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B. Traven - Der Karren (1930)
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SECHZEHNTES KAPITEL

1

Eine Gruppe von Indianern wanderte ihres Weges dahin.
Sie kamen aus ihren heimatlichen Regionen im Norden des Staates. Sie befanden sich auf dem Marsche nach den Dörfern und Siedelungen der fruchtbaren Erde im Süden und im Südosten des Staates.
Sie kamen nicht, um neues Land zu suchen und zu erwerben, obgleich sie gutes Ackerland gewiss benötigten und darum immer begehrten. Ihre heimatliche Erde war mageres und steiniges Gebirgsland, das unter großen Mühen bearbeitet werden musste, wenn es ihnen Nahrung geben sollte. Aber im Süden war das Land nicht nur teuer, sondern es war im Besitze von Mexikanern und wohlhabenden Indianern, Kaffeepflanzern und Farmern, Leuten, die das Land ebenso nötig für sich selbst brauchten und für sich selbst behalten wollten, wie die Indianer im Norden ihr Land für sich behalten mussten.
Die wandernden Indianer waren auf der Suche nach jungen guten Maultieren, die auf den großen und kleinen Farmen im Süden gezüchtet wurden. Sie kauften die Mules auf, wenn sie noch so jung waren, dass sie gerade eben begonnen hatten, sich ihr Futter selbst zu suchen und von ihrer Mutter entwöhnt waren. Dann waren die Tiere am billigsten. Und nur zu den denkbar billigsten Preisen konnten die Indianer kaufen, wenn jeder einige Tiere mit sich heimbringen wollte. Denn Geld war bei ihnen eine rare Sache. Sie unterschieden sich hier nicht von der Mehrzahl der Menschen, die nicht Indianer sind.
Diese jungen Maultiere waren nicht so leicht zu kaufen, wie das wohl scheinen möchte.
Die kleinen Farmer und Siedler, erst recht die großen Haciendabesitzer, verkauften die jungen Mules nicht sehr willig, weil sie gedachten, die Tiere selbst aufzuziehen. Es waren nur die kleinen Farmer, und hier zumeist Indianer, die gelegentlich ein junges Tier verkauften, wenn sie dringend flüssiges Geld gebrauchten. Ein junges Mule brachte freilich zehnmal, oft zwanzigmal mehr Geld als ein Schwein. Die einkaufenden Indianer zogen zuweilen eine volle Woche lang von einer Ranch zur andern, ohne auch nur ein Tier kaufen zu können. Entweder war der verlangte Preis höher, als sie für das Tier ausgeben konnten, oder der Eigentümer wollte nicht verkaufen, oder sie trafen überhaupt keine Tiere an. Dann kam es auch wohl wieder vor, dass sie drei und vier Tage in einer Rancheria verweilten, wo ein Tier oder gar mehrere waren, die sie gern gekauft hätten, wo aber die Eigentümer sich nicht zum Verkauf entschließen konnten.
Es wurde dann vier Tage lang, vom ersten Morgenschimmer bis in die Nacht hinein, verhandelt und geredet, und am Abend des vierten Tages waren dann vielleicht die Aufkäufer genau ebensoweit wie in der ersten Stunde ihrer Ankunft, und die vier Tage waren verloren.
Der Eigentümer wollte halb, und halb wollte er nicht verkaufen. Dann traf es sich manchmal, dass am nächsten Morgen, wenn die Indianer endlich weiterziehen wollten, sich der Eigentümerin der Nacht zum Verkauf entschlossen hatte. Und nun begann das Herumhandeln an den Preisen, das zuweilen auch wieder drei oder vier Tage dauerte.
Oft hatten die Indianer Glück. Sie trafen ein junges schönes Tier an, das unverkäuflich schien. Aber während sie auf der Ranch herumlungerten und sich mit dem Abmarsch verzögerten, kam ein Händler an, der auf dem Rancho seine Waren auslegte und anbot.
Da waren schöne Kleiderstoffe und Hemdenstoffe, Stickereien und Spitzen, elegante Lackschuhe, herrliche bunte
Seidenbänder, große glitzernde Ohrringe, da war ein wundervoll gepunzter Patronengürtel, da gab es blanke Revolverpatronen und ein stählernes Weidmesser, ein Paar große stahlblaue und versilberte Sporen, jedenfalls alles Dinge, die den Ranchero, hundertmal mehr aber noch die Ranchera, seine Frau, tief traurig machten, weil sie nicht Millionäre seien, um sich das alles auf einen Haufen kaufen zu können.
Aber da sah der Ranchero die Indianer stehen, die ein junges Mule kaufen wollten und das bare Geld gleich bei sich trugen, um das Mule sofort zu bezahlen, und da sah er seine Frau, wie sie ihn anlachte, so wie sie ihn nur angelacht hatte, ehe er sie geheiratet hatte. Und sie kam zu ihm heran und kuschelte sich in seinen Arm. Eine halbe Stunde darauf waren die Indianer Eigentümer des jungen schönen Mules, und drei Stunden später war der Händler der Besitzer des Geldes, das die Indianer dem Ranchero für das Mule bezahlt hatten. Tausendmal mehr Geld gelangt in den Kreislauf durch Gelegenheit als durch Notwendigkeit.
Hunderte von Kilometern nach jeder Richtung in jener Region zogen die Indianer, um junge Mules aufzukaufen. Sie waren oft Monate auf ihrer Wanderung, ehe sie so viele Tiere beieinander hatten, wie sie mit ihrem Gelde kaufen konnten. Sie zogen nicht früher heim, als bis sie alles Geld für junge Mules ausgegeben hatten.
War ein Tier gekauft, so schrieb ihnen der bisherige Besitzer den Kaufbrief aus, in dem die Brandmarke des Tieres, seine Farbe, seine besonderen Merkmale und der bezahlte Preis angegeben waren. Dann gingen die Indianer zum nächsten Presidente de Municipalidad, zu dessen Amtsbezirk der Rancho gehörte.
Hier bezahlten sie die Steuermarken für den Kaufbrief, entrichteten die Municipalidad-Gebühr für den Verkauf von Tieren, und der Presidente bestätigte ihnen dafür durch Stempel und Unterschrift den Kaufbrief.
Die Indianer nahmen jedes Tier, das sie gekauft hatten, gleich mit sich, und sie ließen es nicht, wie das zuweilen geschieht, noch einige Wochen auf der Weide, wo es geboren war, zurück.
Sie waren sehr vorsichtige Leute, die niemandem, der nicht ihres Stammes war, weiter trauten, als sie ihn gerade noch am Ärmel festhalten konnten. Nicht aus Instinkt heraus waren sie so misstrauisch, sondern sie waren es geworden, und es war ihnen von ihren Vätern und Müttern aus schweren Erfahrungen heraus gelehrt worden.
Die Tiere hatten von nun an den Marsch mitzumachen. Sie wollten meist nicht gehen; denn sie waren nicht gewohnt, ohne ihre Mutter zu trotten. Es erforderte besondere Mühe und viele geübte Kniffe, die Tiere zum Alleinlaufen zu bringen. Sie mussten ständig bewacht werden, um zu verhindern, dass sie ausbrachen und sausend heimgaloppierten zu ihrer Mutter.
Wurde die Zahl der angekauften Tiere größer, so dass sich eine kleine Herde bildete, dann wurde es mit jedem Tage leichter, die Tiere zusammenzuhalten und vorwärts zu bringen. Die jungen Tiere verloren dann bald die Erinnerung an ihre Heimatranch, und sie begannen sich in der Gemeinschaft ihrer Schicksalsgefährten recht wohl zu fühlen. Ob ein Tier ausbrach oder bockte oder um sich schlug oder biss, die Indianer verloren nie die Geduld mit ihnen. Sie hieben nicht auf die Tiere los, und sie stießen sie nicht. Ein junges Mädchen kann ein kleines Lämmchen nicht zärtlicher behandeln, als die Indianer mit ihren jungen Tieren umgingen.
Jeder Indianer hatte einen großen Packen zu tragen, in dem er die notwendigsten Dinge für seine lange Wanderung mit sich schleppte. In Herbergen und Fondas konnten sie nicht wohnen. Dazu reichte ihr Geld nicht. Sie lagerten entweder am Wege, oder sie schliefen im Portico eines Ranchos, in dessen Hofe sie ihr Lagerfeuer die volle Nacht hindurch brennen hatten. So groß und so schwer auch die Packen waren, die jeder einzelne trug, keiner der Indianer kam je auf den Gedanken, während der langen und ermüdenden Tagesmärsche den jungen Mules auch nur ein kleines Säckchen aufzuladen. Die Tiere marschierten frei und ungezwungen, unbelästigt von irgendwelcher Arbeit.
Mit diesem Freihalten der Tiere von Arbeit und von Zwang begann bereits das Trainieren. Man vermag sich kaum bessere Trainer von Maultieren vorzustellen, als es diese Indianer waren. Sie hatten eine Geduld, eine Langmut und eine Güte für diese jungen Tiere, wie sie Gott im Himmel für die geplagten Menschen auf Erden nicht aufzubringen vermag. Denn er muss bestrafen und züchtigen mit Krankheiten, mit Pestilenzen, Erdbeben und Kriegen.
Kamen die Indianer mit ihrer Herde junger Mules endlich in ihrer heimatlichen Region an, dann wurden zuerst die Hufe untersucht, um brüchige und wund gewordene Stellen auszuheilen. Gleichzeitig wurden Wunden ausgeheilt, die von Insekten oder von Rissen dorniger Gesträucher herrührten.
Dann begann für die Tiere ein paradiesisches Leben.
Tag und Nacht waren sie auf den Weiden, wo sie sich tummeln konnten nach ihrer Lust. jede Woche bekamen sie eine Handvoll Mais, um sie an Mais zu gewöhnen. Sie bekamen ihr Salz und wurden von eingebissenen Zecken gereinigt.
Bei einigen Stämmen waren die Tiere vom gemeinsamen Geld der Kommune aufgekauft worden, und beim Verkauf der Tiere erhielten alle Gemeindemitglieder den gleichen Anteil an der Summe. Bei anderen Stämmen waren die Tiere von dem Gelde einzelner Mitglieder gekauft worden, und sie blieben das Eigentum dessen, der das Tier mit seinem Gelde gekauft hatte, aber die Tiere wurden von den Männern, die Eigentum an den Tieren besaßen, gemeinsam gepflegt und trainiert.
Hatten die Tiere dann endlich ein Alter von zwei Jahren erreicht, begann die eigentliche Schulung, die ihnen ihren vollen Wert geben sollte.
Diejenigen Tiere, die eine besonders schöne Farbe hatten, schöne und gefällige Formen aufwiesen und gute Läufer zu werden versprachen, wurden zu Reitmules herangedrillt. Die übrigen wurden Tragmules.
Die Tiere wurden mit unendlicher Geduld daran gewöhnt, durch zähen Schlamm zu waten. Dieser zähe Schlamm jener Gegenden ist die Furcht und vielleicht der Alpdruck der Mules. Die Tiere fürchten, in dem Schlamm völlig zu versinken, weil der Boden unter ihnen fortgeht. Sie fürchten, sich nicht mehr herausziehen zu können oder bei Versuchen, sich herauszuziehen, ihre Beine zu brechen. Das völlige Versinken der Tiere in dem Schlamm und das brechen der Beine geschieht in der Tat häufig genug, und der Reiter, der nicht rasch genug abspringen kann und einen Ast oder einen Stein erwischt, gelangt oft in Gefahr, mit dem Tier zu versinken. Aus diesen Gründen fürchten die Tiere diesen entsetzlichen breiigen Schlamm instinktiv mehr als steile und brüchige Wege durch Schluchten und über Pässe. Die Tiere an den Schlamm zu gewöhnen und sie zu lehren, dass der Schlamm unten meist eine feste Erdschicht oder Felsenschicht hat, die die Tiere vor dem Versinken schützt, ist eine der schwierigsten Aufgaben.
Die Tiere wurden gedrillt, stets geradeaus zu gehen, in Gruppen oder allein, wenn sie einen Reiter oder eine Last trugen. Sie wurden erzogen, stehenzubleiben, wenn das Gleichgewicht der Last sich verschob oder wenn die Gurte sich lösten und die Last abrutschte. Sie wurden gewöhnt, stehenzubleiben auf Zuruf und weiterzugehen auf Kommando.
Für gute Reitmules erzielten die Indianer, wenn die Tiere nach drei Jahren auf den Kaffeepflanzungen zum Verkauf angeboten wurden, oft das Zehnfache des Preises, den sie ursprünglich dafür angelegt hatten. Lastmules, gut trainiert, brachten das Sechsfache und Achtfache des angelegten Geldes.
In dem Staate, wo weder Eisenbahn ist noch gute Straßen einen Autoverkehr oder selbst einen Wagenverkehr ermöglichen, ist immer und ständig Bedarf an guten Mules, und immer sind die Preise für gute Reitmules oder Tragmules sehr hoch.
Da gut gepflegte und nicht unausgesetzt überarbeitete Mules ein arbeitsfähiges Alter von zwanzig, sogar von fünfundzwanzig Jahren erreichen können, ist ein gutes Mule für seinen Besitzer nie zu teuer eingekauft, wie hoch auch der Preis sein mag; denn das gut gepflegte Tier bringt infolge der hohen Frachten jener Regionen seinem Besitzer guten Gewinn. Das Mule ist bei weitem stärker, ausdauernder und widerstandsfähiger gegen Krankheiten und Klima als das beste Pferd. Ein gutes arabisches Rassepferd geht in jenen Regionen in zwei Monaten zugrunde, und es ist darum wertlos, wie hoch es auch sonst irgendwo eingeschätzt werden mag.
Die Indianer hatten in diesem Geschäft der Trainierung von Mules nur dann Verluste, wenn die Tiere vorzeitig starben oder von einem Tiger gerissen wurden, oder wenn sie hässliche Geschwülste infolge von Schlangenbissen und Insektenstichen bekamen oder, und auch das kam vor, wenn die Tiere auf kein noch so geduldiges und geschicktes Trainieren antworteten, oder wenn sie, aus irgendwelchen Gründen, nicht zu voller Stärke heranwachsen wollten.
Dieses Heranzüchten von Mules bot jenen Indianern, die in unabhängigen Gemeinden auf sehr magerer Erde wohnten, ein erträgliches Leben, das sie zufrieden stellte und sie glücklich machte. Der Indianer findet im Umgang mit Tieren und in der Umgebung von Blumen eine so tiefe Lebensbefriedigung, wie sie von einem Nichtindianer wohl kaum verstanden und erfühlt werden kann. Außer Mules züchteten jene Indianer Schafe, deren Wolle sie zu Decken verwebten und zu Bändern, mit denen die indianischen Frauen anderer Regionen ihr Haar aufflechten.
Dieses Geschäft des Verwebens von Wolle half die Leute wirtschaftlich über die lange Zeit hinweg, in der die Mules heranwuchsen und trainiert wurden.
In einigen anderen Gemeinden derselben Region, wo die erforderlichen Palmen gefunden wurden, flochten die Leute in der langen Zwischenzeit Hüte und Matten, und wieder in anderen Orten, wo Tonerde sich vorfand, fertigten die Männer Töpfe und Schüsseln und Spielzeuge für indianische Kinder.
Müßig ging auch nicht einer, ganz gleich, ob er Häuptling oder Cacique war oder nur ein gewöhnliches Mitglied seiner Gemeinde. Denn nach Ansicht ihrer Rasse war Müßiggehen unmoralisch und gegen die Sitte ihres Volkes.

 

2

Eine solche Gruppe von Indianern, die im Süden junge Maultiere aufkaufen wollte, war es, die auf einem schmalen Buschpfade daherwanderte.
Sie liefen in einem gleichmäßigen halben Trab. Alle waren barfüßig. Ihre Sandalen, die sie nur für steinige Wege und für solche Pfade gebrauchten, die von abgebrochenen dornigen und stachligen Ästen bedeckt waren, trugen sie aufgebunden oben auf ihren Packen. Das Leder für Sandalen war teuer genug. Darum mussten die Sandalen gespart werden, wo das nur immer der Weg zuließ. Auf den schlüpfrigen und steilen Buschpfaden ließ es sich aber auch besser laufen und leichter klettern mit nackten Füßen.
Die Männer waren ziemlich nackt. Ihre weißen Baumwollhosen hatten sie bis weit über die Mitte des Oberschenkels aufgeschlagen. So gab es keinen Aufenthalt, wenn Bäche und Flüsse durchwatet werden mussten, und der Stoff verwitterte nicht so rasch in der glühenden Sonne, wenn er der Sonne nicht an allen Stellen ausgesetzt war. Der Oberkörper war völlig nackt.
Sie trugen ihren schweren Packen, den Tragegurt über die Stirn gelegt, auf dem nackten Rücken, gegen ein sorgfältig gefaltetes Rehfell oder Ziegenfell gepresst. So schonten sie ihre weißen Baumwolljacken, die von jenen schweren Packen in einem Marschtage durchgerieben worden wären.
Ein kurzes Wort, das der Älteste und Erfahrenste der Gruppe, der den Weg gut kannte, weil er ihn viele Male gegangen war, laut ausrief, bewog die Männer, sich ein wenig mehr in Trab zu legen. Die Packen, von denen jeder sicher vierzig Kilo wiegen mochte, schienen die Leute kaum zu beachten.
Die Sonne war am Untergehen.
Die Männer wollten vor Einbruch der Dunkelheit die Carretera, die Staatsstraße, auf der die Carretas fuhren, erreichen. Sobald die Sonne fort war, war im Busch auch gleich tiefe Nacht. Und selbst Indianer geben es auf, in der Nacht durch den Busch zu wandern, wenn es nicht in größter Nähe ihres Ortes sein kann, wo sie jeden Stein und jeden Strauch kennen.
Auf der Carretera dagegen lässt es sich auch nachts noch genügend gut wandern, wenn der Himmel sternenklar ist.
Es gelang ihnen, mit dem letzten Schimmer des versinkenden Tages die Straße zu erreichen. Hier ruhten sie eine Weile, sich am Rande des breiten Weges hinsetzend, ohne die Packen abzulegen. Sie lehnten sich beim Rasten nur weit zurück, so dass der Packen auf dem Boden ruhte. Eine kurze halbe Stunde darauf waren sie in Niba, wo sie auf der weiten, mit Gras bedeckten Plaza, einige dreißig Schritte von der Kirche entfernt, ihr Campfeuer anbliesen und ihr Abendessen zu kochen begannen.

 

3

Auf der gegenüberliegenden Seite der Plaza, näher zum Cabildo hin, dicht bei dem uralten gigantischen Baume, der in der Mitte der Plaza steht, noch von alten indianischen Zeiten her, lag eine Karawane von Carretas in Ruhe. Die Carretas waren in Reihe aufgefahren.
Die Ochsen, schwer und mächtig gleich jungen Elefanten, waren ausgespannt und lagen, wiederkäuend und ihre Ruhe behäbig und wohlig auskostend, verstreut über der Plaza.
Die Carreteros hockten bei ihren Feuern.
Sie hatten bereits abgekocht, gegessen und saßen nun rauchend und müde miteinander schwatzend herum, zufrieden, dass sie einmal keine Radbrüche und Deichselzersplitterungen auszubessern hatten.
Als echte Carreteros konnten sie es jedoch nicht unterlassen, schon jetzt wieder von der Arbeit des kommenden Tages zu reden, von den morastigen Strecken, die sie morgen zu überwinden haben würden, und welche von den Carretas dabei wohl zusammenbrechen könnten.
In dieser Weise machten sie sich oft ihre an sich schon genügend harte Arbeit doppelt hart und sauer, dass sie schon immer vorher darüber sprachen und im Schlafe auch noch davon träumten.
Das gemeinsame Los aller Proletarier. Weil sie sowenig Übung darin haben, ihre Gedanken mit anderen und schöneren Dingen zu beschäftigen, darum beschäftigen sie sich im Wachen und Schlafen mit den Schwierigkeiten ihrer Arbeit und mit den Nöten ihres Lebens. Darum werden sie ihre Arbeit und ihre Nöte nicht einmal am Sonntag los, weil sie schon am Sonntagmorgen beginnen, über den folgenden Montag nachzudenken, und sich vordem   nüchternen   und   kalten   Montag   fürchten   und erschrecken.
Der Führer der Karawane hatte angeordnet, dass sie gleich nach Mitternacht aufbrechen wollten, um die kühlen Morgenstunden voll auszunutzen; denn für morgen war ein klarer, windstiller und darum sehr heißer Tag, mit Schwärmen von wilden Bremsen, zu erwarten.
Die Karawane, jede einzelne Carreta bis obenhin voll geladen mit Gütern, die von der Eisenbahnstation in das Innere des Landes geschafft wurden, gehörte Don Laureano.
Der Karawanenführer, dem sein Herr diese reiche Karawane anvertraut hatte, war Andres. Bei sich hatte Andres seine Frau Estrellita, das Sternchen.

 

4

Andres, nachdem er den Rest der Zigarette, die er rauchte, fortgeworfen hatte, gedachte sich zum Schlafen niederzulegen. Er hatte bereits unter einer Carreta ein weiches Lager für Estrellita hergerichtet und für sich selbst dicht dabei einen Petate ausgebreitet. Aber weil er für das Wohl der Karawane seines Herrn verantwortlich war und weil ihm sein Herr für dieses Verantwortlichsein jetzt den Lohn von einundzwanzig Pesos im Monat bezahlte, ging Andres, ehe er sich zur Ruhe legte, erst noch einmal auf der Plaza herum, um zu sehen, ob die Burschen bei ihren Carretas schliefen, damit nichts gestohlen würde während der Nacht. Er beobachtete die Ochsen, ob sie ruhig waren und nicht etwa Neigung zeigten, nachts auszubrechen und die Maisfelder der kleinen Farmer zu verwüsten oder gar weiter abzuschweifen und sich im Busch zu verlieren.
Als Andres, begleitet vom Sternchen, die weite Plaza lässig abschlenderte, um die Ochsen abzuzählen und festzustellen, dass sie alle vollzählig in der Nähe seien, kam er zu dem Feuer, an dem die Gruppe der Indianer hockte, die auf dem Marsch in die südlichen Regionen war, um junge Mules aufzukaufen.
Auch die Indianer hatten bereits gegessen. Einige lagen lang ausgestreckt mit den Füßen zum Feuer.
Andere saßen herum und rauchten und schwatzten.
Andres fing einige Worte auf, und er hörte, dass sie seine Muttersprache redeten.
»Buenas noches«, rief er sie an. »Seid ihr in der Region von Baschaion daheim?« fragte er dann in Tseltal.
»Wir haben da in jenem Distrikt unsern Pueblo«, antwortete eine. »Aber wir wohnen nicht in der Nähe von Baschajon. Wir wohnen weiter fort, näher dem großen Dschungel zu.«
»Ich bin von der Finca Lumbojvil«, stellte sich nun Andres vor. »Und hier, Estrellita, meine Frau, die mit mir ist, die ist auch aus der Gegend da, aber mehr nach dem Wege auf Tsimajovel zu.«
Estrellita stand zwei Schritte weiter zurück.
Es ist nicht die Sitte indianischer Frauen, in die Nähe von Männern zu gehen und sich in deren Gespräch in irgendeiner Weise einzumischen.
Dort, wo sie stand, blieb sie stehen. jedoch war es natürlich, dass sie sich begierig zeigte, ein wenig von der Heimat zu hören, auch wenn sie wohl nichts mehr mit jener Heimat verband. Ihre ganze Heimat war nun Andres geworden.
Dass sie einiges hören wollte, war mehr nur der Neuigkeit wegen; denn seit sie von ihrer Finca entlaufen war, um den Hässlichkeiten des Sohnes des Finqueros zu entgehen, hatte sie nie mehr etwas aus jener Gegend vernommen und niemand aus jener Region irgendwo angetroffen.
»Wo geht ihr denn hin des Weges?« fragte Andres, sich am Feuer niederhockend und sich mit einem glimmenden Ästchen, das er aus dem Feuer zog, eine neue Zigarette anzündend.
»Wir sind auf dem Wege, um junge Mules einzukaufen«, sagte einer der Männer.
»Mules sind hier sehr sehr teuer«, erklärte Andres.
Der Tate der Indianer, der Älteste und Führer, lachte: »Für so dumm wirst du uns gewiss nicht halten, mein kleines Schäfchen, dass du glaubst, wir würden hier Mules einkaufen. Ich habe das Geschäft nun schon viermal getan, seit ich mein erstes bares Geld auf der Kaffeepflanzung eines Amerikaners in Soconusco verdient habe und mir die ersten zwei Mules kaufen konnte, mit denen ich begann. Nein, Muchachito, wir gehen hinunter bis zur Eisenbahnlinie und dann noch weiter, bis zu den Lagunen an der Küste des Meeres, wo die Pescadores wohnen, die Fischerleute. Dann wandern wir immer entlang durch alle Distrikte nahe der Bahn. Dort braucht man keine Mules, weißt du, mein Jungchen.
Denn wo eine Bahn ist, da wird alles mit der Bahn befördert. Aber das ist die richtige Gegend für uns. Denn dort haben die Leute häufig junge Mules, aber sie wollen die jungen Tiere am liebsten schon immer gleich verkaufen, wenn sie kaum ausgekrochen sind. Denn siehst du, die Leute da unten an der Bahn, die brauchen immer und immer Geld, weil sie immer und immer etwas sehen, was sie kaufen und haben wollen, ob sie es nötig haben oder nicht. Und das ist sehr gut für uns, sonst wäre es schwer, genügend junge Tiere aufzukaufen, dass sich die langen Märsche auch lohnen.«
»Seid ihr auf eurem Wege durch Lumbojvil gekommen?« fragte Andres.
»Wir haben dort übernachtet«, sagte einer der Männer, während er im Feuer herumschürte.
»Sagtest du nicht, du seiest von Lumbojvil?« fragte Lazaro, Andres aufmerksam ansehend.
»Ja, das bin ich«, bestätigte Andres, »ich bin von Lumbojvil, meine Leute wohnen noch da, so denke ich.«
Er hatte in jener Frage bereits herausgehört, dass Lazaro bereit sei, gewisse Neuigkeiten zu erzählen, die ihn interessieren möchten. Lazaro nahm einen flammenden Ast aus dem Feuer und leuchtete Andres damit näher ins Gesicht.
»Jetzt kenne ich dich wieder«, sagte Lazaro. »Du bist ein Sohn vom Criserio, der dort auf der Finca lebt, der Sohn vom Criserio Ugaldo.«
»Das ist mein Vater. Du hast recht. Wie geht es ihm? Und der Mutter und allen im Hause?« fragte Andres.
Lazaro antwortete darauf nicht. Er umging die Frage dadurch, dass er nachdenklich Tabakblätter rupfte, sie in der Hand rollte, ein Deckblatt aussuchte und sich dann langsam und andächtig eine Zigarre arbeitete, die, als sie endlich fertig war, eine Länge von zwölf Zoll und eine Dicke von zwei Zoll hatte.
Andres bekam ein merkwürdiges Gefühl irgendwo in sich, als er die Zigarre sah. Er war jetzt zehn Jahre von der Heimat fort. In dieser Zeit war er völlig mexikanisiert worden. Er sprach gut und fließend Spanisch, mit dem eigentümlichen unschönen Dialekt, wie er in diesem fernen Südstaate der Republik gesprochen wird. Dass dieser Dialekt unschön war und das wohltönende Spanisch, das in Mexiko im allgemeinen geredet wird, unangenehm verstümmelte, konnte er freilich nicht wissen, weil er bisher keine Gelegenheit gehabt hatte, diesen Dialekt mit dem Spanisch in den Zentralstaaten oder gar in Durango zu vergleichen. Er hatte in diesen zehn Jahren aber nicht nur Spanisch gelernt und Lesen und Schreiben und notdürftig Rechnen, sondern er hatte sich auch an die Gewohnheiten der Ladinos, der Mexikaner, gewöhnt. Er selbst freilich konnte jenen Gewohnheiten nicht nachleben, er führte das magere und harte Leben der Carreteros, die ewig mit ihren Karawanen auf den gott- und ingenieurverlassenen Wegen des Staates liegen. Und er hatte sich an die Zigarren gewöhnt, die er in den Tiendas der Städte feilgeboten sah, Zigarren von einer Form und Größe, wie sie überall in der zivilisierten Welt bekannt sind. Er selbst freilich konnte sich keine Zigarren kaufen. Sie waren für ihn zu teuer. Er musste sich an die billigsten Zigaretten halten, die er sich selbst rollte. Als er nun diese mächtige Zigarre vor sich sah, tauchte seine Heimat so deutlich vor seinen inneren Augen auf, dass er glaubte, seinen Vater vor sich sitzen zu sehen, mit einer solchen mächtigen Zigarre in den Fingern. Denn im Rauchen und in den Formen der Zigarren hatten die Baschajonen die uralten Gewohnheiten der Carribe-Indianer übernommen, vielleicht schon vor zweitausend Jahren. Und Andres' Vater rauchte nur Zigarren dieser Größe, die er sich selbst drehte, wie alle Männer seines Volkes in jener Region.
Während nun Lazaro so mit großer Sorgfalt sich seine Zigarre drehte und das mit einer Miene tat, als habe er Andres' Frage überhört, sagte ein anderer Indianer, Emilio: »Ich kenne deinen Vater Criserio auch sehr gut, auch deine Mutter und alle deine Leute. Ich habe vor zwei Jahren fünf kleine Schweinchen von ihm gekauft. Aber ich musste das Geld dafür an den Finquero bezahlen, weil dein Vater bei ihm Schulden hat. Ich habe jedoch deinem Vater einen Peso still gegeben, was der Finquero nicht sah, sonst hätte er diesen Peso auch noch haben wollen. Dieser euer Finquero ist ein Böser, chingarse a el y su matricula, verdammt und verflucht noch mal. Wie heißt er? Ja, Don Arnulfo. Ja, so heißt er, Don Arnulfo. Er müsste Gierwolf heißen.«
»Bei uns im Pueblo sagen wir, dass Don Arnulfo einen Jaguar zum Vater gehabt haben muss«, sagte Lazaro.
»Und einen stinkenden Coyote zur Mutter«, fiel Emilio ein.
Lazaro hatte seine Zigarre endlich so weit fertig, dass sie seine Zustimmung und Anerkennung zu finden schien. Er leckte an ihr von allen Seiten herum, mit der Zärtlichkeit eines echten Genießers, und er schmatzte mit den Lippen, als wolle er die Zigarre nicht rauchen, sondern langsam essen.
Als er nach geraumer Zeit die Zigarre endlich angezündet hatte und auch das mit genügender Andacht vollbracht sah, blies er einige dicke Rauchwolken weit vor sich hin, den Kopf dabei zurücklegend und die Augen blinzelnd zukneifend, um jede Faser des Genusses auszukosten. Nachdem er mehrere Züge getan hatte, sah er Andres lange an und ließ seinen Blick an dem jungen kreisend herumschweifen, als wolle er seinen Wert abschätzen.
Andres sah ins Feuer.
Er wusste nun bereits, aus allen seinen Gefühlen heraus, dass im väterlichen Hause etwas nicht so war, wie er gehofft hatte, dass es sein sollte.
Aber er drängte nicht, weil er wusste, wenn Leute seines Volkes die Zeit für richtig halten, dann sagen sie, was gesagt werden muss. Sie sind keine Schwätzer, die ihre Worte hinauszwitschern, ehe der Gedanke auch nur angefangen hat, sich zu formen.
»Wie viel verdienst du denn hierbei den Carretas?« fragte Lazaro.
»Siebzig Centavos den Tag und die Rationen für das Essen«, antwortete Andres.
»Verdient deine Frau auch hier?«
»Nein. Ich kaufe ihr alles, was sie braucht, von meinem Gelde. Aber sie ist so genügsam wie ein kleiner Vogel, sie braucht nicht viel.«
»Siebzig Centavos den Tag«, wiederholte Lazaro langsam, als wolle er diesen Wert mit einem anderen Wert, den er in Gedanken hatte, vergleichen. »Siebzig Centavos. Das ist gottverdammt wenig. Da kannst du deinem Vater nicht aus der Schiet helfen. Gottverflucht noch mal. Da sind mehr als hundert nötig, ich weiß nicht wie viel Pesos mehr!«
Andres schreckte zusammen. Er schluckte und würgte, und er konnte den Mund nicht öffnen. Seine Lippen krampften sich ineinander.
Lazaro schob einige Äste tiefer in das Feuer. Er kniff die Augen dicht zu, weil ihm eine Welle grünen Rauches in das Gesicht wehte.
Estrellita hatte sich, im Rücken Andres', etwa fünf Schritte von ihm entfernt, auf den Erdboden gekauert, weil sie fühlte, dass die Unterredung der Männer am Feuer länger dauern würde, als es bei der ersten Begrüßung geschienen hatte.
Keiner der Männer beachtete sie oder rief sie an, näher zum Feuer zu kommen. Es geschah dies nicht aus irgendeiner Missachtung dem Mädchen gegenüber, sondern einfach darum, weil jeder dachte, es stehe dem Mädchen ja frei, sich neben ihrem Mann am Feuer niederzuhocken, wenn sie das Verlangen dazu in sich fühle.

 

5

Andres hatte sich, während der vorangegangenen Gespräche, mehrere Male nach seinem Sternchen umgesehen und ihr lachend zugenickt, um sie wissen zu lassen, dass er sie nicht vergäße.
Jetzt, in seiner tiefen Erschrecktheit, als sein Mund die Fähigkeit verloren zu haben schien, ein Wort zu bilden, wandte er sich nach ihr um. Er tat es unbewusst und ohne seinen Willen, als ob er von ihr eine Bestätigung erwarte dessen, was er soeben gehört hatte, und als ob dort, allein bei ihr, die Erlösung aus der schmerzhaften Pein ruhte, in der er sich in dieser Minute befand.
Die Männer am Feuer hatten nur halblaut gesprochen. So konnte Estrellita keinen Zusammenhang der Reden für sich bilden, weil es immer nur einzelne Worte waren, die sie, ohne ernsthaft zuzuhören, auffing.
Als sich Andres nun nach ihr umwandte, nickte sie leicht, und sie lachte ihm zu. Da ging etwas Merkwürdiges in Andres' Seele vor sich.
Er sah sein Sternchen nicht fünf Schritte von ihm nur entfernt, sondern so weit, als ob sie am gegenüberliegenden Ufer eines Meeres säße. Und mit dieser eigentümlichen Gesichtstäuschung zugleich stieg in seinem Herzen die Gewissheit auf, dass er sein Sternchen verloren habe.
Was halfen ihm jetzt in seiner Not die Heilige Jungfrau und der heilige Antonio! Was taten für ihn die Kirche und der ehrwürdige Papst in Rom! Sie ließen ihn allein in seinem Weh.
Er schüttelte sich im Hals, als säße ihm das Würgen zu fest. Dann atmete er tief und fragte: »Wie meinst du das, Hombre, meinem Vater helfen?«
Lazaro ließ seinen Blick nicht vom Feuer. Für eine lange Weile. Dann reckte er sich in seinen Schultern.
Er sah seine Weggenossen an. Als er fand, dass sie alle ins Feuer blickten, einige darin herumschürten, andere Holz nachschoben und alle sich zu beschäftigen schienen, um zu vermeiden, dass Andres einen Bestimmten beim Namen anreden möchte und fragen könnte, wurde er nur noch unsicherer.
Er druckste unbestimmt herum, hielt seine Zigarre dicht an eine glimmende Kohle, obgleich die Zigarre kein Neuanzünden benötigte, und - sagte nichts. Dann sprach Emilio hart und barsch:
»Was hat es Sinn, so um die Antwort herumzukriechen? Unsere Schuld ist es nicht, dass wir dich hier getroffen haben. Wir haben dich nicht gesucht. Du bist uns von selbst in den Weg gekommen. Wir haben keinen Auftrag, dir Nachrichten zu bringen.«
»Freilich nicht«, sagte Andres. »Freilich habt ihr keinen Auftrag dazu. Aber es ist doch mein Vater, um den es geht. Und ich habe so viele Jahre nichts von ihm gehört.«
Wie gleichgültig sagte nun Emilio: »Es ist das: Don Arnulfo, der Finquero deines Vaters, hat deinen Vater in die Monteria verkauft. An einen Agenten. Ich denke, er heißt Don Gabriel. «
Wohl für mehrere Minuten blieb Andres sitzen, als wäre er gelähmt.
Als seine Gedanken wieder begannen, geregelt zu arbeiten, war das erste, was er dachte, auf schnellstem Wege heimzurennen und Don Arnulfo zu ermorden.
Dieser Gedanke jedoch verwehte rasch, weil ihm, noch im Entstehen des Gedankens, zur Klarheit kam, dass Ermorden keine Strafe für Don Arnulfo sei und dass er durch eine solche Tat seinem Vater keine Hilfe geben könnte, sondern dessen Lage dadurch nur trostloser werden würde.
Er schrie nicht auf, als sich ihm, Stück um Stück, die Schwere der Not seines Vaters in das Bewusstsein eindrängte.
Leise, kaum hörbar für die Männer, die bei ihm saßen, sagte er, wiederholend und wiederholend: »In die Monterias verkauft, meinen Vater. Meinen Vater in die Monterias verkauft, weil ich nicht daheim war, ihm zu helfen, seine Schulden abzuarbeiten.« Während nun seine Gedanken heiß durcheinander schwirrten, erinnerte er sich des Tages, an dem er seinen Vater zum letzten Male gesehen hatte. Es war der Tag, an dem ihm sein Vater einen Petate, eine Bastmatte, gekauft hatte und eine Wolldecke, damit er nicht frieren sollte bei dem Herrn, dem er diente, der ihm keinen Lohn zahlte und nur das magere Essen gab und der ihm den Petate und die Decke hätte kaufen müssen, weil er ja bei ihm Wohnung und Kost hatte und weil er sein Patron, sein Dienstherr, war. Aber es war sein armer Vater, der diese Dinge für ihn kaufte, weil er seinen Jungen nicht leiden sehen konnte. Dem Dienstherrn war es gleichgültig, ob der Junge fror oder erkrankte oder starb. Es gab Hunderte dieser Indianerjungen, die nichts kosteten und denen man keinen Lohn zahlte und für ihre Arbeit ein wenig Essen hinschob wie den Hunden des Hauses. Sein Vater hatte den Petate und die Decke auf Konto bei dem Finquero, bei dem er Peon war, nehmen müssen, wodurch sich seine stehende Schuld erheblich vergrößerte.
Als Andres dann Abschied von seinem Vater nahm, um wieder zurückzukehren in seinen Dienst, sagte sein Vater kein Wort, keine Träne kam ihm in die Augen. Er sah seinen Jungen, der fortzog, an, wie er ihn nie vorher angesehen hatte. Alle die tiefe Liebe, die der Vater für seinen Jungen empfand und die auszudrücken er als Indianer sich schämte, alle die scheue Hochachtung, die ein Indianer für seinen Jungen fühlt, die verknüpft ist mit dem Mysterium, dass für den Vater der Junge ein Glied in der von Ewigkeit zu Ewigkeit reichenden Kette der Generationen als Träger und Fortpflanzer der Familiencharakteristik ist und dass er, der alternde Mann, sich verjüngt und nach seinem Tode weiterlebend weiß in seinem Jungen, alles das lag in den Augen des Vaters, als er den Sohn beim Abschied ansah. Nur der Indianer, langsam und bedächtig in seinen Worten und unwillig im Ausdruck seiner Empfindungen, vermag eine ganze volle Religion und Lebensphilosophie in seinen Blick zu legen, und nur wieder ein Indianer ist fähig, diesen Blick richtig zu lesen und zu verstehen in allen Zeiten, die dem Blick vorangingen, und in allen Zeiten, die dem Blick folgen werden.
Diesen Blick seines Vaters, den Andres nie vergessen hatte und in sich trug wie ein ewig klingendes Heimatlied, hatte er jetzt vor seinen Augen.
Ihm war, dass dieser Blick seines Vaters in dem glimmenden Feuer vor ihm lag, wo er in jeder feurigen Kohle glühte. Ihm war, dass der Blick auf den Gesichtern der Männer ruhte, wo er sich aufhellte und abschwächte, wie das Feuer aufloderte und zusammenfiel. Und ihm war, als ob der Blick seines Vaters selbst aus der tiefsten Finsternis, die über der weiten Plaza lastete, herausleuchtete wie ein erträumter Stern.
Es verging ihm eine Zeit, die ihm unzählbar und ewig schien. Dann endlich atmete er auf und wandte sich um nach Estrellita. Aber er sah sie nicht, obgleich sie dort hockte, niedergekauert, und auf ihn wartete. Er sah an ihrer Statt nur den Blick seines Vaters, der alles verlöschte, was für ihn sonst auf der Welt war, und der auf sein Inneres fiel gleich einer trauernden Sonne.

 

6

Er stand auf, mit einer schweren Geste.
Sagte: »Ich muss nach meinen Carretas gehen. Wir brechen das Lager gleich nach Mitternacht ab. Ich habe keinen Tag dreinzugeben. Habt Glück auf eurem Wege, Amigos.«
Er reichte jedem einzelnen die Hand. Wie sie es immer taten, sie berührten nur die Spitzen der Finger beim Geben der Hände. Und in diese leichte Berührung der Finger legten die Männer, gleich allen ihrer Rasse, mehr Aufrichtigkeit ihrer wahren Gefühle, als andere Menschen es tun, die sich beim Geben der Hände die Arme aus den Gelenken schütteln, weil sie immer fürchten müssen, dass der andere sonst an die Herzlichkeit und Wahrheit ihres Grußes nicht glauben würde.
Estrellita war aufgestanden, als sie sah, dass sich Andres von den Männern verabschiedete.
Er kam auf sie zu, streichelte ihr Haar und sagte: »Lass uns gehen, Sternchen, wir müssen sehr früh auf.«

 

7

In den frühen Morgenstunden gab es für die Carreteros schwere Arbeit.
Eine Wegstrecke von mehr als drei Kilometern, wo sich der Urwaldbach dicht an den Weg drängte, war tiefer Morast. Die eine Seite des Weges war hohe Felsenwand, aus der, alle zwanzig Schritte, Quellen sprudelten, die den Weg, bedeckt mit faulenden Blättern, modernden Ästen und Zweigen und dem verwitternden Kalkstaub abbröckelnder und abrieselnder Sandmassen der Felsenwand, ständig durchweicht hielten. An Stellen, wo der Weg tief lag, überschwemmte der Urwaldbach alle paar Tage den Weg so heftig, dass das Wasser nicht seitlich ablief, sondern am Wege entlang floss, den schlammigen Weg noch mehr und tiefer versumpfend. Die gewaltigen Urwaldbäume überdeckten mit ihren Kronen den Weg so dicht, dass die Sonne nicht durchdringen konnte, um den Weg auch nur einmal gründlich auszutrocknen. Darum machte diese Wegstrecke den Carretos so hart zu schaffen, dass sie nicht für eine Minute lang an irgend etwas anderes denken konnten als daran, wie sie hier ohne Radbrüche und ohne Abrutschen der Carretas und der Ochsen herauskommen würden.
Gegen neun Uhr morgens erreichten sie dann aber den guten Teil der Straße, die nun bis nach Jovel hin offen und gut blieb. Was auf dieser Straße eben gut genannt werden konnte, wäre in anderen Ländern, wo Beamte das Geld, das für Straßenbauten bewilligt und gegeben wurde, auch wirklich für Straßenbauten verwandten und nicht in die eigene Tasche steckten, schlecht genug gewesen, dass man geglaubt haben würde, es sei das letzte Stück Weg vor dem Eingang zur Hölle. Hier galten derartige minderwertige Wegstrecken aber so viel, dass man sie als Beispiel aufzeigte, um den Bewohnern des Staates anzudeuten, wie eine gutgepflegte Autostraße in der Nähe von Detroit aussehe. Freilich war diese so genannte gute Wegstrecke von einer guten Autostraße doch noch immer so weit unterschieden, wie eine Schnellzuglokomotive letzter Ausgabe sich von einem Ochsenkarren unterscheidet. Aber man hätte ohne jene Beispiele den Leuten im Lande nicht klarmachen können, dass es anderswo auf Erden, wo nur die Hälfte der Straßenbaugelder in den Taschen der Beamten und Ingenieure stecken bleibt, viele zehntausend Kilometer lange Straßen gibt, auf denen man so leicht fahren kann, dass man unverpackte Teetassen darauf befördern kann, ohne auch nur eine zu zerbrechen. Diese Musterbeispiele guter Strecken auf dieser Staatsstraße hier hatten nicht die Gouverneure gebaut, sondern die Natur. Aber die Gouverneure rechneten sich das an als eigenes Verdienst. Sie ließen durch Indianer, die zwangsweise, ohne Bezahlung, zu arbeiten hatten, diese natürlichen Wege ebnen, und sie berechneten dem Volke dann diesen Teil der Straße so, als wäre die Straße aus den Felsen herausgebrochen worden.
Als die Karawane den zerweichten Weg weit hinter sich hatte und die Sonne nun so herunterzuflammen begann, dass die Ochsen infolge der Hitze und der aufkommenden Schwärme großer Bremsen nicht mehr arbeiten konnten, ordnete Andres die Rast an.
Die Burschen spannten aus, zündeten Feuer an und kochten ihr Essen. Sie beeilten sich damit, weil sie müde waren und schlafen wollten. Es wurde unerträglich heiß; denn es war nun gegen Mittag, und die Sonne stand steil über ihnen. Und alle waren der Ruhe und des Schlafes bedürftig.

 

8

Das Lager befand sich auf einer nicht sehr großen, aber mit gutem Gras bewachsenen Fläche. Dieses Stück hatte etwa die Form eines Dreiecks.
Der von Jovel einkommende Weg traf den Lagerplatz in dem einen Winkel. Der Weg ging dann an der linken Seite des Dreiecks entlang, und er verließ diesen zweiten Winkel, um einen Berg zu umgehen.
Diesem Weg folgten die Carretas, weil der Berg zu steil und der Pfad über seinen Rücken zu eng und zu felsig war.
Die nächste Seite des Dreiecks war die untere Linie einer steilen Anhöhe, bewachsen mit knorrigen Bäumen und Büschen. Der Winkel, der dem ersten Winkel, wo die Straße von Jovel auf das Dreieck traf, gegenüberlag, ergab den Anfang eines schmalen Pfades, der sich steil auf den Rücken des Berges hinaufwand. Reiter und Maultierkarawanen zogen nicht den großen Bogen um den Berg herum, sondern kletterten auf diesem Pfade über einen sehr steinigen und gerölligen Ausläufer jenes Berges, bis sie, nach einer Stunde etwa, einen halben Kilometer vor einer kleinen Zuckerrohrpflanzung wieder den großen Weg erreichten. Die dritte Seite jener dreieckigen Weide senkte sich zu einem Abhang hinunter.
Dieser Abhang war grasig und mit Sacatonkraut, mit Büschen, Sträuchern und schlecht gewachsenen amerikanischen Fichten bedeckt. Weit unten an diesem Abhang schlängelte sich ein Bach durch dichtes Gestrüpp. Es war zum Teil derselbe Bach, der oben auf der Weide den von Jovel einmündenden Weg überkreuzte und infolge seines klaren trinkbaren Wassers den Weideplatz zu einem vorzüglichen Lagerplatz geeignet machte.
Auf der andern Seite des Baches verlor sich der Abhang in den großen Busch.

 

9

Dieser kleine Lagerplatz barg für Estrellita eine der schönsten Erinnerungen ihres bisherigen Lebens.
Es war auf ihrer ersten Reise, die Andres und sie in Gemeinschaft taten.
Und es geschah während der Rückkehr einer Karawane, die Andres führte und die er von einem Heiligenfeste in Balun Canan zurückbrachte, nachdem er sie einige Wochen vorher, mit Jahrmarktskaufleuten und deren Waren, hinaufgefahren hatte.
Bis Jovel hatte das Mädchen in einer steten Furcht gelebt, dass ihr früherer Herr oder dessen Sohn sie finden und zurückholen möchte. Aber nachdem sie einmal über Jovel hinaus war und auf ganz fremde Erde kam, verlor sich ihre Furcht völlig. Sie gab sich dann ihrem Gefühl hin, das sie für Andres in ihrem Herzen trug seit den ersten Worten, die er zu ihr gesprochen hatte.
Dieser Platz hier war das erste Lager auf ihrer Reise gewesen, wo sie sich vor jeglicher Verfolgung sicher fühlte, wo sie zum ersten Male frei aufatmete wie ein junges Tier des Waldes, das seinem Käfig entsprang und das die vertrauten Bäume und Gesträucher beschnüffelt, in stiller Glückseligkeit, alte gute und vertraute Freunde wieder zu finden.
Hier in diesem Lager war es gewesen, wo Andres sie das erste Wort schreiben lehrte, das Wort Estrellita, ihren Name, den sie von ihm empfangen hatte. Aber sie war hier nicht weitergekommen mit ihrem Schreiben, als dass sie gerade mühselig genug das kleine e zu malen vermochte. Beide saßen unten am Abhang, am Bach, an einer Stelle, die von dem dichten Gebüsch offengelassen worden war, eben weit genug, dass sie beide nebeneinander sitzen konnten.
Er zog ein kleines bedrucktes Papierchen aus seiner Hemdtasche. Es war ein schlichtes Gedicht von nur wenigen
Zeilen, das er irgendwo, er wusste nicht mehr genau wo, entdeckt hatte. Es gefiel ihm so sehr, weil es so einfach war, so lieb in seinen Worten tönte und er es in seiner vollen Meinung gleich verstand und den Inhalt in sich nachfühlen konnte.
Vorsichtig hatte er es ausgerissen aus dem Fetzen gedruckten Papiers, den er irgendwo auf dem Wege aufgelesen hatte. Das Papierchen war nun reichlich vergilbt und verschwitzt von dem langen Herumtragen in seiner Hemdtasche.
Er faltete es sorglich auseinander und las es seinem Sternchen vor: »>Blaue Blumen an den Wegen; Rote Tunas am Nopal; Sind verknüpft mir dir, Negrita, seit ich dir ins Auge sah. <«
Er hatte es in Spanisch gelesen.
Als sie ihn fragend anblickte, weil sie damals Spanisch nicht verstand, übersetzte er es ihr in Tseltal.
Sie sagte darauf: »Das ist so, als ob ein Vogel im Gebüsch singt, wenn er eine Frau sucht und ein Nest für sie bauen will.«
»So ist es gewiss auch gemeint von dem, der das Lied schrieb«, sagte er, merkwürdig berührt von der natürlichen Deutung, die sie den Zeilen gab.
»Schrieb?« fragte sie. »Was ist das?«
Da begann er ihr klarzumachen, was Schreiben sei, wozu es diene, und dass man mit seiner Hilfe irgend jemand, der nicht anwesend ist, mitteilen könne, was man ihm sagen möchte.
»Dann brauche ich das Schreiben nicht zu erlernen«, sagte sie treuherzig, »denn da du immer bei mir sein wirst und ich immer bei dir und ich mit niemand sonst auf der Welt sprechen will als nur mit dir, kann ich dir alles mit meinem Munde sagen und brauche nicht an dich zu schreiben.«
»Das ist wohl richtig, Sternchen«, sagte er, und er glaubte ernstlich, dass sie recht habe.
Aber er fühlte sich so unendlich reich in seinen so unendlich schwer erworbenen Schätzen des armseligen Wissens, das er besaß, dass er es wie einen Schmerz in sich fühlte, diese Schätze mit seinem Sternchen nicht teilen zu können. Er wollte nichts vor ihr voraushaben, nicht reicher sein als sie. Er wollte mitteilen, ihr alles geben, was er besaß, alles mit ihr in Gemeinschaft haben.
Und er hatte diesen Wunsch, ohne zu wissen, dass erworbene oder erfahrene Kenntnisse anderen Menschen aus reiner Hilfsbereitschaft mitzuteilen den Gebenden reicher macht, als er vor der Teilung seiner Schätze war. Denn der Reichtum der Schätze des Wissens eines einzelnen Menschen wächst in dem Umfang, wie die Bildung und das Wissen aller Menschen wächst, die um ihn sind. Die Kultur der menschlichen Gesellschaft beruht nicht in dem gewaltigen Wissen einzelner Menschen, umgeben von Hunderttausenden von unwissenden und ungebildeten Menschen, sondern eine wirklich hohe Kultur bildet sich nur im steten Austausch von Ideen und Gedanken Hunderttausender von Menschen, die eine gleich hohe Grundbildung haben und sich darum in ihren Ideen und Gedanken leichter gegenseitig verständlich machen können. Denn jeder einzelne Mensch, gleich welcher Rasse und Herkunft, vermag, einmal auf den Weg gebracht, Gedanken und Ideen zu entwickeln, die in ihrem Charakter durchaus ursprünglich sind und neu. Wo die Heranbildung des Geistes und die Disziplinierung der Intelligenz ein Privileg und ein Geschäft einer Kaste ist, die der Berufsgeistesboxer, die von ihren Schätzen nur anderen Privilegierten die Ware dosenweise oder kistenweise abgeben, da versanden die Quellen einer ständigen Neubefruchtung des menschlichen Geistes, weil die privilegierten Geistesakrobaten Ideen, die von Nichtprivilegierten kommen, ablehnen und ablehnen müssen, weil ihr Privilegium und ihre soziale Stellung gefährdet werden.
In seinem Drange, ihr alles, was er wusste, mitzuteilen und sie vollen Anteil haben zu lassen an allem, was er besaß, suchte Andres nach einem anderen Grunde, um seinem Mädchen verständlich zu machen, wie wichtig für sie Schreiben, Lesen und Rechnen sei.
Er sagte: »Sieh hier, Estrellita, wer schreiben und lesen kann, den kann niemand so leicht betrügen, mit Kontrakten, mit Schuldkonten, mit Regierungsverordnungen. Wenn die Peones auf den Fincas lesen und rechnen könnten, dann könnte sie der Finquero nicht in Sklaverei und in Schuldverpflichtung halten und sie nach Belieben verkaufen.«
Sie verstand nicht, warum die Kenntnis jener kleinen Wissenschaften einen Peon befreien kann, weil sie den Zusammenhang nicht übersah. Denn um diesen Zusammenhang verstehen zu können, war ja eben die Wissenschaft von Lesen, Schreiben und Rechnen notwendig, um zu erkennen, in welcher Form das Rechnen und Schreiben von dem, der es versteht, zum Nachteil dessen gebraucht werden kann, der weder lesen noch rechnen kann.
Aber weil er sagte, das sei so, darum glaubte sie es unbesehen und unverstanden.
Sie fragte: »Kannst du schreiben?«
»Ja, ich kann schreiben. Willst du einmal sehen, wie das geht?«
Und er schrieb auf ein Stückchen Papier mit Bleistift: >Ich habe Estrellita gefunden, als sie arm war, und ganz verlassen, und keinen einzigen Freund in der weiten Welt hatte.< Sie sah ihm mit Andacht zu, als er langsam die Buchstaben hinmalte, und sie bewunderte ihn, wie er das so sicher konnte. Es erfüllte sie mit großer Freude, dass er, der Inhalt ihres Lebens, so klug war, dass er alles konnte und alles wusste, was es auf Erden zu kennen und zu wissen gab. Als er ihr das Geschriebene dann vorlas, sagte sie: »Das ist wahr, oh, das ist ja so wahr wie die Sterne am Himmel.«
Und sie griff seine Hand, mit der er geschrieben hatte, und presste sie gegen ihr Gesicht.
Dann sagte sie: »Ich möchte dir, um alles in der Welt, auch so etwas Schönes und Liebes schreiben, wie du mir hier geschrieben hast.«
»Nimm dieses Papier und bewahre es«, sagte er.
Sie faltete das Papierchen ganz klein zusammen, schob es oben in das offene Hemd und sagte: »Ich will es auf meinem Herzen tragen, wie ich in meinem Herzen alle deine Worte trage.«
»Nun wohl«, sagte er lächelnd, »du willst mir auch so Schönes schreiben, sagst du. Gut, dann will ich dich schreiben lehren und Spanisch zugleich. Denn siehst du, in Idioma, in Tseltal, kann man nicht schreiben, weil wir keine Buchstaben haben. Buchstaben gibt es nur in der Sprache der Ladinos. Die haben diese Buchstaben gemacht, damit sie Kontrakte und Briefe schreiben können.«
So begann der Sprachunterricht und das Schreibenlernen. Und es hatte begonnen auf jenem kleinen Plätzchen unten am Bach, hundert Schritte entfernt von den Carretas und den Burschen, während die letzten Strahlen der Sonne zu verlöschen begannen.
Seit jenem Tage, an dem sich dies zugetragen hatte, war Estrellita mit Andres viermal wieder auf dieser kleinen Weide gewesen, als er Karawanen führte und hier Rast hielt. Und jedes Mal waren sie beide hinuntergeklettert zu der schmalen offenen Stelle am Bach, wo sie den ersten Buchstaben ihres Namens schreiben gelernt hatte. Und jedes Mal war sie an jenem Plätzchen niedergekniet und hatte ihre Lippen auf die grasbedeckte Erde gedrückt als Gruß und als Erinnerung an jenen ersten Abend, den sie hier mit Andres verbracht hatte. Wenn immer sie, später, das Wort Heimat hörte, so verknüpfte sich in ihrer Seele mit der Vorstellung Heimat dieses kleine Stückchen Erde.

 

10

Die Carreteros hatten sich zum Schlafen teils in den Schatten der Gebüsche, teils unter die Carretas gelegt. Andres blickte um sich. Und als er fand, dass alles in guter Ordnung war, rief er das Sternchen herbei. Sie war einige Schritte weit den Berg hinaufgeklettert und hatte sich in den Schatten eines Baumes gesetzt, wo sie sich damit beschäftigte, in ihr neues weißes Baumwolljäckchen eine Menge schlichter Figuren mit roter, grüner und blauer Wolle hineinzusticken, um das Jäckchen zu verschönern.
Sie hatte nie irgendwo Sticken gelernt. Sie hatte es nur einmal gesehen bei einer indianischen Frau, die vor der Tür ihrer Hütte saß, wo die Karawane vorüberkam und für eine Viertelstunde halten musste, weil die Jochriemen eines Ochsen gerissen waren. Sie versuchte das Sticken nun selbst. Es ging ungeschickt genug. Die Figuren, die sie hineinstickte, waren einfache Sternchen, Rauten, Quadrate, Kreise mit Kreuzchen, Swastikas und Herzchen. Aber sie gruppierte diese Figürchen so geschickt, tauschte sie so vielfältig miteinander aus und wandte die Farben so schlicht natürlich an, dass das Jäckchen sehr schön zu werden versprach.
Als Andres sie zu sich rief, sprang sie auf, packte ihr Zeug hastig zusammen, trug es zur Carreta und kam auf ihn zu.
»Lass uns hinuntergehen zum Bach, wo wir immer gesessen haben«, sagte Andres. »Wir können dort ebenso gut ausruhen wie hier oben bei den Carretas.«
»Aber ja«, willigte sie freudig ein. »Es ist viel schöner dort, kein Staub von der Straße, und wir können ganz allein miteinander reden, nur du und ich.«
Vergnügt schwatzte sie auf ihn ein, während sie halb springend, halb kletternd ihm voraneilte. An Jahren und nach ihren Gesten war sie noch immer ein Kind, während sie nach dem Urteil ihrer Rasse nun schon als eine junge Frau galt.

 

11

Nun saßen sie unten an der ihnen so vertrauten Stelle.
Estrellita ließ ihre nackten dunkelbraunen kräftigen Füße vom Wasser umspielen.
Andres drehte sich eine dicke Zigarre. Er tat es sehr nachdenklich. Als die Zigarre endlich glimmte, sagte er, ohne jede Einleitung: »Der Finquero hat meinen Vater in die Monteria verkauft.«
Das Mädchen verlor jeden Tropfen Blut aus ihrem Gesicht. Ihr Mund fiel weit auf, ganz von selbst. Er stand so offen wohl für einige Minuten. Dann wurde es ihr hart und trocken im Munde. Sie schluckte einen tiefen Atem ein, der wie ein raschelnder Windhauch in sie hineinzupressen schien. Sie schlug mit dem Kopfe heftig um sich, als wolle sie ihn aus den Halsgelenken schleudern. Ihre Augen quollen hervor und wurden rötlich, so dass es schien, die Häutchen, die ihre Augen festhielten, möchten verbrennen. Ihre kleinen Hände ballten sich zu Fäusten, und sie schlug sie trommelnd auf ihre Oberschenkel.
Sie stieß einen halben Schrei aus, der abschnitt wie hinweggehackt. Es gurgelte in ihrer Kehle.
Sie schaukelte den Oberkörper hin und her, als würde er von einem Sturm zerzaust. Sie zog die Füße aus dem Wasser und schob sie dicht gegen ihren Unterkörper. Dann begannen die Tränen aus ihren Augen zu fließen wie rieselnde Bächlein. Aber Andres hörte weder ihr Weinen noch ihr Schluchzen.

 

12

Sagt ein Indianer zu einem andern Indianer: »Mein Vater ist in Not«, so bedarf es zwischen ihnen auch nicht eines einzigen Wortes weiter. Denn das, was der Sohn darauf tut, ist so unabänderlich, steht so völlig außerhalb seines Willens wie der Tod, der einen Menschen treffen kann. Diejenigen, die ihre Empfindungen in barem Gelde ausdrücken müssen, um zu wissen, dass sie welche haben, kommandieren oder lassen ihren Gott kommandieren: >Auf dass es dir wohl gehe und du lange lebest auf Erden, du immer gute Geschäfte machst, immer tüchtig und reichlich schöne Dollars verdienst, darum ehre Vater und Mutter.< Sie bringen den Nachsatz nur deshalb nicht an erster Stelle des Kommandos, damit der Dollar nicht gar so deutlich sichtbar wird. Es wird ja auch in unserer verhebräischten Religion von dem ewigen Himmelslohn nie in der Weise gepredigt, dass es sich bei jenem Lohn um eine stille Zufriedenheit nach der vollbrachten Lebensarbeit handelt, um eine wohltuende Glückseligkeit, die man darüber empfindet, keinem Wesen wissentlich und absichtlich jemals etwas Böses zugefügt zu haben; sondern es wird nachdrücklich betont, bei Predigten und beim Eindrillen der Religionswahrheiten, dass es sich bei dem ewigen Himmelslohn um einen guten Sitzplatz in einem vorzüglichen Symphoniekonzert handelt, bei dem man das Recht hat, Flüglein zu tragen und gelegentlich mit Saxophon, Schlagzeug und Leier mitzuwirken.
Es muss stets klar sein, was gute Taten an bar oder an Privilegien nach dem Tode einbringen, und es darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Schadenfreude gegenüber denen, die ewig schmoren und rösten müssen, auch etwas wert ist, um dessentwillen sich ein kindlicher Glaube verlohnt.
Der Indianer kennt kein göttliches Gebot, und er hat nie eines gekannt in der langen Geschichte seiner Rasse. jedoch er kennt irdische Tatsachen. Und eine dieser Tatsachen heißt: »Er ist dein Vater, und sie ist deine Mutter.«
Ob er diese beiden Menschen ehrt oder nicht ehrt, darum kümmert sich sein Gott nicht. Sein Blut sagt ihm, was er diesen beiden Menschen gegenüber zu tun hat. Weder brauchen ihm Dollars versprochen zu werden, noch braucht man ihn mit glühenden Zangen zu ängstigen.

 

13

»Wann gehst du?« fragte Estrellita.
»Ich bringe die Carreta hinauf nach Jovel. Am frühen Morgen können wir dort sein. Ich habe eine Ladung Kaffee und Tabak und einige Tausend leerer Flaschen der Brauereien, die zurückgehen. Morgen Abend sind wir auf dem Heimweg. In drei Tagen kann ich die Carretas Don Laureano übergeben. Dann gehe ich, noch in derselben Nacht, um nicht zu spät zu meinem Vater zu kommen.«
»Ich gehe mit dir, mein lieber Junge«, sagte das Sternchen. »Ich gehe auch mit dir in die Monterias.
Ich gehe mit dir, wohin du auch immer gehst. Über das Ende der Welt hinaus. Kein Ort zu weit, kein Weg zu hart, keine Arbeit zu schwer, wenn ich mit dir sein kann.«
»Könntest du das, Estrellita mia«, erwiderte Andres mit erstickender Stimme, »dann würde ich mit dir gar nicht darüber gesprochen haben. Wir würden gehen, gleich wohin und gleich mit welchem Ziel und Ende. Das habe ich alles wohl bedacht, die volle Nacht hindurch und heute den ganzen Weg entlang.
Du kannst nicht mit mir gehen. Du kannst nicht, um deinetwillen nicht und nicht um meinetwillen.
Ich habe gewiss niemals geglaubt, dass ich dir je ein so großes Weh deines Herzens werde zufügen müssen. Und ganz ohne meine Schuld. Und viel mehr noch ist es ganz ohne die Schuld meines armen Vaters, dass ich dich, me in Sternchen, allein lassen muss.«
»Du hast mir versprochen, in den ersten Tagen, als wir des Nachts auf der Prärie saßen und so voller Freude waren, dass du mich nie verlassen würdest. Hast du mir das nicht versprochen?«
»Das habe ich«, bestätigte Andres. »Du bist die Nächste für mich, gleich nach meinem Vater. Und wäre es nicht um meinen Vater, so könnte kein General und kein Gobernador dich von mir trennen. Meine Mutter kann nie in eine so große Not kommen, wie die Not ist, in der jetzt mein Vater ist. Denn mein Vater ist nun alt und matt. Er hat viel gearbeitet. Er würde kaum den Marsch zu den Monterias überleben, und er würde gewiss am Wege bleiben, um von Geiern und wildernden Hunden gefressen zu werden. Und darum bist du die Nächste für mich, weil deine Not um ein vieles größer werden kann, als die meines Vaters ist. Doch weil ich deine Not nicht größer werden lassen kann als die meines Vaters, darum kann ich dich nicht mit mir nehmen.«
Das Mädchen verstand nicht, wie er es meinte.
Sie fragte: »Aber wenn ich immer bei dir bin, wie kann meine Not größer werden, als sie sein wird, wenn du mich verlässt?«
»Auf meinen Vater drängt eine Not ein. Aus dieser Not werde ich ihn befreien. Es ist die bitterste, die ihn in seinem Leben treffen konnte. jedoch aus den Nöten, in die du sicher kommen wirst, wenn du mit mir gehst, kann ich dich nicht erlösen. Ich könnte nur morden. Aber dann werde ich gemordet, und du bist dann dennoch allein gelassen und schlimmer als vorher.«
»Ich sterbe aber dann mit dir«, sagte sie ruhig.
»Wenn man dich sterben lässt, Sternchen«, berichtigte sie Andres. »Und -«, fügte er hinzu, »wenn noch soviel von dir übrig geblieben ist, dass sich das Sterben für dich lohnt und dass dir genügend eigener Wille geblieben ist, freiwillig zu sterben. Denn deine Seele und dein Körper werden zerbrochen sein.«
Sie wusste nichts darauf zu sagen. Es formte sich in ihr eine körperliche Vorstellung unbekannter Furcht, die ihr gleich einem monströsen Untier schien mit unzähligen Krallen und langen dicht behaarten Armen, die wie Schlangen nach allen Richtungen herumzüngelten, um Opfer zu erhaschen.
Sie konnte sich nicht denken, welche Art von Nöten Andres meinen könnte. Aber sie gab ihm nach, denn er wusste so viele Dinge, und alles was er sagte, war immer wahr und richtig.
Daran denkend, wurde sie sich des bevorstehenden Verlustes nur noch schmerzlicher bewusst.
Die ruhige Bestimmtheit, mir der er gesagt hatte, dass er allein gehen müsse, ohne sie, nahm ihr jegliche Hoffnung, dass es einen anderen Ausweg geben könnte.
Er hatte darüber lange und anhaltend nachgedacht und alle Möglichkeiten erwogen. Jetzt erinnerte sie sich daran, dass er den vollen Weg hindurch kein Wort geredet hatte, während er sonst, selbst auf den schwierigsten Wegen und bei der härtesten Arbeit, wo die lästerlichsten Flüche nur so durch die Luft fegten wie Bremsen, gelegentlich ein paar freundliche oder scherzende Worte für sie bereit hatte, sobald sie in seine Nähe kam. Bei ihrem Anblick erstarben auch die gellendsten Schimpfereien auf seinen Lippen, und statt des gewollten Fluchs über einen unerwarteten Radbruch an der übelsten Stelle des Weges formte sich über seinem verschwitzten und verstaubten Gesicht ein fröhliches Lachen, das er seinem Sternchen entgegenwarf.
Weil seine Erfahrung um ein so vieles reicher war als ihre und weil sie tief in ihrem Herzen fühlte, dass er in seinem ganzen Wesen und Sein eins war mit ihr, wusste sie, dass er alles durch und durch überdacht hatte, um eine Möglichkeit zu finden, sie bei sich zu behalten.

 

14

Schicksal ist undiskutierbar. Für einen Indianer viel, vielmehr als für einen Menschen, der unter dem Einfluss zahlreicher, sich einander widersprechender Philosophien steht, von denen er sich die aussucht, die ihm für seine Geschäfte oder für die Harmonie seines Lebens am dienlichsten erscheint. In einer so bequemen Lage befindet sich der Indianer nicht. Für ihn ist das Schicksal seine Lebensbestimmung, der er nicht entweichen kann und gegen die er darum auch nicht ankämpft.
Dennoch griff Estrellita nach dem letzten Hoffnungsstrahl, den sie in ihrem aufgewühlten Gedankenmeer vor sich flimmern zu sehen meinte.
»Ich habe gehört«, sagte sie, »dass zuweilen Männer ihre Frauen mit in die Monterias nehmen.«
»Ja«, gab Andres zu, »das tun manche Männer. Aber meist, oder wohl immer, besonders wenn die Frauen jung sind und angenehm anzusehen, kommt der Mann nicht mehr zurück. Seiner Frau wegen.«
Er wusste, dass sie ihn nicht verstanden hatte, dass er es auch nicht verständlich für sie hätte machen können, selbst wenn er gewollt haben würde. Denn für ein solches Verstehen fehlte ihr eine wichtige Voraussetzung.
Das Sternchen begriff es in einer anderen Weise.
Sie sagte: »Dann freilich will ich nicht mit dir gehen. Ich will ganz gewiss nicht die Schuld haben, dass du nicht mehr zurückkommst. Ich will so sehr, dass du zurückkehrst, sobald du deinen Vater frei gearbeitet hast. Ich werde gewiss auf dich warten. Warten und warten. Bis an das letzte Atmen meines Lebens.«
»Ja, Sternchen«, sagte er schwer, »das möchte ich wohl, dass du auf mich wartest. Auch das habe ich überdacht. Aber wo in der Welt könntest du auf mich warten? In der ganzen weiten Welt, die ich kenne, da ist für dich kein winziges Plätzchen zu finden, wo du ruhig und zuversichtlich auf mich warten könntest.«
»Ich werde im Hause deiner Mutter warten«, sagte sie freudig. Als ob er daran nicht auch gedacht hätte.
»Das könntest du«, erklärte er ihr, »das könntest du, wenn meine Mutter weit fort und anderswo lebte als auf der Finca. In weniger als einer Woche weiß der Finquero, dem du entlaufen bist, dass du auf der Finca des Don Arnulfo lebst. Und er lässt dich sofort zurückholen mit der Polizei. Und was denkst du, was sein Sohn, der José, von dem du mir erzählt hast, mit dir tun wird? Das brauche ich dir nicht zu sagen.«
Sie schloss die Augen und schüttelte sich vor Ekel und vor Schrecken.
»Dies ist ein weiterer Grund, warum ich dich nicht mit mir nehmen kann. Der Weg zu den Monterias führt durch die Regionen, wo die Finqueros die allmächtigen Herren sind und wo die Beamten und die Sekretäre für zehn Pesos und einige Gläschen Comiteco einen Peon nach kurzem Urteilsspruch füsilieren, wenn der Finquero es so haben will. Das weißt du doch so gut wie ich. Dein Finquero erfährt sofort, dass du in der Region bist. Und er lässt dich aus der Marschkolonne heraus ergreifen und zurückbringen.
Abgesehen von allen anderen Dingen, die dir sicher zustoßen werden, hast du zwei Jahre für nichts zu arbeiten, um die Schuld für deine Ergreifung zu bezahlen. Was kümmern sich die Finqueros um einen Indianer oder gar um ein kleines liebes Indianermädchen, wie mein Sternchen ist, ob es zugrunde geht oder nicht! Es gibt ja so viele Indianer, so sehr viele. Und sie sind billiger für einen Finquero als junge Kälber.«
»Du hast so recht«, nickte Estrellita, »du weißt alles in der Welt. Und es ist so, wie du sagst.«
»Und nun, mein Sternchen«, sprach er leise, »nun wirst du mir ein letztes Mal gehorchen und tun, was ich dir sage.«
»Nicht das letzte Mal«, erwiderte das Mädchen, ohne ihn ausreden zu lassen, »nicht das letzte Mal. Ich werde dir immer und ewig gehorchen. Solange ich lebe. Weil du mein Herr bist und alles.«
Für eine Weile blieb er nachdenklich, um sich genau jeden Schritt zu überlegen, den zu gehen er dem Sternchen anzuraten gedachte. Dann sagte er, jedes Wortgut betonend, um es dem Mädchen stark einzuprägen:
»Wir gehen nun hinauf nach Jovel. Morgen nachts sind wir auf dem Rückwege nach Socton.
Dort angekommen, rechne ich ab mit Don Laureano. Ich habe noch eine Schuld bei ihm. Es werden wohl so an neunzig Pesos sein. Er schreibt sie mir über auf Don Arnulfo. Und Don Arnulfo schreibt sie mir über auf mein Konto in der Monteria. Ich will versuchen, dass mir Don Laureano zehn Pesos mehr leiht auf mein Konto. Das wird er gewiss tun. Ich habe ihm gut gedient seit vielen Jahren und ihm nie einen Schaden getan. Diese zehn Pesos gebe ich dir. Die wickelst du gut ein in deinen Rock. Dann gehst du mit der Karawane, die Aurelio führt, hinunter zur Bahnstation. Aurelio kenne ich gut. Er ist mein Freund. Ich spreche mit ihm. Er ist ein guter Bursche, der dich sicher und wohlbehalten unten anbringt. Dann fährst du mit der Bahn nach Tonalá. Das kostet nur einen halben Peso. Dort suchst du dir einen guten Dienst. Du kannst jetzt genügend Spanisch sprechen, weißt genügend gut zu lesen und reichlich zu schreiben. Wirst wohl sechs oder acht Pesos im Monat verdienen können. Wenn es dir nach einiger Zeit nicht gefällt oder man dich schlecht behandelt, dann fahre weiter, vielleicht nach Huixtla, oder besser bis nach Tapachula. Das ist eine große Stadt, wo der Dienst gut bezahlt wird. Da wohnen viele Amerikaner, die ein Mädchen, wie du bist, gut behandeln und gut bezahlen.
Aber gehe nie in eine andere Stadt, als nur an der Bahnlinie. Dort kann ich, wenn ich eines Tages zurückkommen werde, dich suchen und kann dich finden. Gehst du anderswohin im Lande, dann könnte ich dich wohl nie mehr wieder finden.«
»No la olvidaré ni una palabra«, sagte sie in Spanisch. »Nicht ein einziges deiner Worte werde ich je vergessen, und ich werde so handeln, wie du mir gesagt hast.«
Sie sprach es wie einen Schwur.

 

15

Es war zwei Tage später, als die Karawane, von Jovel zurückkehrend, auf der gleichen kleinen Weide Lager schlug. Die Karawane kam an, als die Nacht schon hereingebrochen war. Die Ochsen waren versorgt, und die Carretas befanden sich in guter Fahrtordnung.
Das Abendessen war vorüber. Die Carreteros saßen am Feuer, rauchend und erzählend.
Bonifacio spielte ein kleines Akkordeon, das er sich in Jovel gekauft hatte. Pascual begleitete ihn auf der Gitarre. Zwei der Burschen tanzten.
Dann ging der Mond auf. Er kam von dem Hochland bei Jovel. Langsam wogte er hinauf an dem klaren Himmel. Tiefrot und voll und so groß und mächtig erscheinend, als wolle er die Erde mit einem Schluck verschlingen. Andres stand auf vom Feuer. Er ging hinüber zu seiner Carreta. Da saß das Sternchen auf dem Führerbrett. Träumend oder in Gedanken, ihre Augen voll und groß auf den Mond gerichtet.
Andres stand eine Weile bei ihr.
Dann strich er ihr über das Haar, das sie sich vor dem Essen sorgfältig durchgekämmt hatte und das nun lang und schlicht an ihr herunterhing.
»Komm, Yita«, sagte er. Er hob sie herunter.
Sie gingen hinter den Carretas entlang, um zu vermeiden, dass die Burschen am Feuer sehen könnten, nach welcher Richtung sie sich entfernten.
Als sie von der Weide waren, hob er sie in seine Arme, trug sie hinunter zum Bach und setzte sie nieder an jener kleinen offenen Stelle, die ihnen ihre erste Heimat war, die sie gemeinschaftlich gehabt hatten.
Wie lange flirrende Strähnen aus Gold flutete das Licht des.
Mondes im Bach. Vor ihren Augen stand der Busch. Schwarz und undurchdringlich. Goldene Platten mit zerrissenen Rändern lagen auf dem Busch, da, wo dichtes und verwobenes Laub den Schein des Mondes auffing.
Hinter ihnen und neben ihnen, zu allen Seiten, standen Büsche, Gesträucher und knorrig verwachsene Bäumchen. Manche von denen voll gebadet im Licht des Mondes, andere nur von Silberfahnen gestreift und wieder andere mit kleinen goldenen Schildchen beheftet. Die Schatten lagen in den golddurchfluteten offenen Stellen des Abhanges verstreut, als wären sie der vom Tage zurückgelassene Atem jener Büsche.
In den beiden Menschenkindern, die hier schweigend saßen, sich bei den Händen haltend, erwachte die Idee, dass dieses Gesträuch lebend sei und eine Welt ganz für sich allein bilde, mit ihren eigenen Formen, ihrem eigenen Wesen, ähnlich verwunschenen Menschlein, die waren und vergingen, die unrichtig geboren waren und sich nicht zu guter Zeit einrichten konnten in die wirkliche Welt.
Der Busch sang. Das Gebüsch geigte. Das Gras flötete. Und der Bach spielte tieftönende Hoboen.
Von den Burschen her, die oben am Feuer saßen, wehten abgebrochene Akkorde ihrer gespielten Melodien herunter, die so fern herzukommen schienen, als wären sie ein Hauch zurückgebliebener Lieder, die von anderen Carreteros auf derselben Weide Nächte vorher gesungen worden waren.
Andres und Estrellita waren so voll von Gedanken, dass sie es wie einen tiefen Schmerz ihrer Seele empfunden haben würden, reden zu müssen.
Es war beiden, als denke jeder von ihnen das gleiche, was der andere denke im selben Augenblick.
Es kam über sie ein schmerzlich süßer Drang, sich ineinander zu verlieren, um sich für die Dauer des Bestehens des Universums zu gewinnen und sich zu behalten, für ewig miteinander verbunden zu bleiben im Erlebnis eines gleichen Gefühls und Geschehens.
Und es geschah ohne ihren Willen und ohne ihren Wunsch, dass sie beide einen weiten Schritt näher kamen der Erkenntnis des Wesens vieler Dinge im Leben des Menschen.
Vom Lager her sangen die Carreteros: >Amapola del camino.< Sie sangen es ziehend und voller Schwermut.
Und das Lied umwehte die beiden und drängte sich in ihr heißes Atmen, so dass es ihr Hochzeitslied wurde.
»Fürchte dich nicht, Sternchen«, sagte Andres, »sei tapfer. Wenn auch Hunderte von Männern und Burschen nicht mehr zurückkommen und in den Monterias verwehen und vergraben werden, ich komme zurück. Ich komme zurück zu dir, Estrellita mia, und wenn die Welt darüber in Stücke brechen sollte.«
»Ich werde auf dich warten, für immer und immer«, sagte sie.

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