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B. Traven - Der Karren (1930)
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VIERTES KAPITEL

1

Don Laureano Figueroa war Comisionista. Das ist so etwas wie Handelsagent. Er wohnte in Socton und war Vertreter von zweihundert oder dreihundert Handelshäusern in Mexiko City, Puebla, Monterrey, USA, Spanien, Frankreich und noch einigen andern Ländern, von denen er nichts weiter wusste als den Namen. Er hatte die Generalvertretung in seinem Distrikt für Nähmaschinen, Maisentkörnungsmaschinen, Porzellanwaren, Dachpappe, Wellblech, Petroleum, Schreibmaschinen, spanische Vorderlader, Blumensamen, Stacheldraht, Zeitungen, Flaschenbier, Weine, Zigaretten. Er übernahm Frachten und Speditionen nach allen Punkten der Welt, wie es am Kopf seiner Briefbogen zu lesen war. Er kaufte und verkaufte Land, Häuser und Hypotheken. Er war in jedem Städtchen des Staates besser bekannt als der Gouverneur oder die politischen Chefs. Denn es gab wohl keinen Ort im Staate, in dem Mexikaner wohnten, wo man nicht in allen Läden, in allen Fondas, in allen Hotels, in allen Amtsstuben einen Kalender an der Wand hängen sah, auf dem eine farbenreiche wundervolle Landschaft abgebildet war von einer Art, wie man sie nirgends in Mexiko findet. Über dieser schönen Landschaft stand sein Name fettgedruckt, und eingerahmt war die Landschaft mit den gedruckten Namen aller derjenigen Dinge, für die er die Generalvertretung hatte.
Dass Don Laureano so viele Generalvertretungen hatte, darf man nicht lächerlich finden. Denn hätte er die Generalvertretung nur eines großen Hauses gehabt, so wäre er daran verhungert. Er besaß die Generalvertretung einer weltbekannten Pianofabrik in New York. In drei Jahren war es ihm gelungen, ein ganzes Klavier zu verkaufen. Aber er hatte, wie er dem Hause schrieb, berechtigte Hoffnung, innerhalb der nächsten zwei Jahre wieder ein Klavier verkaufen zu können, weil ein jungvermähltes Paar bereits seit Monaten mit der Absicht umgehe, sich ein Klavier anzuschaffen. Nähmaschinen gingen nicht ganz so langsam; aber auch dieses Geschäft sah trübe aus. Er hatte Vertrauen in ein gutes Geschäft in Schreibmaschinen. Denn Schreibmaschinen begannen gerade jetzt bei den Geschäftsleuten im Staate bekannt zu werden und Eingang zu finden. Er stand auf gutem Fuße mit den politischen Chefs, und er hoffte, dass er alle Ämter im Staate mit Schreibmaschinen versorgen könne.
Sein wichtigstes Geschäft war freilich die Spedition. Sein Frachtunternehmen war das sichere tägliche Brot für ihn, die Basis seiner ganzen wirtschaftlichen Existenz.
Er hatte vierzig Carretas zwischen Arriaga und Balun Canan laufen. Da er und die Familie, der er zugehörte, wohlbekannt im Staate waren und weil er selbst als unbedingt zuverlässig und ehrenhaft galt, so fehlte es ihm nie an Fracht. Seinen Karawanen wurden nicht nur wertvolle Güter und Geldtransporte anvertraut, sondern auch alleinreisende Frauen und einzelne Kinder, die irgendwohin zu Verwandten oder in eine Schule geschickt wurden. Es war überall bekannt, dass seine Carreteros die anvertrauten Güter mit ihrem Leben verteidigten, gegen Banditen oder gegen Naturgewalten.

 

2

Andres machte sich keine Gedanken darüber, dass er so ohne irgendwelche Zeremonie und ohne um seine eigene Meinung befragt zu werden von einem Herrn zu einem andern ausgewechselt wurde. Es hätte ihm auch nichts genützt, und an den Tatsachen wäre nichts geändert worden. Die Herren verkauften und vertauschten untereinander ihre Esel, ihre Pferde und ihre Mules. Ob das Pferd zu einem neuen Herrn wollte oder nicht, niemand fragte es, und niemand wollte von ihm wissen, wie es ihm gefalle.
Es kam Andres auch gar nicht einmal der Gedanke, hier etwas dazu zu sagen. Noch viel weniger kam es in seinen Kopf, dass er etwa gar irgendwie ein Recht haben könne, ja oder nein in einer Sache zu sagen, die Herren unter sich abgemacht hatten. Dass es Menschenrechte oder etwas Ähnliches gäbe, wusste er nicht. Er wusste nur eines, und das eine wusste er von Kindheit an: Ein Peon hat zu gehorchen. Wo in aller Welt ist es denn einem Soldaten erlaubt, etwas dagegen zu sagen, wenn er, in Kriegs­- oder Friedenszeiten, von seinen Vorgesetzten in ein Sumpfloch geschickt wird, wo er stecken bleiben und verrecken kann! Gehorsam ist die erste Pflicht eines Soldaten; und erst recht ist Gehorsam die erste und oberste Pflicht eines Peons. Der Soldat wird nach Flandern geschickt, ob es ihm gefällt oder nicht; und seine Herren tauschen ihn aus. Heute kämpft und blutet er für das Wohlergehen der Engländer, morgen für das Recht der Franzosen, die Welt mit gefälligen Mädchen zu versorgen, und übermorgen kämpft er für die Demokratie aller Länder und für das Selbstbestimmungsrecht der kleinen Nationen, die eine verkrüppelte eigene Sprache und einen unverkrüppelten Ehrgeiz ihrer profitgierigen Kapitalisten haben. Wenn der Gehorsam der Proletarier ins Wanken gerät, erzittern die Fundamente des Staates, und die Rebellion kauert sich nieder zum Sprunge. Alle Naturgesetze würden in Aufruhr und in Verwirrung geraten, wenn es je einem Finquero einfiele, einen Peon zu fragen: »Hijito mio, como te gustas, wie gefällt es dir, mein Söhnchen?«
Andres hätte auch nie erwartet, dass ihn sein Patron um seine Meinung fragen würde. Er tat, was ihm befohlen wurde. Nicht mehr, nicht weniger. Er hätte sich weigern können, wenn ihm sein Herr befohlen hätte, sich am nächsten Baume aufzuhängen; denn das wäre gegen die Gesetze der Kirche gewesen.
Dagegen war es nicht gegen die Gesetze der Kirche, wenn ihm befohlen wurde, sich auspeitschen oder in den Stock spannen zu lassen. Die Kirche hatte ihn gelehrt, dass da, wo kein Gehorsam gegen den Herrn ist, der von Gott als sein Herr bestimmt ist, dass da auch kein Gehorsam gegen Gott und den Heiligen Vater erwartet werden kann. Nur wenn Gehorsam auf allen Wegen gesichert und sehr gut gesichert ist, dann ist auch der Gehorsam gegen Gott und Kirche gesichert. Das muss gleich von Anbeginn an ins Blut gelegt werden.
Was Andres vielleicht an dem ganzen Handel berührte, war lediglich, dass er aus einem gewohnten Leben in ein neues Leben versetzt wurde. Und aus einer Gewohnheit in eine neue gegen den eigenen Willen geworfen zu werden, ist meist mit Schmerzen verknüpft.

 

3

Schon auf der Reise nach Don Laureanos Wohnort wurde aber Andres klar, dass es um ein Vielfaches angenehmer war, dem neuen Herrn dienen zu dürfen als dem früheren.
Don Laureano kannte nicht das intime Leben der Fincas. Er wusste, dass eine Finca Peones hatte; aber er wusste nicht, welch eine strenge Zucht, ja Tyrannei, auf den Fincas herrschte. Wenn er gelegentlich in Geschäften auf einer Finca zu Gast war, so bekam er keine Gelegenheit, einen näheren Einblick in die wirklichen Verhältnisse des Proletariats einer Finca zu gewinnen. Er kümmerte sich auch nicht darum. Es war nicht seine Sache, Studien dort zu treiben, Er wollte Geschäfte machen und wollte den Finquero zu einem dauernden Freunde haben.
Don Laureano war Geschäftsmann. Und er behandelte alle seine Carreteros und Muchachos vom Standpunkt eines Geschäftsmannes aus mit dem goldenen Grundsatz guter Geschäftsleute: Leben und leben lassen. Aus reicher Erfahrung wusste er, dass ein solcher Grundsatz, wenn von allen Geschäftsleuten beachtet, jeglichem Geschäft, Handel und Verkehr nur günstig ist. Alle seine Leute lebten zwar ein dürftiges und hartes Leben. Aber wenn sie ihr Leben mit dem Leben der Peones und mit dem vieler anderer Proletarier verglichen, so dünkte es sie recht erträglich. Der Werkzeugschmied in einer Fabrik in Dayton, der dreißig Dollars die Woche bekommt und der, bei Gelegenheit, von einem Arbeiter in einer Textilwarenfabrik in Gaston hört, dass der nur elf Dollars die Woche verdient, der gesteht:
»Verflucht, ich krabbele mich ja gerade noch so leicht geschunden durchs Leben mit meinen vier Kindern; aber dieser arme Hurensohn in Gaston mit seinen elf Silberlingen die Woche  und  acht Kindern  auf dem  Halse.  Himmlische
Posaunenbläser, ich möchte doch nicht in seinem Fell stecken, was bin ich doch froh, dass ich dreißig die Woche habe. Es langt nicht vorn und es langt nicht hinten, das ist ja richtig; aber wie das arme Hündchen in Gaston mit seinen elf Krümchen die Woche eigentlich zurechtkommt, das ist mir das größte Weltwunder auf dieser Erde.«
Die Leute, die Don Laureano in Arbeit hatte, waren freie Männer. Wenn sie mit ihrer Carreta im Hofe ihres Herrn angelangt waren, so konnten sie sagen: »Hören Sie, Patron, ich möchte gehen, möchte mir etwas anderes suchen.« Dann sagte Don Laureano, falls es sich um einen guten und zuverlässigen Carretero handelte: »Warum willst du denn gehen, Julian? Bist nun schon vier Jahre mit mir. Sind immer gut ausgekommen. Bueno, ich gebe dir einen Halben mehr den Tag.« Der Carretero blieb vielleicht und bekam einen halben Real mehr den Tag, und er war zufrieden. Oder er blieb nicht und ging seiner Wege. Don Laureano zwang ihn nicht zu bleiben, wenn er durchaus fort wollte. Der Mann war frei.
Er lernte natürlich sehr rasch, viel rascher, als er geglaubt hatte, dass die Freiheit, genau besehen und bei Licht betrachtet, sehr wenig Freiheit an sich hatte. Er fand einen anderen Unternehmer, der ihm weniger bezahlte, ihn härter arbeiten ließ und schmählich behandelte. Aber weil es ihn nicht satt machte, sich den Magen mit Regentropfen zu füllen, die ihm in den aufgesperrten Mund träufelten, so musste er dem Herrn dienen, der ihm für seine Arbeit Geld versprach, damit er sich Tortillas und Frijoles kaufen konnte. Auf diesem Umwege kam der freie Carretero zu der großen Weisheit, dass Freiheit und Freizügigkeit schöne Worte sind, die geschaffen wurden, um das nackte Antlitz harter wirtschaftlicher Zustände angenehm zu verschleiern.
So fügte es sich, dass, wenn alle Dinge und Verhältnisse bis zu ihrem nüchternen Endergebnis verfolgt wurden, die freien Carreteros ebenso treu und zuverlässig bei ihren Herren aushielten, wie die Peones bei ihren Finqueros aushalten mussten. Die Carreteros wussten, dass sie freie Männer waren, die gehen konnten, wann und wohin sie wollten. Die Peones wussten, dass sie unfreie Männer waren, die kein Recht hatten, zu gehen, wann und wohin sie wollten. Wenn aber der Schlusspunkt hinter den Satz ihrer wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen sie leben mussten, gesetzt wurde, so stellte es sich heraus, dass beide im selben Sumpfe steckten. Nur hatte der Sumpf der einen nicht den gleichen Namen wie der Sumpf der andern.
Die Finqueros erzielten einen höheren Profit, wenn sie das System der Peones aufrechterhielten, und die übrigen Herren machten mehr Geld, wenn sie freie Leute für sich arbeiten ließen.
Der unfreie Peon tat nur das, was ihm befohlen wurde. Er überließ alles Denken seinem Patron, und damit übertrug er seinem Patron alle Verantwortlichkeit für das Ergebnis der
Befehle.
Der freie Carretero musste selbst denken und musste selbst die Verantwortlichkeit für das, was er tat, übernehmen. Denn würde er nur streng das tun, was befohlen wurde, und würde er nicht von einem Kilometer des Weges zum andern selbst denken, wie er am besten und sichersten mit seiner Carreta vorwärts gelangen kann, so würde nie eine Carreta mit ihren Gütern an ihren Bestimmungsort anlangen.
Eine Finca, in dem Zustande, in dem sie sich seit vierhundert Jahren befindet, kann in diesem Zustande nur existieren mit Hilfe von Peones. Ein Speditionsunternehmen kann nur gedeihen mit Arbeitern, denen eingeredet wird, dass sie frei seien. Ein System mit freien Arbeitern, wo den freien Arbeitern Verantwortlichkeit aufgebürdet werden kann und wo der Herr sich das Recht nimmt, den Arbeiter an seinem Lohn dafür haftbar zu machen, durch Abzüge und Strafen, wenn der Arbeiter in seiner Verantwortlichkeit etwas versieht, ist dem Profit günstiger als ein System der Peones. Das ist der einzige
Grund, warum die Sklaverei auf Erden abgeschafft wurde. Reformer und Philanthropen sind immer um ein Jahrhundert ihrer Zeit zurück. Sie erreichen immer nur das, was einer fortgeschrittenen kapitalistischen Wirtschaftsweise günstig ist. Nicht mehr. Wie auch ein republikanisches Regierungssystem gegenüber den Anstürmen der Monarchisten nur dann gesichert ist, wenn es dem allgemeinen Wirtschaftsleben weitere Ziele offen hält und größere Gewinne verspricht als ein monarchistisches. Theorien und Ideale, die auf das soziale Leben der Menschen sich beziehen, haben nur dann eine Möglichkeit, verwirklicht zu werden, wenn sie eine größere Sicherheit für das tägliche Brot verbürgen. Alle übrigen Ideen, auch wenn sie noch so schön aussehen, bleiben in Büchern, Broschüren und Flugblättern stecken. Sie vermögen in Versammlungen eine flammende Begeisterung zu erwecken, aber das nüchterne Morgengrauen des folgenden Tages erstickt auch die höchste Begeisterung derer, die satt werden wollen und satt werden müssen, um leben zu können.

 

4

Andres ritt neben Don Laureano auf dem Wege her. Sie hatten La Providencia hinter sich, wo sie die Nacht verbracht hatten.
»Also du hast noch nicht mit Ochsen gearbeitet, Andres?« fragte Don Laureano, während er sich eine Zigarette ansteckte und dem Jungen das Päckchen hinreichte, damit er sich eine herausziehen sollte.
»Nein, Patron. Don Leonardo hatte keine Ochsen und auch keine Carretas. Auf den Wegen von Joveltö nach Jovel und auf den Wegen nach Tsimajovel und hinauf nach Bilja können keine Carretas fahren.
Die Wege sind zu schmal, zu sumpfig, zu bergig und zu steinig. Wir konnten da nur auf Mules transportieren, und auf vielen der Wege können nicht einmal Mules gehen, sie brechen ab und fallen in die Schluchten. Da konnten wir nur Träger einsetzen.«
»Ich kenne einige der Wege da oben«, sagte Don Laureano. »Bin oft da in Geschäften gewesen. Meilenweit muss man vom Pferde absteigen, wenn man nicht das Pferd verlieren und sich selbst den Hals brechen will. Auf der Finca habt ihr auch keine Ochsen gehabt?«
»Nur in den Herden, Senor, für den Verkauf. Und die wurden freilaufend in den Herden nach San Juan Bautista und Frontera hinaufgetrieben, wenn der Patron sie auf die Märkte nach Tabasco brachte.«
»Das tut nichts, Muchacho«, sagte Don Laureano. »Das wirst du bald lernen. Das ist nicht so schwer zu begreifen. Du scheinst mir ein kluger und gelehriger Bursche zu sein. Das lernst du bald, die Ochsen aufzujochen und einzuspannen. Und wenn du eine Weile in der Kolonne ziehst mit meinen alten Carreteros, dann lernst du bald den Weg und alle Kniffe kennen.«
»Das denke ich gewiss, Patron.«
»Die Arbeit ist nicht so schwer, wie sie erscheint, Junge«, belehrte ihn der Herr. »Wenn geladen ist, dann hast du so gut wie keine Arbeit. Die Tiere kennen den Weg besser als die Muchachos. Laufen in der schwärzesten Nacht ohne Führung. Freilich, wo die Wege schlecht sind, gibt es zuweilen heftig zu tun. Da muss nachgeholfen werden. Da muss kräftig in die Speichen gegriffen werden. Und manchmal müssen die Carretas aus den Löchern herausgehoben werden, und Steine und Pfähle müssen in die Senkungen gesteckt werden, um den Weg zu ebnen. Wenn du gut aufpasst und nicht schläfst auf dem Sitz, dann hast du kaum je einen Achsenbruch. Das macht auch Arbeit. Aber das ist dann deine eigene Schuld, und es ist die Strafe für Schlafen und Nichtachtgeben.«
»Ich werde schon gut aufpassen.«
»Ich bin sicher, es wird dir viele Freude machen. Lernst viele Wege kennen, siehst viele Ortschaften und Städte. Kommst zur Eisenbahn hinunter und hast immer Companeros, Kameraden und Begleiter.
Zuweilen hast du Familien in der Carreta. Dann fällt schon einmal ein halber Peso für dich ab als Trinkgeld, wenn du mit den Leuten freundlich bist und dich gefällig erweist. Ich habe auch nichts dagegen, wenn meine Muchachos gelegentlich einmal einen Packen von einem Ort zum andern als Beifracht mitnehmen oder einen Reisenden eine Tagesstrecke aufsitzen lassen. Die zwanzig oder dreißig Centavos, die dir dafür bezahlt werden, sind für dich. Das rechne ich nicht so streng.«
»Muchas gracias, Senor, vielen Dank.«
»Ja, nun mit dem Lohn, Andres. Darüber müssen wir ja wohl auch miteinander sprechen, um darüber ins reine zu kommen. Wie viel hat dir denn Don Leonardo täglich gezahlt?«
»Don Leonardo hat mir keinen Lohn gezahlt«, sagte der Junge der Wahrheit gemäß.
»So etwas gibt es bei mir nicht«, erklärte Don Laureano. »Jeder, der seine Arbeit tut, ist seines Lohnes wert. Das ist mein Grundsatz. Für mich arbeitet niemand umsonst. Jede Arbeit bezahle ich. Bei mir gibt es keine Peones und keine Sklaven. Ein Arbeiter will auch leben und zu etwas kommen. Ich habe da einen Encargado, einen Karawanenführer, gehabt, der hat mehr als achtzehn Jahre für mich gearbeitet.
Er hat jetzt einen schönen kleinen Laden in Suchiapa. Und ein anderer, der fünfzehn Jahre bei mir gearbeitet hat, besitzt jetzt einen sehr schönen Ranchito, einen kleinen Hof, in Alcala. Die Leute haben nicht getrunken, gut gearbeitet und immer gespart. Ich will, dass meine Muchachos zu etwas kommen und nicht ihr ganzes Leben für fremde Leute arbeiten müssen. Der Anastasio, der den Laden in Suchiapa hat, bekommt alle Waren, die er in seinem Laden führt, von mir auf Kredit. Und er bezahlt immer pünktlich. Muchachos, die für mich gearbeitet haben und die ehrlich und zuverlässig in meinen Diensten waren, finden bei mir für ihr ganzes Leben Hilfe und Unterstützung. Ich vergesse keinen meiner Burschen.«
Das war alles richtig, was Don Laureano hier erzählte. Kein Wort übertrieben. Wenn die Burschen zu alt wurden, um gute Carreteros zu sein - denn das Leben der Carreteros ist aufreibend, wie Andres bald erfahren sollte -, so half ihnen Don Laureano, irgendein kleines Geschäft zu gründen. Das waren dann seine besten Kunden, und sie dienten ihm gleichzeitig als Unteragenten in den Distrikten, wo sie sich niederließen, und sie erwiesen ihm vortreffliche Dienste als Auskunftsagenten über andere Handeltreibende in der Nähe und konnten ihm guten Rat erteilen über neue Landeigentümer und über deren Bedarf an Maschinen und Waren. Er wusste seine Geschäfte gut zu organisieren und zu erweitern.
»Wie ich gesagt habe, Andres, für mich braucht niemand umsonst zu arbeiten. Ich habe über deinen Lohn schon nachgedacht. Ich gebe dir täglich einen und zwei Drittel Reales, zwanzig Centavos. Das macht für den Monat sechs Pesos. Das ist ein guter Lohn.«
»Muchas gracias, Patron.« Für Andres war das freilich ein sehr guter Lohn; denn bisher hatte er gar keinen Lohn empfangen, und sechs Pesos waren, an seinen Bedürfnissen gemessen, eine sehr große Summe.
»Das ist nun freilich eine Schuld, Andres, die du erst abtragen musst.«
»Was für eine Schuld, Patron?« fragte Andres. »Ich habe nichts gekauft.«
»Das ist wahr, Muchacho, du hast nichts gekauft. Aber ich muss dir sagen, dass Don Leonardo an mich fünfundzwanzig Pesos verspielt hat. Und diese fünfundzwanzig Pesos musst du natürlich bezahlen.«
»Ja, Herr.«
»Das macht - lass sehen.« Don Laureano rechnete halblaut vor sich hin. »Ja, das macht zwanzig Centavos in einem Peso, das sind fünf und in fünfundzwanzig Pesos, das sind hundertfünfundzwanzig.
Das ist also hundertfünfundzwanzig Tage. Das wären dann hundertfünfundzwanzig Tage, die du arbeiten musst, ehe ich dir den Lohn in efectivo, in bar, auszahlen kann. Freilich, ich bin kein Tyrann. Wenn du irgendetwas brauchen solltest, dann sagst du es mir, und ich gebe dir einen Vorschuss von drei oder fünf Pesos, die wir dann später abrechnen.«
»Ja, Herr.«
»Das verstehst du doch, Andres?« »Ja, Herr.«
»Dann sind wir hier einig?« »Ja, Herr.«
»Natürlich bekommst du das Essen. Ihr bekommt für den Weg alle eure Rationen an Bohnen, Salz, Zucker, Kaffee, Reis,
Trockenfisch, getrocknetem Fleisch, hin und wieder einmal ein Büchschen Sardinen, und ihr bekommt das Zehrgeld, damit ihr auf dem Wege Tortillas kaufen könnt. Von meinen Carreteros ist noch nie einer je verhungert. Und wenn sie ihr Geld nicht in Tequila und Comiteco vertrinken, haben sie immer ihr Geld gespart und sind zu etwas gekommen im Leben.« »Ja, Herr.«
»Das ist dir natürlich klar, dass du mir nicht fortlaufen darfst, bis deine Schuld von fünfundzwanzig Pesos voll bezahlt ist, und wenn du von mir Vorschussgeld bekommst, so ist das auch Schuld, die erst eingelöst werden muss, ehe du daran denken könntest, dir einen andern Patron zu suchen oder gar nach Guatemala zu rennen. Da geht es den Muchachos viel, viel elender in Guatemala. Daran denke nur nicht, wenn dir vagabundierende Muchachos in Arriaga etwas erzählen wollen, dass auf den Plantagen in Guatemala viel verdient wird. Das ist böser Schwindel von den Vagabunden, die sich in Arriaga, in Tonala und in Tapachula herumtreiben. Bleibe in deinem Vaterlande, Andres, und diene deinem Herrn treu und ergeben, so wird es dir an nichts fehlen. La Patria ist immer das Beste und Sicherste im Leben, wo du unter deinesgleichen bist und niemals verhungerst. Ich bin voll überzeugt, wenn ich dich so ansehe, dass du einen guten und treuen Carretero machen wirst.«
»Ich will mir alle Mühe geben, Patron.«
»Das hoffe ich bestimmt, Andres. Als Carretero hast du eine sehr verantwortliche Arbeit. Wenn dir etwa gar Waren aus deiner Carreta abhanden kommen sollten, dass sie dir gestohlen werden oder dass sie verbrennen oder dass sie dir in die Schluchten fallen, musst du natürlich alles ersetzen. Das muss ich dir dann an deinem Lohn anrechnen, und du machst eine Schuld bei mir. Aber wenn du gut Acht gibst, kann so etwas nicht vorkommen.«
»Ich  werde  gut  achtgeben,   Patron,   dass  keine  Ware verloren geht.«
»Das weiß ich, du bist ein zuverlässiger Bursche, Andres.«
Sie ritten noch eine Weile langsam nebeneinander her. Dann warf Don Laureano seinen Zigarettenstummel fort und sagte: »Nun wollen wir ein wenig antraben, damit wir vorwärts kommen.«

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