitzt eine Carreta so tief in einem Loch, dass sie nicht weiter kann. Die Burschen der benachbarten Carretas kommen zur Hilfe, und die Carreta wird mit vielem Geschrei und Gestöhn herausgewuchtet.
Dann setzt sich die ganze Karawane wieder schwerfällig in Bewegung. An den Seiten des Weges, im Gebüsch und im Gegras, zirpen und flöten die Grillen und Zikaden, irgendwo singen einige Vögel, Bienen summen durch die flirrende Luft, Schmetterlinge flattern hin und her und folgen der Karawane, den feuchten Unrat der Ochsen erwartend.
Die Karawane ist in einen weiten Mantel von Staub gehüllt. Wenn an einigen Stellen des Weges Wind einbläst, dann sind es dicke schwere Wolken von Staub, die so dicht sind, dass der Carretero kaum die vor ihm marschierende Carreta sehen kann.
Ihre Augenlider schwer von dem vielen Staub, ihre Gesichter schwarz von dem Gemansche von Schweiß und Erde, sehen die Körper der Burschen aus wie in Mehl herumgewälzt.
Steht man oben auf der Höhe dicht vor dem Hochpass, wo man zahlreiche Windungen des Weges gleichzeitig übersehen kann, so gewinnt man von der marschierenden Karawane den Eindruck, als ob ein gewaltiger, merkwürdig geformter Wurm den Weg hinaufzöge. jede einzelne Carreta erscheint wie ein Ring in dem langen Körper des Wurmes. Und weil die Karren hin und her schaukeln und stolpern, so wird der Eindruck, dass da ein großer Wurm heraufkröche, nur um so wahrer. Denn dass es Karren sind, kann man von der Höhe nicht recht erkennen. Die Entfernung und die heiße flirrende Luft, die wie leicht zitternder nebelweißer Schleier über die Erde gebreitet ist, lassen Dinge wahr und wirklich erscheinen, die bei nüchterner Überlegung nicht wirklich sein können. Aber unter der lastenden tropischen Sonne, eingehüllt in wogende Staubwolken, dahinkletternd in einem ständigen Bewusstsein der Schwierigkeiten und der Gefahren des Weges, verliert selbst ein sonst klar denkender Mensch jegliche Fähigkeit, nüchtern zu sehen und unbefangen zu urteilen.

 

7

Die Karawane hatte nun den Hochpass erreicht. Sie war aus dem letzten Hohlweg heraus und kam durch ein steiles Felsentor auf die weite Hochebene des El Calvario.
Auf dieser Hochebene lagen drei Ranchos. Der größte dieser Ranchos, der Rancho El Calvario, machte mit den zahlreichen Hütten seiner Peones den Eindruck eines Dorfes. Ein anderer, kleinerer Rancho, der mit seinem weißgetünchten Haus und mit den Säulen seines Porticos einen sauberen und idyllischen Anblick hervorrief, lag am andern Ende der Hochebene. Dieser Rancho diente gewöhnlich den Reisenden, die zu Pferde kamen, als Herberge; denn er lag so ziemlich genau in der Mitte des Weges von Tullum und Jovel. Die Reisenden, die von Jovel kamen, versuchten stets, diesen kleinen Rancho zu erreichen, weil die Wegstrecke von hier nach Tullum hinunter sie kürzer dünkte, als wenn sie in dem Städtchen Niba zur Nacht blieben.
Die Hochebene war, das ganze Jahr hindurch, von gutem Gras bedeckt. Gegen Ende der Trockenzeit war das Gras freilich sehr mager. Aber hart arbeitende Ochsen, Mules und Pferde verlernen auf diesen Wegen, wählerisch im Futter zu sein. Sie sind ersichtlich froh, den Ruheplatz endlich erreicht zu haben.
Der Anblick der freundlichen Grasfläche, auch wenn die Weide noch so dünn und grätig aussieht, macht die Tiere wiehern und blöken. Die Ochsen besonders, während ihrer ganzen Lebenszeit gewohnt, hier Rast zu machen, würde auch der geschickteste Carretero kaum einen Kilometer weiterbringen können. Der Marsch von Socton zu dieser Hochebene ist der längste auf der ganzen Reise zwischen Arriaga und Balun Canan. Denn auf diesem Wege können die Carretas nirgends halten. Der Weg ist zu schmal, es ist kein Futter am Wege und nur wenig Wasser. Und Wasser benötigen nicht nur die Tiere, sondern erst recht die Carreteros. Die Hochebene ist an der einen Seite begrenzt von steilen Felsen und Bergzügen, an der andern Seite ist dichter, dorniger, tropischer Busch. Angekommen auf der Ebene, möchten die Carreteros nichts lieber tun, als sich hinzuwerfen und zu schlafen, wo sie hinfallen, müde und ausgearbeitet bis auf das letzte Härchen ihres Körpers.
Aber nun beginnt für sie eine neue Arbeit.
Alle Carretas werden dicht nebeneinander aufgefahren, so dass die eine Carreta mit ihrer Querseite dicht an der Querseite der nächsten steht. Die Carreteros haben, wie alle Indianer, einen eingeborenen Schönheitssinn. Die Geschütze eines Artillerieregiments können nicht schöner und militärischer an ihrem Lagerplatz aufgefahren werden als die Carretas einer Karawane. Unter Schreien und Kommandieren, mit Wuchten und Schieben werden die Carretas in Linie ausgerichtet. Die Ochsen werden ausgespannt und abgejocht.
Die Carretas werden immer ausgerichtet. Aber oft genug geschieht es, dass die Carreteros so pferdemüde gearbeitet sind, dass sie die Ochsen nicht abjochen. Die Ochsen bleiben mit dem wuchtigen Jochbalken auf den Hörnern. Sie müssen dann stets paarweise beieinander bleiben. Wo das eine grast, da muss das Nachbartier grasen. Den Kopf können sie nur wenig zur Seite bewegen, und wenn das eine Tier den Kopf nach rechts wendet, ist das Nachbartier gezwungen, den Kopf gleichfalls nach rechts zu bewegen. Die Ochsen aufgejocht zu lassen, obgleich das eine unerträglich erscheinende Qual für die Tiere ist, hat an bestimmten Rastplätzen noch einen andern Grund.
Wenn die Tiere einzeln grasen, so streuen sie weit aus, um den besten Weideplatz zu suchen. Sie gehen nicht selten fünf Kilometer weit vom Rastplatze fort. Dann müssen die Carreteros die Tiere suchen gehen, müssen sie zuweilen weit und tief aus dem Busch herausholen, wo die Ochsen das Laub gewisser Bäume dem dünnen Grase vorziehen. Mit diesem Suchen verlieren die Carreteros oft halbe, ja ganze Tage. Es geschieht, dass alle Carreteros der ganzen Karawane nach zwei oder gar nur einem Ochsen suchen gehen müssen. Ist das schon schwierig bei Tage, umso mehr bei Nacht, wo die Leute mit Laternen und Kienfackeln durch Busch und Dschungel kriechen, um die verstreuten Tiere einzufangen.
Die Carreteros sind in dem Suchen der ausgebrochenen Ochsen geübt. Sie verstehen jeden abgebrochenen Zweig, jeden niedergetretenen Strauch, jedes zerstampfte Grasbüschel richtig zu lesen, bei weitem besser als eine Fibel. Sie wissen genau, ob eine Hufspur einen Tag oder zwei Wochen alt ist, ob es die Spur frei weidender Rinder eines nahen Ranchos oder die eines ihrer Ochsen ist. Dennoch kommt es vor, dass Ochsen eine Woche lang nicht gefunden werden können, entweder weil sie sehr rasche Läufer sind und nach ihrem Heimatrancho wandern oder weil sie sich mit einer Herde mischen und mit dieser Herde nach dem Rancho jener Tiere ziehen.
Die Zeit, die mit dem Suchen ausgebrochener Tiere verloren geht, müssen die Carreteros auf irgendeine Weise hereinzubringen suchen. Verspäten sie sich mit ihrer Fracht zu häufig, dann werden sie von ihren Herren elend beschimpft, vielleicht heftig bestraft oder entlassen. Sie gelten dann als untaugliche Carreteros und als unzuverlässig, und nur mit Mühe können sie irgendwo wieder Arbeit finden.
So darf man den Carretero nicht eilfertig als Tierquäler bezeichnen, wenn er zuweilen die Ochsen nicht abjocht. Nicht abgejochte Ochsen können nicht weit ausbrechen, weil sie durch den schweren Jochbalken, der quer über ihnen liegt, überall gegen Bäume stoßen und so aufgehalten werden. Sie immer im Joch zu lassen, kann der Carretero aber auch nicht wagen. Denn die Tiere, die aneinander angejocht bleiben, können nicht so gut und reichlich essen wie die Tiere, die frei weiden. Das Tier bleibt hungrig, magert ab, vermag nicht kräftig genug zu ziehen und bleibt vielleicht gar am Wege liegen.
Futter auf den Carretas mitzuführen und die Tiere auf den
Rastplätzen anzubinden, geht nicht an. Sie sind mächtige Tiere, und sie brauchen darum viel Futter, wenn sie gut arbeiten sollen. Wenn aber auf die Carreta Futter geladen werden soll, dann kann keine Fracht geladen werden. Der Mais, der für die Tiere mitgeführt werden muss, weil nicht an allen Plätzen Mais zu kaufen ist, nimmt schon genügend Platz weg und lastet schwer genug mit seinem Gewicht auf den Karren.
Was immer auch ein guter Carretero sich ausdenken mag, um sowohl seinem Herrn wie seinen Tieren wie dem Kaufmann, der die Waren in einer bestimmten Zeit gebraucht, gerecht werden zu können, überall stößt er gegen Verhältnisse und Bedingungen, die mächtiger sind als er und stärker als eine besten Absichten.
Hunderttausende von Tieren und Millionen von Menschen müssen leiden und müssen unerträglich Erscheinendes erdulden, damit Zivilisation sein kann und damit Zivilisation in die fernsten Winkel und Ecken der Erde, wo Menschen wohnen, getragen werden kann.

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