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B. Traven - Der Karren (1930)
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SECHSTES KAPITEL

1

Die Carretas waren in Linie schön und sauber aufgefahren. Die Ochsen waren ausgespannt und abgejocht, suchten sich einen Liegeplatz und ließen sich niederfallen. Sie waren zu müde, um zu grasen.
Die Carreteros gingen herbei, sich ihr schlichtes Mahl zu bereiten. Jeder suchte seine Gruppe auf.
Während des Marsches zogen die Carretas, wie sie in die Reihe kamen. Wenn aber Rast gemacht wurde, so vereinigten sich die Carreteros jedes einzelnen Herrn, dem sie dienten, zu Gruppen, so dass die Carreteros des Don Laureano eine Gruppe bildeten, die eines andern Comisionista, eines Don Nicasio, wieder ihre Gruppe bildeten und die abermals eines anderen Herrn auch wieder ihre eigene Kochgruppe formten. Denn sie bereiteten ihre Mahlzeiten von den Rationen, die ihnen von ihren Herren für den Weg mitgegeben wurden.
Von jeder Gruppe lief ein Mann mit zerbeulten Gasolinbüchsen zum Bach, um Wasser heranzuschaffen.
Einige andere liefen in den Busch, um Holz herbeizuholen. Andere schnitten die Stäbe zu, über die Kochkessel gehängt wurden.
Der Abend war bereits weit vorgeschritten. Es war ein ungemein langer Marschtag gewesen. Bald loderten bei allen Gruppen die Campfeuer auf. Am Feuer standen und über dem Feuer hingen, an schnell und doch geschickt gearbeiteten Gestellen, alle möglichen Behälter, in denen gekocht wurde.
Die Leute kochten schwarze Bohnen in genügender Menge, damit die Bohnen, die lange Zeit zum Kochen brauchten, auch noch zum Frühstück reichen sollten. Sie kochten Reis. Sie wärmten Tortillas auf.
Und überall wurde Kaffee gekocht, das unvermeidliche Getränk bei allen Mahlzeiten reisender Leute in Mexiko. Wenn Kaffee knapp war, wurde zuweilen auch Pinol gekocht. Pinol sind zu Staub zerriebene geröstete Maiskörner. Fehlte es auch an Pinol, so wurde Tee aus Zitronenblättern gekocht, die am Wege irgendwo abgepflückt worden waren.
Die Bohnen wurden weich gekocht und dann mit Schweineschmalz, das in Flaschen mitgeführt wurde und das des heißen Klimas wegen immer flüssig war wie Ö1, schmackhaft gemacht. Der Reis wurde nicht nach europäischer Art gekocht, sondern nach mexikanischer. In einer Pfanne wurde Schweineschmalz sehr heiß gemacht. War das Schmalz heiß genug, dann wurden die trockenen Reiskörner in die Pfanne geschüttet und so lange hin und hergerührt, bis sie braun waren. Dann wurde langsam, beinahe tropfenweise, Wasser hinzugeschüttet. Wurde das ungeschickt gemacht, dann schlug die Flamme in die Pfanne, und es gab ein hochaufloderndes Feuer, das oft den ganzen Reis ausbrannte.
Auch der Kaffee wurde nach mexikanischer Art gekocht. In ein kegelförmiges Blechkännchen wurde Wasser geschüttet. Dann kam eine Handvoll gemahlener Kaffee hinein und ein gutes Stück braunen ungereinigten Rohzuckers. Das wurde zusammen aufgekocht wie eine Suppe. Der Kaffee wurde nicht geseiht, sondern der Satz blieb im Kaffee und wurde mitgetrunken.
Einige Carreteros hatten auf dem Wege ein Kaninchen erwischt, andere einen wilden Truthahn geschossen, wieder andere hatten ein Gürteltier gefangen. An allen Feuern lagen die Hunde herum, die auf Knochen und Reste der Mahlzeit warteten. Alle Carreteros brachten Hunde mit sich.
Auf ihren Märschen fanden die Carreteros genug Gelegenheit, herumlaufende Hühner und kleine Schweinchen zu fangen, um ihre Mahlzeiten zu bereichern. Aber Carreteros bestehlen keine Farmer, und am allerwenigsten bestehlen sie kleine indianische Bauern.

 

2

Viele Frauen waren diesmal mit der Karawane. Frauen, die allein reisten, Frauen mit ihren Kindern, Frauen mit ihren Mädchen. Einige der Frauen reisten nach Jovel, andere nach Balun Canan oder weiter in das Innere des Staates oder gar bis hinauf nach Tabasco. Es waren alles Frauen der untersten Volksschichten, wo die Männer nicht genügend Geld hatten, um die Frauen zu Pferde reisen zu lassen. Denn selbst wenn der Mann vielleicht ein Pferd oder gar einige hatte, so musste er entweder selbst mitreisen und dadurch seine Zeit verlieren und sein Geschäft unter fremder Aufsicht lassen, oder er musste zuverlässige Burschen mieten, die seine Frau begleiteten. Das wurde sehr teuer. Reisten die Frauen jedoch mit einer Karawane, so zahlten sie für das Aufsitzen einen Peso oder vielleicht gar nur einen halben Peso. Und weil immer mehrere Frauen in einer Karawane reisten, so fühlte sich eine Frau nicht gar so vereinsamt, als wenn sie völlig allein unter den fremden Männern gewesen wäre.
Es traf sich zuweilen, dass in einer sehr kleinen Kolonne nur eine einzige Frau reiste, entweder ganz allein oder nur mit einem Mädchen. Aber es kam niemals vor, dass eine Frau von einem Carretero belästigt worden wäre, weder am Tage noch in der Nacht, es wäre denn, dass sie selbst Anlass dazu gegeben hätte und sie etwas wünschte, was sie infolge Abwesenheit ihres Mannes nicht haben konnte und daran gewöhnt war wie an das tägliche Essen und Trinken. So etwas geschah. Denn die Frauen waren zumeist Indianerinnen oder doch mehr indianischen Blutes als europäischen. Und sie gehörten derselben Volksklasse an, der die Carreteros entstammten. Da eine Reise oft bis zu drei und vier Wochen dauerte, so konnte man die Frauen, die ja nicht aus Holz gehobelt sind, sondern lebendiges warmes Blut in ihren Adern haben anstatt kalten Kirschblättertees, darum schwerlich anklagen. Die Schuld wird ja auf jeden Fall immer dem eigenen Manne zugeschoben. Warum lässt er sie allein! Der Mann hat ja, wie immer er es auch drehen und wenden mag, überhaupt keine Sicherheit. Es ist bis heute noch nicht mit Klarheit festgestellt, für welche Dienstleistung Beelzebub, in Gestalt einer Schlange, der Eva einen Apfel bezahlte. Es gab damals weder goldene Armbänder noch Diamantohrringe noch Schecks. Eva würde ein Perlenhalsband für zweitausend Dollar vorgezogen haben. Aber sie nahm, was sie kriegen konnte, um nicht unbezahlt bleiben zu müssen. Andere begnügen sich ja auch mit drei Pesos, wenn sie keine fünfzig kriegen können.
Viele Carreteros haben auf den Reisen ihre Frauen bei sich. Diese Carreteros gelten ihren Herren oft zuverlässiger als die ledigen. Diejenigen Carreteros, die ihre Frauen daheim lassen, bekommen zuweilen Sehnsucht nach ihren Frauen. Sie laufen fort und lassen die Carreta in irgendeinem Ort am Wege stehen oder übergeben sie einem der übrigen Carreteros zum Mitführen.
Die Frauen der Carreteros essen natürlich mit von der Ration, die ihren Männern auf den Weg gegeben wird. Aber die Rationen sind reichlich. Es sind ja nur schwarze Bohnen und Reis, Dinge, die hier geringen Wert haben. Kartoffeln bekommt ein Carretero in seinem ganzen Leben vielleicht nicht zwei zu essen. Die sind zu teuer. Mit Kartoffeln geht selbst der Herr in seinem eigenen Haushalt sehr sparsam um. Eine grinsende Ironie! In Mitteleuropa und in Nordeuropa ist die Kartoffel das Brot des Volkes; auf dem amerikanischen Kontinent, wo die Kartoffel ihren Ursprung hat, gehört sie zu den teuersten Lebensmitteln.
Ob von den Rationen der Carreteros einer mehr oder weniger mit isst, fühlt der Patron nicht. Er sieht auch nicht darauf. Er kümmert sich nicht darum, ob seine Carreteros ihre Frauen mit sich führen oder nicht. Viel weniger kümmert er sich oder irgendein anderer Mensch darum, ob der Carretero und seine Frau gesetzlich verheiratet sind oder nicht. In welcher Form der
Verehelichung ein Carretero mit seiner Frau lebt, ist allein nur Sache des Carreteros und seiner Frau. Eine Privatsache, die nur die beiden angeht, sonst niemand im Lande.
Der Patron hat auch noch andere Gründe, warum er die paar schwarzen Bohnen, die eine Frau des Carreteros isst, nicht bekrittelt. In der Frau des Carreteros bekommt der Frachtunternehmer einen Arbeiter mehr, den er nicht zu bezahlen braucht, der ihn nur das billige Essen kostet. Die Frauen der Carreteros sind zwar nicht nötig für einen guten und gesicherten Marsch einer Karawane. Aber sie nützen sehr und helfen in vielen Dingen.
Sie helfen beim Suchen und Einfangen der ausgebrochenen Ochsen. Und wenn sie nicht suchen helfen, so können alle Carreteros sich auf die Suche begeben, und die Frauen bleiben im Lager und bewachen die Güter. Oder sie kochen für ihre Männer das Essen, und die Männer können in der Zwischenzeit Wagenbrüche ausbessern. Oder wenn die Frauen kochen und die Hemden und Hosen für ihre Männer auswaschen und ausflicken, können die Männer sich besser ausschlafen, und sie sind dann besser für die Arbeiten auf dem Marsch gerüstet und dösen nicht ein. Und wenn der Weg keine besonderen Schwierigkeiten hat, schläft zuweilen der Mann in der Carreta sich eine Leiste herunter, und die Frau führt die Ochsen. Was kann der Patron mehr verlangen für die Handvoll schwarzer Bohnen, die die Frau eines Carreteros von der Ration mit isst!

 

3

Es haben nicht alle Carreteros Frauen. Wohl kaum der fünfte Teil oder noch weniger der auf diesen Märschen beschäftigten Ochsentreiber führt Frauen mit sich.
Manche der Carreteros leben mit ihren Eltern oder mit verheirateten Geschwistern in irgendeinem Ort am Wege. Andere leben im Hause ihres Herrn, wo ihnen, wenn sie nicht auf dem Marsch sind, ein Winkel offengelassen wird. Wieder andere haben eine Schar von kleinen Kindern in ihrer heimatlichen Hütte, und die Frau muss bei den Kindern bleiben. Andere hatten eine Frau, aber sie ist ihnen fortgelaufen; oder sie wurde des ewigen Marschierens auf den elenden Wegen, bei Nacht und bei Tage, in tropischer Hitze und in tropischen Wolkenbrüchen, endlich müde; oder sie ist schwanger; oder ihre Eltern oder die Eltern ihres Mannes wollen sie daheim in der Hütte haben.
Wieder andere Carreteros sind unzuverlässige Ehemänner. Sie werden eine Frau bald leid und schieben sie entweder sanftmütig oder mit Geschimpfe und Rippenstößen ab. Und wieder andere sind unverbesserliche Einzelgänger, die nur gelegentlich zu einer Frau gehen, die aber im übrigen, und besonders auf den Märschen, keinen Rock um sich sehen mögen. Sie ergötzen sich an dem Gezanke und Gestreite ihrer beweibten Kameraden.
Darum sieht man zuweilen Kolonnen, wo auch nicht eine Frau unter den Carreteros ist. Bei diesen Karawanen geht es lustig, fröhlich und wild zu. Hier gehen die Männer unbekümmert ihren Gefühlen und ihrem Vergnügen im Erzählen und Anhören der ausschweifendsten Geschichten und Anekdoten nach.
Es ist ja die große Untugend einer Frau, sich immer in das Leben eines Mannes hineinzudrängen und hineinzumanschen. Am lieblichsten ist die Frau, die man in eine Schublade legen kann und die man nur dann hervorholt, wenn man sie nötig hat; dann wickelt man sie wieder schön und sorgfältig ein und stellt sie weg bis zum nächsten Male. Aber eine solche Frau ist ein süßer Traum der Phantasie des Mannes. Sie ist ein Kunstprodukt. Sie ist seltener als das Ei des Vogels Phönix. Und wahrhaft gebenedeit ist der Mann, der eine solche Frau hat. Ein solcher Mann kann es zu etwas sehr Großem im Leben bringen.
Carreteros haben keine Zeit, auf die Suche nach dem verwunschenen Schatze einer idealen Welt zu gehen. Sie müssen, wie alle unter dem Joch des Fleisches seufzenden Männer, sich mit dem begnügen, was zu haben ist; und müssen dann versuchen, auf einem mit Rosen bestreuten Wege den Dornen auszuweichen.
Das einzige, was sie auf diesem Wege lernen, ist die Erfahrung, dass an einem Rosenstrauch hundertmal mehr Dornen als Rosen sind. Und was für Dornen!
4

Außer den Frauen, die reisen müssen, entweder zu einem Arzt, oder zu Verwandten, oder zu einer Hochzeit, oder weiß der Geier wohin und wozu, und außer den Frauen der Carreteros sind auch noch oft in der Karawane Handelsfrauen, die Waren in Arriaga oder in Tonala aufgekauft haben und die mit der Karawane in das Innere des Staates ziehen, um dort auf Märkten und auf Festen ihre Geschäfte zu machen. Diese Handelsfrauen und die reisenden Frauen blieben auf dem Lagerplatze nicht bei der Karawane und an deren Feuern. Sie hatten Reisegeld mit sich. Und weil Ranchos in der Nähe waren, gingen sie, sobald die Karawane zum Halten gekommen war, in die Herrenhäuser der Ranchos.
Dort fanden sie Frauen, die Frauen des Rancheros oder dessen Töchter oder dessen Mutter oder Tante oder was sonst an einer Familie in Mexiko alles herumhängen mag.
Zumeist kannten sie sich gegenseitig, waren gar sehr weit versippt mit ihnen; und kannten sie sich persönlich nicht, so hatten sie irgendwo im Staate gemeinsame Bekannte. So wurde geschwätzt und geschwätzt, die halbe Nacht hindurch. Die Frauen auf den einsamen Ranchos waren ja immer so froh, Neuigkeiten, Skandale und Klatschereien aus anderen Orten zu hören.
Die Frauen aßen am Familientische des Rancheros. Es wurde ihnen dafür oft gar nichts angerechnet, und wenn sie doch etwas zu bezahlen hatten, so waren es nur zwanzig oder dreißig Centavos, mehr der Form wegen als um eines Verdienstes willen.
Wenn sich alle genügend ausgeredet hatten und alle Klatschereien an den Mann, richtiger an die Frau, gekommen waren und allen die Augen zuzuklappen begannen, dann wurde ihnen eine Bettstatt angeboten, oder es wurden auf dem Fußboden, der dick mit Tannennadeln bestreut war, Matten ausgebreitet.
Hier konnten die Frauen dann ihr Bettzeug, das ihnen die willigen Carreteros herbeigetragen hatten, für die Nacht herrichten.
Waren keine Ranchos oder Haciendas in der Nähe, dann mussten freilich diese Frauen sich mit den Schlafplätzen abfinden, die sich in den Carretas auf den Waren herrichten ließen. Das war sehr unbequem.
Aber was wollten sie machen?

 

5

Die Frauen der Carreteros, nicht so sehr an die Gewohnheiten eines geregelten häuslichen Lebens gebunden, schliefen, wo sie Platz fanden. An ein hartes und knorriges Leben gewöhnt, meist von Kindheit an, konnten sie schlafen, wo sie lagen. Ganz gleich wo es war. Wenn Platz in der Carreta war und die Güter in der Carreta ließen sich zu einem Lager zurechtrücken, dann schliefen sie in der Carreta.
Wenn kein Platz in der Carreta war oder die Frachtgüter waren zu unregelmäßig in ihren Formen und Packungen, um ein Lager herrichten zu können, so schliefen sie, gleich ihren Männern, auf dem Erdboden unter der Carreta. Oder sie kauerten sich nur hin, mit dem Rücken gegen ein Rad gelehnt. Oder sie legten sich neben die Carreta in das Gras. Irgendwie fand sich eine Möglichkeit, das Moskitonetz über sich auszubreiten, auf jenen Teilen des Weges, wo die Luft dick war mit Insekten.
Die Carreteros selbst kannten den Sinn des Wortes Unbequemlichkeit überhaupt nicht. Hatten sie ihre Frau mit sich, so waren sie freilich immer darauf bedacht, ihr ein Lager zu bereiten, so gut und so bequem das nur eben möglich war. Aber für sich selbst dachten sie an nichts anderes, als zu ruhen und zu schlafen.
So müde gearbeitet waren sie immer, dass sie, wenn sie sich neben die Carreta hingelagert hatten, selbst von einem strömenden Regen, der sie durch und durch weichte, nicht aufwachten. Oder wenn sie doch aufwachten, so waren sie so abgespannt, dass sie keine Bewegung machten, unter die Carreta zu kriechen. Sie zogen nur die Decke dichter über den Kopf.
Viel genützt hätte es ihnen sowieso nicht, während des Regens unter die Carreta zu kriechen. Denn wenn es ein guter vollwertiger tropischer Regen war, so stand bald das ganze
Lager wie in einem See.
Und wenn da Bretter und Seile herumlagen, so begannen sie fortzuschwimmen.
Bei einem solchen Regen dachte der Carretero auch nie an sich. Er dachte an die Fracht, die er hatte.
Er sprang auf und zog die Matten, die an beiden Enden der Carreta die Waren vor Staub und Wetter schützten, dicht zusammen, damit der Regen nicht in den Karren peitschen und die Güter verderben konnte. Er knüpfte die Bedachung fest, wo sie sich während des Marsches gelöst hatte, und stopfte Risse mit Lumpen oder Gras zu.
Die Hunde wurden lebhaft und suchten sich ein trockenes Plätzchen zwischen den Lücken, die Kisten und Säcke offengelassen hatten.
Der Carretero war kein Hund, der sich zwischen Lücken quetschen konnte. Er war ein Mensch mit einer Seele, die nach einem arbeitsreichen und mühevollen Erdendasein dereinst in das Paradies fliegt.
Er war ein Mensch, der lieben, weinen und lachen konnte. Er war ein Mensch, der von einer Mutter geboren worden war, die ihn liebte und sich vor Weh zergrämte um das Wohlergehen ihres Kindes.
Er war ein Mensch wie sein Patron. Ein Mensch wie der mit Orden überreich behängte Präsident seines Vaterlandes, der große Staatsmann Don Porfirio.
Aber sein Patron konnte kein Geld dafür ausgeben, um seinen Carreteros ein kleines wasserdichtes Zelt zu kaufen und ihnen ein kleines, leichtes, zusammenlegbares Bettgestell mitzugeben, das, auch wenn es auf einem versumpften Lagerplatz stand, dem Carretero einen trockenen Schlafplatz sicherte.
So viel wurde an den Frachten nicht verdient, der Patron hatte an andere Ausgaben zu denken, die wichtiger waren als solcher
Unfug. Von Don Porfirio, dessen Bild im großen Wohnzimmer des Patrons in einem breiten schweren Goldrahmen an der Wand hing, wurden viele schöne Gesetze diktiert.
Aber unter den tausend und tausend wunderschönen Gesetzen war nicht eines und auch nicht ein einziges, das den Carretero auf eine höhere Stufe erhob als die Zugochsen, die er vor die Carreta seines Patrons spannte. Wenn Ochsen im strömenden Regen im Freien und in einem See ausruhen können, warum in aller Welt und um aller Heiligen willen wird man denn beim Fabrizieren von Gesetzen an einen Carretero denken! Die Ochsen kosten heftig Geld. Der Carretero kostet kein Geld. Wenn es ihm nicht gefällt, so kann er gehen, sobald er seine Fracht heil und sicher am Bestimmungsort abgeliefert hat. Es gibt genug Carreteros, die auf eine offene Stelle warten.
Der Teufel auch, warum so viel Gerede um einen indianischen Carretero!
Besser für seine Arbeit, er liegt draußen im dicken Regen. Dann verschläft er nicht. Es wird ihm zu ungemütlich. Er steht mitten in der Nacht während des gießenden Regens auf, spannt die Ochsen ein und fährt weiter. Gewinnt dabei vielleicht gar einen halben Tag an der Reise. Der Patron bekommt einen guten Namen als ein Frachtunternehmer, der seine Zeit einhält. Das dient dem Handel und fördert das Wohlergehen des Vaterlandes.

 

6

Von diesem Lagerplatze aus, weiter in das Innere des Staates, waren keine Banditen zu fürchten. Gefährlich wurde es erst wieder in der Nähe von Balun Canan, wo sich auf den Wegen zuweilen Überfälle ereigneten. Es waren nur drei oder vier Banditen, die Brüder zu sein schienen. An Carretas wagten sie sich nur heran, wenn es gerade nur zwei oder vielleicht drei waren. Größere Kolonnen ließen sie in Ruhe. Wirklich gefährlich waren sie einzelnen Reisenden, die zu Pferde kamen, und sie waren im Staat verrufen, weil sie den Überfallenen stets ermordeten, wohl um nicht entdeckt zu werden.
Da von hier aus die nächsten hundertzwanzig Kilometer des Weges sicher waren und weil zahlreiche Carretas, mehr als drei Viertel der Karawane, überhaupt nur bis Jovel und einige nur bis Shimojol Güter führten, so begann von hier aus die große Karawane sich wieder in kleine Gruppen von acht bis zehn Carretas aufzulösen.
Jede Kolonne hatte ihren Führer oder Encargado, der für die Kolonne verantwortlich war und die Märsche bestimmte. Bei einer Kolonne loderten die Morgenfeuer schon um ein Uhr des Nachts wieder auf. Der Encargado hatte gesehen, dass seine Ochsen in guter Verfassung waren; und weil seine Carretas nicht zu schwer geladen waren, so wollte er noch am frühen Vormittag in Niba sein. Niba lag nur etwa sechs Kilometer von dieser Hochebene entfernt. Er hatte dort mehrere Frachtgüter an Ladeninhaber abzuliefern.
Seine Leute fütterten ihren Ochsen Mais. Dann aßen sie ihre schwarzen Bohnen und tranken ihren Kaffee. Und als sie damit fertig waren, begannen sie aufzujochen und einzuspannen. Dann lief ein Bursche hinüber zu den Ranchos und klopfte an eine Tür, hinter der, wie ihm am Abend vorher gezeigt worden war, die Frauen schliefen, die mit dieser Kolonne weiterreisten.
»Ola, Senora, vamonos, listo. He, Senora, wir marschieren ab, alles ist fertig.«
»Orito, Muchacho, gleich, gleich, ich komme schon«, rief die Frau, sofort wach werdend.
Die Frauen standen auf, ohne sich Zeit zu nehmen, sich zu recken und sich auszugähnen.
Sie warfen den Rock über und öffneten die Tür. Der Bursche sprang hinein in den Raum, und mit einigen gewandten Griffen hatte er das Bettzeug der Frauen in je einem Bündel aufgerollt und zusammengeschnürt.
Die Frauen tauchten je den Mittelfinger der rechten und den Mittelfinger der linken Hand in ein kleines Schälchen aus ausgehöhltem Kürbis, in dem sich Wasser befand, und wischten sich mit den angenetzten Mittelfingern die Augen aus. Mit dieser Bewegung ist bei Männern und Frauen, wenn sie auf solchen Reisen sind, das Waschen des Gesichts beendet.
Daraufhin hielten sie die gehöhlten Handflächen dem Burschen hin, und der goss das Wasser aus dem Kürbisschälchen über die Hände jeder Frau. Das Wasser reichte für die vier Frauen, die sich hier wuschen.
Es war ein Drittelliter Wasser, über dessen absolute Reinheit man sich gewöhnlich nicht in Diskussionen einlässt.
Die Frauen rieben die so angefeuchteten Hände trocken und strichen sich damit über die Haare. Mit einem kleinen Taschenkamm kämmten sie in vier Zügen ihr Haar glatt, und sie waren für die Weiterreise gerüstet.
Das alles ging so schnell, dass nur zwei Minuten vergangen waren, seit der Muchacho an die Tür geklopft hatte und die Frauen schon aus einigen Tassen, die ein Mädchen des Ranchos herbeigebracht hatte, einige Schluck heißen Kaffees in sich hineingossen. Das Mädchen war von dem Klopfen gleichfalls geweckt worden, den Kaffee hatte sie in der heißen Asche auf dem Herd warm gehalten.
Kein Mexikaner macht mehr Umstände auf diesen Wegen. Und unsere Großväter machten es ebenso, als es keine Schlafwagen in einem Eisenbahnzug gab und man die ratternde Postkutsche als das schnellste und bequemste Beförderungsmittel betrachtete. Da eine von Ochsen gezogene Carreta nicht ganz so vornehm ist wie eine federnde Postkutsche der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts, so kann man auch nicht erwarten, dass die Reisenden sich aufschniegeln und aufbügeln, als sollten sie mit dem Schah von Afghanistan im Gesandtensaal des Hotel Ritz zu Abend speisen. Eine Toilette, die nicht ihrer Umgebung angepasst ist, zerstört die Harmonie des Lebens. Und für Harmonie der Dinge in seiner Umgebung hat der Mexikaner ein sehr feines und kultiviertes Gefühl.
Die Carreteros waschen ihr Gesicht während der Reise, die drei oder vier Wochen dauert, überhaupt nicht. Auch rasieren sie sich nicht und schneiden sich nicht die Haare. Diejenigen, die indianischen Blutes sind, haben keinen oder nur einen ganz unscheinbaren Bartwuchs. Aber einige Stämme haben auch starke Bärte. Und die Carreteros, die jenen Stämmen angehören oder deren Voreltern sich mit Angehörigen jener Stämme gemischt haben, sehen auf dem Marsche jeder einzelne wie fünf Menschenfresser aus, die ihres fürchterlichen Aussehens wegen von des Teufels Tante aus der Hölle geworfen worden sind.
Freilich wird dieses romantische Äußere der Carreteros zuweilen von einem Missklang gestört. Wenn sie genügend lange Zeit in der Nähe eines Flusses rasten und nicht zu müde sind, so baden sie, und wenn sie noch mehr Zeit haben, so baden sie gleich zwei Stunden auf einmal. Aber die Harmonie ist dennoch wieder vorhanden. Das erste, was der Carretero am Morgen tut, ehe er auch nur einen Schluck Kaffee nimmt, ist, dass er sich gründlich und ausdauernd den Mund wäscht. Und am Morgen oder am Abend, oder während die Carretas marschieren, ehe er auch nur einen Bissen seines mageren Essens in den Mund schiebt, wäscht er sich die Hände. Und wenn er auf dem Wege kein Wasser findet oder seine Kürbisflasche, in der er Wasser mit sich führt, ist leergetrunken, dann isst er nicht, weil er sich nicht erst die Hände waschen kann. Wenngleich das Waschen der Hände oft nur ein symbolisches Waschen genannt werden kann, weil er nur zehn Tropfen Wasser zum Waschen zur Verfügung hat, die Hände muss er sich gewaschen haben, ehe er essen kann.
Drei Minuten später, nachdem die Frauen geweckt worden waren, saßen sie, ein Viertel gewaschen und ein Achtel gefrühstückt, in ihren Carretas, und die Kolonne war auf dem Marsche.

 

7

Inzwischen bereitete eine zweite Kolonne ihren Weitermarsch vor. Bei ihr ging es langsamer. Die Ochsen mussten gesucht und aus den Ochsen anderer Kolonnen herausgefischt werden. Und das war nicht so leicht. Denn es war noch tiefschwarze Nacht.
Bei einer anderen Kolonne wurde ein Radbruch ausgebessert. Wieder bei einer anderen mussten Fleischwunden der Ochsen gedoktert werden. Eine dritte Kolonne konnte, nach einer sorgfältigen Prüfung ihres Encargados, wahrscheinlich erst gegen Mittag weiterreisen. Die Ochsen waren zu sehr herunter, waren zu sehr ermüdet und konnten zum Aufstehen nicht angetrieben werden. Infolge ihrer großen Übermüdung hatten sie in der Nacht nur wenig gegrast. Die Carreteros schleppten den Tieren den Mais bis dicht an die Mäuler heran, um sie zum Essen anzuregen. Die Ochsen hatten vier weite Fahrten gemacht, ohne ausgeruht zu werden. Und jede Fahrt hatte drei Wochen gedauert. Dies war die Kolonne des Don Laureano, bei der Andres eine Carreta führte. In Don Laureanos Frachtunternehmen hatten Carreteros und Ochsen besonders schwer und ausdauernd zu arbeiten, weil er immer reichlich Frachten hatte. Wenn eine große Fracht abgeliefert war, so wartete schon eine neue auf Beförderung.
Das ständige Arbeiten der Ochsen ging aber nur bis zu einer äußersten Grenze. Waren die Ochsen zu weit herunter und zu übermüdet, weil sie keine Ferien auf der Weide gehabt hatten, so geschah es, dass sie am Wege liegen blieben und weder durch das beste Futter noch durch das gütigste Zureden weitergebracht werden konnten. Schläge blieben erst recht ganz ohne Wirkung. Oft genug taten die Ochsen dasselbe, was auch die Mules tun. Sie legten sich nieder auf dem Wege, verweigerten die Annahme irgendwelchen Futters und starben.
Die Ochsen und Mules benötigten drei- und viermal im Jahr
Ferien von je drei bis vier Wochen auf einer guten Weide. Und sie bekamen diese Ferien. Ochsen und Mules waren teuer. Und darum war deren Selbstmord sehr kostspielig für ihren Herrn. Die Carreteros bekamen nie Ferien. Sie arbeiteten Tag um Tag, Sonntag und Festtag gleich, Tag oder Nacht, in Regen und tropischer Glut, in Sandstürmen und wilden Gewittern, die den Himmel zu zerbersten schienen. Die Carreteros blieben auch zuweilen am Wege liegen. Aber sie verübten nie Selbstmord aus Übermüdung. Das war nur Ochsen und Mules vorbehalten. Darum waren sie ja eben auch dumme Ochsen und noch dümmere Mules. Und wenn ein Carretero wirklich auf dem Wege verkam oder beim Auswuchten einer Carreta, die in ein Loch gerutscht war, die Schlucht hinunterglitt und zerschmettert wurde oder unter die Räder einer Carreta geriet, das war kein Verlust für den Unternehmer. Carreteros waren bei weitem billiger als Ochsen und Mules. Sie kosteten nicht einen Centavo Ankaufskapital, es wäre denn, dass der Unternehmer für einen Carretero, den er einstellte, die Schuld übernahm, die er bei seinem früheren Herrn stehen hatte. Und eine solche Schuld war immer nur sehr gering im Vergleich mit dem Gelde, das ein Ochse kostete.

 

8

Die einzelnen Schichten in den Fahrzeiten der Carretas waren nicht geregelt. Diese Fahrzeiten wurden von dem Encargado nach seinem besten Urteil bestimmt.
Im heißen Tieflande fuhren die Carretas nur nachts, und sie ruhten am Tage. Unter großer Hitze laufen die Ochsen nicht, oder sie ermüden schon nach zwei Stunden völlig. Sie sind Tiere der gemäßigten Zonen, und sie bleiben Tiere der gemäßigten Zone, auch wenn sie auf einer Weide in den tropischen Regionen geboren werden. Es ist nicht allein die Hitze, die auf die Arbeitsfähigkeit der Ochsen einwirkt.
Es sind auch die Tausende von großen Bremsen, die die Ochsen umschwärmen und ihnen das Blut abzapfen.
Diese Insekten beißen nur während des hellen Sonnenlichtes. Wenn eine schwarze Wolke die Sonne bedeckt, verschwinden sie wie in das Nichts.
Im kühlen Hochlande reisen die Carretas aber auch während des Tages. jeder einzelne Marsch dauert vier bis sechs Stunden, je nach der Schwierigkeit des Weges und je nach der Entfernung des einen guten Lagerplatzes von dem nächsten. Dann wird vier bis fünf Stunden gerastet. Hierauf wird wieder weitermarschiert.
Zu einer Wegstrecke von hundert Kilometern braucht eine Carretakolonne fünf bis sieben Tage.
Die Fracht wird nach Gewicht berechnet. Zuweilen auch nach dem Raum, den sie einnimmt.
Die Gewichtseinheiten sind Arroba und Quintal. Eine Arroba hat elf und ein halbes Kilo; ein Quintal fünfundvierzig Kilo. Die Fracht für eine Arroba und für eine Entfernung von hundert Kilometern ist in der Regel ein Peso, zuweilen drei Viertel Peso und oft gar nur ein halber Peso. Das Gewicht wird meist nicht mit einer Waage festgestellt,  sondern es wird von dem
Encargado geschätzt. Auch die Entfernung wird geschätzt. Sie wird nicht nach Kilometern berechnet, sondern nach Leguas. Eine Legua sind etwa vier Kilometer. Aber diese Legua schätzt der Encargado nach der Zeit, die er benötigt, eine Legua zurückzulegen. Manche Strecke, die er als eine Strecke von zehn Leguas bezeichnet, hat in Wirklichkeit, wenn man sie genau abmisst, nur Acht und eine halbe oder gar nur sieben Leguas, während ein anderer Weg, den er auf zwölf Leguas schätzt, in Wirklichkeit fünfzehn Leguas haben mag.
Aber die Entfernungen, wenn sie einmal von Carreteros und Arrieros geschätzt worden sind, bleiben bestehen. Sie bleiben meist dann noch für lange Zeit bestehen, wenn von Ingenieuren die Strecken genau abgemessen wurden. Die Carreteros, die jene Wegstrecken abgeschätzt haben, sind seit dreihundert Jahren tot. Niemand weiß ihren Namen. Aber alle Frachten werden noch heute nach jenen Schätzungen berechnet.
So hilflos und roh, wie das auch für einen zivilisierten Europäer erscheinen mag, gleicht sich dennoch am letzten Ende alles aus in wunderschöner Harmonie. Ob das fünf Leguas mehr oder weniger sind, ob die eine Last eine halbe Arroba mehr oder weniger wiegt, wird nicht so genau genommen. Der Frachtunternehmer einigt sich mit seinen Auftraggebern, entweder wenn er die Fracht übernimmt oder wenn er sie abliefert.
»Nun hören Sie einmal, Don Laureano, da haben Sie mir doch für die Kiste zehn Arrobas berechnet, das sind kaum acht. Wie können Sie mir denn da fünfzehn Pesos Fracht abverlangen?« sagt der Kaufmann.
Darauf sagt Don Laureano: »Don Miguel, das müssen Sie aber doch zugeben, dass die Kiste groß und schwer ist. Ich weiß ja nicht, was Sie da alles drin haben. Fünfzehn Pesos ist wirklich billig genug. Ich weiß nicht, wie ich dabei auf meine Kosten kommen soll. Der Mais wird jeden Tag teurer, und die Muchachos wollen immer höhere Löhne haben. Sie wissen gut,
Don Miguel, dass dies beinahe vierzig Leguas sind, aber ich habe Ihnen nur fünfunddreißig in Anrechnung gebracht. Immerhin, ich bin ja auch nicht so hart, und wir machen auch wieder andere Geschäfte miteinander. Gut, zahlen Sie mir dreizehn fünfzig. Aber das können Sie wirklich bezahlen, Don Miguel.«
Sie einigen sich dann auf zwölf Pesos achtzig Centavos, alle sind glücklich, und es bleibt kein Ärger über den Handel zurück.
Wenn Don Miguel bei der Eisenbahn Expressfracht bezahlt, dann bezahlt er auf den Centavo genau, was der Frachtzettel besagt. Denn die Eisenbahn macht sich nichts daraus, ob Don Miguel ihr Freund bleibt oder nicht. Und die Beamten, die ja für die Frachtsätze der Eisenbahn nicht verantwortlich sind, lassen sich in lange Zwiegespräche mit Don Miguel nicht ein. Sie haben ihre festgesetzten Arbeitsstunden; und wenn die abgelaufen sind, gehen sie nach Hause, ob Don Miguel seine Kiste empfangen hat oder nicht.

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