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B. Traven - Der Karren (1930)
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ZEHNTES KAPITEL

1

Andres war zur Stadt gekommen, als es gegen Abend ging.
Das ziellose Hinundherwogen der Menschen war dichter geworden. Das Schreien der Händler war nun lauter, wenn auch heiserer. Überall wurde geschrieen und gelärmt. Niemand wusste zu sagen, warum eigentlich. Aber es ist charakteristisch für Menschen, dass, wenn viele beieinander sind, sie zu schreien lieben. Jeder einzelne wünscht jeden anderen zu überschreien, weil jeder einzelne das, was er sagen will, für wichtiger hält, als was der andere sagen will.
»Aqui, aqui, la seda legitima de Francia y la mas barata. Hier, allein bei mir, ist zu haben die allein echt französische Seide zum billigsten Preise in der Welt.«
Die echt französische Seide, die der schreiende Händler in langen Fahnen hoch in die Höhe hielt, um sie wallen und ihren Glanz schillern zu lassen, war ein Henequen-Produkt, gewoben in Puebla oder in Orizaba. Aber weil er so laut schrie, dass es französische Seide sei, glaubten es die herumstehenden Frauen; denn wenn der Mann lügen würde, dann würde er ja bei solchem Schreien an seinen eigenen Lügen ersticken.
Der Seidenhändler war ein Araber aus Tabasco, lange genug im Lande, um zu wissen, wie man Mexikaner in kleinen Städten am geschicktesten in Spanisch betrügen und anlügen kann.
Ihm zum Nachbar hatte er einen Kubaner, der Medizinen verkaufte. Es gab kein Gebrechen der Menschheit, für das er nicht die richtige Medizin hatte. Würzelchen, Kräutchen, Pillen, Extrakte, Wässerchen.
Ein Spanier hatte ein Tischchen, von dem aus er peruanisches
Zahnpulver verkaufte. Es war das Pulver, wie er behauptete, das schon die Inkas gebraucht hätten. Er hatte es aus den unterirdischen Gewölben der Ruinen in Peru und Bolivia herausgeholt. Es war nicht viel von jenem Wunderzahnpulver vorhanden. Nur einige hundert Kilos noch. Und wenn er die verkauft hatte, hatten die Leute, die ihre Zähne dauernd gesund erhalten wollten, das trübe Nachsehen. Er riet den Leuten, gleich fünf Päckchen statt nur eins zu kaufen. Dies sei die beste Kapitalanlage, die sie machen könnten.
Wenn er soweit war in seiner Rede, so nahm er einen kleinen indianischen Jungen her, der da herumlungerte.
Mit vielen Worten und mit großen Gesten wie ein Zauberer, sperrte er dem Jungen den Mund auf und rieb ihm ein wenig Pulver auf die Zähne. »Leute, bei diesem Pulver braucht ihr keine Zahnbürste.
Bei diesem Wunderzahnpulver der alten Inkas braucht ihr nur mit dem Zeigefinger die Zähne zu putzen, ganz wie es auch die alten Inkas taten«, sagte er, während er dem Jungen mit seinem Finger die Zähne hin- und herpolierte. Wenn er, immer redend und anpreisend, damit fertig war, goss er dem kleinen Jungen einen Schwupps Wasser in den Mund. Der Junge musste den Mund ausspülen und das Wasser ausspucken. Dann sperrte der Pulvermann dem Jungen den Mund wieder auf, viel weiter, als der Junge seinen Mund normalerweise öffnen konnte, und drehte das Gesicht wie einen Automaten nach allen Seiten herum. Der Junge grinste mit blendend weißen Zähnen. Und die herumstehenden Leute waren nun überzeugt, dass das peruanische Zahnpulver ihnen in der Tat bisher gefehlt habe und dass dies die Ursache sei, warum sie schlechte Zähne hätten. Sie kauften die angebotenen fünf Pakete, weil sie mit einem ja nicht ihr ganzes Leben lang auskommen würden. Sie waren von jetzt an beruhigt, dass sie nie wieder in ihrem Dasein Zahnschmerzen haben würden. Das war ihnen versprochen worden.
Die  vier  kleinen  indianischen  Jungen,   die  von   dem
Pulvermann ausgestellt wurden, erhielten je fünf Centavos Lohn. Dafür hatten sie die Verpflichtung, sich in die Zähne einen grünlichgelben Maisteig zu schmieren, den ein Mitarbeiter des Pulvermanns irgendwo in einem Winkel bereithielt, und dann mussten sich die Jungen herumlungernd in die Nähe des Pulvermanns stellen, so dass er sie, wenn sie gebraucht wurden, unauffällig aus der Menge ziehen konnte. Nächst zu dem Pulvermann war kein Tisch, sondern da standen zwei Männer und eine Frau. Der eine Mann hatte eine Gitarre, der andere eine Geige, und die Frau hielt in ihren Händen rote, grüne, gelbe und blaue bedruckte Zettel.
»Ein Neues, ihr Leute«, rief der Mann mit der Gitarre. »Jetzt machen wir >Soy Virgencita<, >Ich bin noch eine Jungfer, ein reines Jüngferlein<. Los, lasst uns hören.«
Er beugte sich nieder, stützte die Gitarre auf ein vorgesetztes Knie, stimmte sie, versetzte den Steg und schlug den Akkord an.
Der Mann mit der Violine setzte ein, und dann begann die Frau zu singen. Nach der ersten Stanza fielen auch die Männer in den Gesang mit ein.
Sie sangen weich, ein wenig klagend, aber mit guten harmonischen Stimmen. Die Frau tat, als ob sie das Lied von einem der Zettel, die sie in der Hand hielt, ablese. Aber sie wusste jedes Wort auswendig.
Sie und die Männer hatten dieses Lied wie alle übrigen, die sie vortrugen, sicher mehr als zehntausendmal gesungen. Das waren die Cantadores de Corridos, die mexikanischen Balladensänger, die von Ort zu Ort ziehen und auf keinem Feste in Mexiko fehlen.
Nachdem sie zu Ende gesungen hatten, wandten sie sich an den dicken Knäuel von Leuten, die sie umringten:
»Diese wunderschöne Ballade, Leute, die wir soeben, euch zum Wohlgefallen und uns zum großen Vergnügen, mit süßen und schmelzenden Tönen vorgetragen haben, steht jetzt zu eurem uns so angenehmen und geschätzten Befehl. Dos surtidos cinco Centavos, cinco surtidos diez, nada mas, quien, cuales. Zwei verschiedene fünf Centavos, fünf verschiedene zehn Centavos, wer will haben und welche?«
Die Blätter wurden herumgereicht, angesehen, ausgesucht und für zwanzig oder fünfundzwanzig Centavos verkauft.
Als der Verkauf stockte, riefen die Sänger: »Niemand mehr für die Jungfrau? Oiga, oiga, amigos, dann ein neues, ganz neues: Leben, Taten und Tod des Generals Santana, oder sollen wir euch singen: Die Gringos in Churubusco? Sagt es, wir singen nach eurem Wunsch.«
Der Geiger stimmte seine Fiedel, und von neuem wurde ein Corrido gesungen.
Hier war es, wo Andres stehen blieb. Es war das billigste. Man konnte stundenlang stehen bleiben und den Balladensängern zuhören. Man war nicht gezwungen, eine Ballade zu kaufen.
Er fand Gefallen an zwei Corridos und kaufte die Zettelchen, einen roten und einen grünen. Er las sie durch, faltete sie zusammen und schob sie in seine Hemdtasche, wo er sein Päckchen mit Zigaretten trug. Dann hielt er es für angebracht, in die Kirche zu gehen.

 

2

Die Kirchtüren standen weit offen. In das weltliche Schreien und Lärmen, das auf dem Platze vor der Kirche herrschte, mischten sich zuweilen die Akkorde einer kleinen Orgel innerhalb der Kirche. Häufiger aber noch hörte man das monotone Singen heraus, mit dem die Leute in der Kirche die Beschwörungen der Geistlichen beantworteten.
Andres wusste nicht viel von katholischer Religion, viel weniger von christlicher Religion. Was er kannte und wusste, war ziemlich verworren. Nur eines kannte er genauer, und das waren die Zeremonien, die mit dem Religionsdienst verknüpft sind. Er konnte das Kreuz richtig schlagen, wusste sich richtig mit Wasser zu benetzen, wusste, wann er niederzuknien habe und wie viele Kreuze an bestimmten Stellen der Litaneien zu machen seien.
Er wusste nicht mehr und nicht weniger von katholischer Religion, als was seine Mutter ihn hatte lehren können, was seine Nachbarn in den Hütten der Finca wussten und was er so beiläufig, ohne es je zu verstehen, aufgenommen hatte, als er in dem Herrschaftshause der Finca diente.
Was die Familie des Don Arnulfo von Religion wusste, war auch mehr als beschränkt. Auch deren Religion haftete ausschließlich an den Zeremonien und an den üblichen rasend rasch heruntergeleierten Gebeten und Ave-Marias. Wie alle halbgebildeten Menschen wurden sie zur Oberflächlichkeit und zur nackten Beachtung der Zeremonie verleitet, die hier so stark in den Vordergrund gerückt ist, dass das Wesentliche darüber vergessen und die Zeremonie mit der Religion selbst identifiziert wird.

 

3

Das Fundament der Kirche lag mehrere Meter über der Ebene des Platzes. Darum wurde das Gebäude von den häufigen Überschwemmungen, die in der Regenzeit geschahen und den Platz in einen See verwandelten, verschont.
Diesen so günstigen Platz für die Kirche hatten aber keineswegs die spanischen Mönche entdeckt. Sie errichteten die Kirche einfach auf den Fundamenten der altindianischen Tempelpyramide, die hier seit Tausenden von Jahren gestanden hatte. Mit nur ganz wenigen Ausnahmen sind alle Kirchen in Mexiko auf den Fundamenten altindianischer Tempel oder Pyramiden erbaut.
Hinauf zu der Kirche führte eine sehr breite steinerne Treppe, die so breit war, dass sie weit zu beiden Seiten über das Hauptportal der Kirche hinwegreichte.
Zahllose Leute, Männer, Frauen und Kinder, Ladinos und Indianer, stiegen die Treppe hinauf, oder sie kamen herunter. Die Frauen trugen ihre schwarzen Baumwolltücher um den Kopf gewickelt; denn es ist Frauen verboten, die Kirche unbedeckten Hauptes zu betreten. Das Haar der Frau darf nicht sichtbar sein. Der Böse, der überall auf der Lauer liegt und sich auch in gut katholische Kirchen einschleicht, könnte das Haar der Frauen gebrauchen, um Männer oder gar die Herren Curas selbst auf sündhafte Gedanken innerhalb der Kirche zu bringen.
Die weite Freitreppe war aber nicht nur belebt von den frommen Kirchenbesuchern, sondern ebensosehr von den Bettlern, die hier Tag und Nacht auf den Stufen saßen. Die Kirche lehrt die Menschen, Wohltaten zu erweisen. Zu erhöhtem Schutze des Privateigentums. Hungernde und Verzweifelnde haben nichts zu verlieren und sind leicht geneigt, das Privateigentum anzutasten und gar Revolutionen zu machen. Da aber nicht alle Hungernden und Verzweifelten von Wohltaten gesättigt werden können, wird das Wohltaten-Fordern ein nüchternes Geschäft wie jedes andere. Dem Frommen wird gelehrt und empfohlen, Wohltaten zu erweisen. Er folgt als getreuer Sohn der Kirche diesem Befehl und erweist die Wohltaten dem, der ihm am nächsten hockt und die offene Hand hinstreckt.
Der Fromme reicht hier einen Centavito hin und dort einen, und damit ist sein Gewissen entlastet.
Auf den obersten Stufen und dicht an den Türen standen eng gedrängt die Tische der Händler, die geweihte und ungeweihte Kerzen, Heiligenbilder, Gebetszettelchen, Amulette, Kreuzchen, Rosenkränze, silberne Herzchen, Händchen, Beinchen, Esel, Pferde, Kühe und Augenpaare verkauften. Gleich beim Eingang, innerhalb der Kirche, mehrten sich diese Tische. Hier in der Kirche zogen sie sich an den Wänden entlang. Es war innerhalb der Kirche ein Jahrmarkt, ebenso umfangreich wie außerhalb der Kirche auf dem großen Platze. Nur wurde auf dem Jahrmarkt innerhalb der Kirche weniger geschrieen.
Es wurde hier nur geflüstert, halblaut geredet und geschachert und mit Armen und Händen heftig gestikuliert.

 

4

Andres ging die Stufen hinauf, zog seinen zerlöcherten Strohhut ab und trat in die Kirche. Er tunkte seine Hand in das steinerne Becken und benetzte sich die Stirn, kniete nieder, verbeugte sich schon am Eingang vor dem am anderen Ende liegenden Altar und machte eine Anzahl von Kreuzen über sich her.
Mit diesen Handlungen hatte er alles das getan, was er von der katholischen Religion wusste. Er war nun eigentlich fertig. Zehntausend andere, selbst Mexikaner, wussten nicht mehr und taten nicht mehr.
Aber Andres war wissensdurstig und neugierig, wollte sehen, was hier in der Kirche alles getan wurde und was hier geschah. Er war oft genug auch in anderen Kirchen gewesen, in Joveltö, in Socton. Aber damals war er jünger und weniger seines Lebens und der Dinge bewusst gewesen, die um ihn herumgeschahen.
Alles war zu neu und fremd. Jetzt, mit zunehmendem Alter und in einem ständigen Beisammensein zahlreicher anderer Carreteros verschiedener Frachtunternehmer aus verschiedenen Orten, sowie durch unzählige irgendwo aufgenommene oder gehörte Ideen und Meinungen, war er bewusster geworden. Es war ihm kaum noch etwas fremd innerhalb des Lebens, das er seit einigen Jahren führte. Er sah alle Dinge, nun sie ihre Fremdheit für ihn verloren hatten, nüchterner an und klarer. Er begann bereits Dinge, Geschehnisse, Zustände zu vergleichen, und damit begann er die Dinge zu kritisieren.
Er ließ sich nicht länger mehr einfangen mit Worten und Meinungen. Er hörte sich dies an und sah sich jenes an, verglich es mit anderen Dingen, die er gesehen oder von denen er gehört hatte, und er begann nur das aufzunehmen und sich anzueignen, was er für gut oder für richtig hielt auf Grund der erworbenen und der ständig mehr wachsenden Erfahrung.
Er hatte begonnen, selbständig zu denken. Seine Gedanken gingen zuweilen schief und stießen hier und da an, ihn durch das Anstoßen lehrend, dass er auf falschem Wege war. Dann ging er zurück in seinem Denken auf den Ausgangspunkt und folgte einem neuen Wege.
Seine Arbeit war für ihn leichter geworden, weil er sie nun durch und durch kannte und über die Arbeit nicht mehr nachzudenken brauchte. So bekam er mehr Freiheit für sein Denken. Stundenlang konnte er jetzt ruhig auf der Carreta hocken, wenn der Weg gut und die Carreta in Ordnung war, und dabei nichts anderes tun, als denken und denken. Seine Gedanken nahmen einen sehr freien und sehr ungehinderten Lauf. Er hatte den großen Vorteil, der Millionen von Menschen fehlt, dass seinen Gedanken nicht durch eine Schulung eine bestimmte Richtung gegeben wurde. Er war in seinem Denken nicht voreingenommen. An jedes Ding konnte er herangehen ohne Vorurteile, ohne durch Gedanken oder Worte, die irgend jemand vor ihm gegenüber diesem Dinge gehabt oder ausgesprochen hatte, behindert zu sein. Er zog seine Schlüsse aus dem natürlichen Zustand der Dinge, aus seinen Erfahrungen, die er gemacht hatte. Er sah Dinge und Geschehnisse nicht so, wie sie irgend jemand vor ihm beschrieben hatte, sondern er sah alles so, wie es war oder wie es ihm erschien, dass es sei.
Weil er auch über Religion sehr wenig wusste, genau gesagt, überhaupt nichts, so sah er auch die Religion und ihre Zeremonien durchaus nüchtern an. Er war von jeglichem Wunderglauben, wie ihn die Religion verbreitete, wie bleibende Jungfernschaft nach der Geburt, Auferweckung von Toten, Auf-dem-Wasser-Laufen, Speisung von fünftausend hungrigen Menschen mit zwei gewöhnlichen Fischen, Wasser in Wein verzaubern, Himmelfahrt und all dem Ähnlichen, von allem solchen Wunderglauben war er befreit. Hätte jemand jetzt begonnen, ihm derartige Sachen als Wahrheit einreden zu wollen, er würde es nicht geglaubt haben. Nur eines aus dem ganzen Wunderglauben würde er für wahrscheinlich gehalten haben: jene Erzählung, wie Christus, nachdem er tot war, seinen Jüngern erschien, sogar auf dem öffentlichen Wege nach Emmaus. Das würde er nicht darum für wahrscheinlich gehalten haben, weil es ihm die Kirche erzählte, sondern weil er von Kindheit an in der Hütte seines Vaters und in den Hütten anderer Indianer von solchen Erscheinungen vielfach reden gehört hatte.
Dem einen seiner Nachbarn war der verstorbene Onkel erschienen, dem andern die längst verweste Großmutter, wieder einem andern der ermordete Sohn. Ihm war noch keiner seiner verstorbenen Anverwandten oder Bekannten erschienen. Aber weil er unter solchen Erzählungen aufgewachsen war, so würde er es vielleicht geglaubt haben, dass der verstorbene Christus mehreren Leuten, die ihn kannten, erschienen sein mochte.
Aus alledem zeigt sich zur Genüge, dass Andres ein böser Heide war, den zu bekehren aufgegeben werden musste. Er war ein Beispiel dafür, dass die Kirche recht daran tut, ihre Herde einzutreiben, wenn der Mensch noch ein Kind ist, alles aufs Wort glaubt, was ihm erzählt wird, und noch nicht die Fähigkeit hat, selbst zu denken und selbst zu urteilen und das Mögliche von dem Wahrscheinlichen, und das Unmögliche von dem Symbolischen zu trennen. Was dem Kinde beigebracht wird, ehe es denken und urteilen kann, bleibt gut haften und verknüpft sich bei zunehmendem Alter mit sentimentaler Jugendromantik; und weil der erwachsene Mann nicht den Mut hat, seine Mutter, die ihn diese Märchen lehrte, zu kränken, so sagt er zu allem ja. Weil er in dieser Weise erzogen wurde und nun glaubt, ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft geworden zu sein, so sieht er es mit tiefen Freuden und mit sentimentaler Erinnerung an seine eigene Jugend nur allzu gern, wenn seine eigene Frau seinen eigenen Kindern dieselben Geschichten erzählt und die Kinder daran glauben lehrt. Die Kirche blüht und gedeiht, weil sie sich des Nachwuchses zur rechten Zeit annimmt.

 

5

Nachdem Andres seine Kniebeugen und Bekreuzigungen getan hatte, wusste er in der Tat nicht, was er eigentlich noch länger in der Kathedrale zu suchen hatte.
Er blieb aber drin, weil noch so viele andere Leute drin waren, die auch nicht recht zu wissen schienen, was sie hier wollten, und die offenbar nur darum hier waren, weil sie nicht wussten, was sie sonst anderes tun sollten. Und so wie Andres hier herumstehen blieb, weil so viele andere Leute hier waren, so mochte es wohl mit allen übrigen Anwesenden auch sein. Alle waren hier, weil auch die andern hier waren. Die Herde wollte beisammen sein und beisammen bleiben. Zudem erschien es, dass die Leute, die außerhalb der Kirche, in ihrem gewöhnlichen Leben und in ihren Geschäften, nie einig waren und nie einig werden konnten, hier die Einigkeit fanden, die sie als Herde benötigten.
Viele Hunderte von Kerzen schwelten und flackerten. Die Kerzen waren nicht nur aufgestellt vor dem Altar allein. Hier waren sie freilich am zahlreichsten. Kerzen waren in allen Ecken und Winkeln der Kirche. In jeder Nische, wo eine Gipsfigur stand, behangen mit einem Kattunrock oder mit einem Plüschmäntelchen, brannten Kerzen. Und vor jedem Sockel, und es waren deren so unendlich viele, auf denen eine grausig aussehende Holzpuppe stand, mit gläsernen und glotzenden Augen und mit verfilztem echtem Menschenhaar, da brannten Hunderte von Kerzen. Es waren wohl viele Dutzende von armen Menschen anwesend, die in ihrem eigenen Hause nur Kienspäne zum Leuchten hatten, die aber hier ihren letzten Peso geopfert hatten, um schön bemalte und verschnörkelte Kerzen bei den Händlern kaufen und hier aufstellen zu können.
Zahlreiche Frauen und Kinder, die knieten, hielten ihre Kerzen in der Hand. Sie taten es, damit die heiligen Wachs- und Gipsfiguren auch sehen und wissen sollten, wer die Kerze opferte. Denn wenn die Kerze zwischen den Hunderten und Hunderten von anderen Kerzen aufgestellt wurde, so - glaubten sie - konnte der Heilige nicht mehr wissen, von wem die Kerze gestiftet war, und er vergaß vielleicht gar, das Gebet, das an ihn gerichtet war, zu erfüllen.
Mehrere hundert Leute knieten hier. Aber unter den Hunderten von Betenden sah man wohl kaum zwanzig Männer. Die Mehrzahl waren Frauen, junge Mädchen und Kinder.
Wenn Männer sich dem Einfluss der Kirche und deren Apostel unterstellen, so geschieht das, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, aus geschäftlichen und politischen Gründen. Sie wollen als gute Beispiele voranleuchten, um in ihren politischen und wirtschaftlichen Geschäften als tugendhaft und ehrenhaft zu gelten, weil das ihren Geschäften dienlich ist. Sie wollen Vertrauen erwecken bei den Schäfchen, die sie zu scheren beabsichtigen. Sie haben durch gute Beobachtung erfahren, dass es sich vortrefflich bezahlt macht, ein eifriges Mitglied der Kirche zu sein. Die Frau dagegen verfällt meist in ihrem ganzen Wesen und in ihrem ganzen Sein dem Einfluss der Kirche bis zu jenem Punkte, wo sie, auf Geheiß der Priester und Machthaber, ihrem Manne die Liebesfreuden versagt. Dass Mexiko, diese revolutionäre Republik, bis heute den mexikanischen Frauen die politischen Rechte verweigert, obwohl die mexikanische Frau an Intelligenz der amerikanischen Frau in keiner Hinsicht unterlegen ist, geschieht darum, weil die mexikanischen Revolutionäre genau wissen, dass die katholische Kirche versucht, mit Hilfe der Frau die unheilvolle Macht über das mexikanische Volk, die durch die Revolution gebrochen wurde, wiederzugewinnen. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen den Frauen in Mexiko politische Rechte zu geben, hieße, das mexikanische Volk an Rom aufs neue auszuliefern. Wenn man in einer mexikanischen Kirche, ganz gleich wo, ob in Mexico City  oder in einem fernen Winkel  des weiten Landes, intelligente Frauen und Mädchen finden will, so muss man die wenigen protestantischen Kirchen aufsuchen. Die Intelligenz der Frau kann freilich unter dem Einfluss der protestantischen Kirche genauso kleingebrochen werden wie unter dem Einfluss der katholischen Kirche. Beweis: die unduldsamen und bigotten Weiber in USA. Aber in Mexiko hat die protestantische Kirche keine Macht.

 

6

Die Betenden knieten alle. Es waren nur wenige Bänke vorhanden. Nur gerade im Vordergrunde. Die Sitze jener Bänke waren verkauft und vermietet für diejenigen, die genügend Geld hatten, dafür zu bezahlen, und die nicht wünschten, mit einer verlausten Indianerin als Nachbarin zu demselben Gotte zu beten. Das kann man keinem Menschen, der Geld hat, zumuten; und es steht auch nirgends in der Bibel geschrieben, dass derjenige, der gelernt hat, ein Taschentuch zu gebrauchen, sich in der Kirche neben jemand hinsetzen soll, der sich in der Nase herumbohrt. Darauf darf man es den Millionären nicht verdenken, dass sie in den Kirchen ihre mahagonigetäfelten Logen besitzen.
Der Kirchenboden bestand aus harten Steintafeln. Aber er war dick bestreut mit frischen Tannennadeln, deren balsamischer Duft sich vermischte mit dem dicken schwelenden Rauche, der von den Kerzen und den Räucherkesseln, die von kleinen Jungen, die sich als Heilige vorbereiten wollten, hin- und hergeschwenkt wurden.
Durch diese Räuchereien lag die ganze Kirche wie in einem dicken Nebel. Man konnte die Dinge nicht deutlich erkennen. Alles verschwamm, und alles, was war, verwischte sich.
Die Frauen hatten ihre schwarzen Baumwolltücher übergeworfen. Sie waren so darin vermummt, dass sie, von hinten betrachtet, wie aufgestellte schwarze Kegel aussahen.
Zahlreiche der vermummten Frauen hatten auf dem Rücken ein geweihtes Heiligenbildchen an einem blauen Bande hängen, das um ihren Hals gelegt war. Andere hatten an Stelle des Heiligenbildchens eine Medaille herunterbaumeln. Die Frauen, die solche Bildchen und Medaillen auf dem Rücken hängen hatten, waren besonders fromme Gläubige, denen man schon auf dem Rücken ansehen sollte, dass sie alles Irdische abgestreift hatten und keine Verführung des Bösen sie mehr antasten konnte.
Wenn vorn am Altar gerade nichts zu tun war und dort nichts geschah, dann sangen die Frauen: »Al cielo quiero r, al cielo quiero ir, in den Himmel will ich gehen, in den Himmel will ich gehen.« Das sangen sie unermüdlich, ohne eine einzige Abwechslung hineinzubringen. Dadurch wurde die Kirche angefüllt von einem merkwürdigen monotonen Singsang, der sich in nichts unterschied von den monotonen Gesängen vor Buddha-Tempeln in Indien und China. Aus diesem ewig gleich bleibenden monotonen Singsang vermochte man, wenn man die Worte nicht vorher kannte, keinen Sinn herauszuhören.
Was gesungen wurde, konnte darum ebenso gut chinesisch oder japanisch oder malaiisch sein. Niemand hätte das mit Bestimmtheit feststellen können.
Aber es stand im vollen Einklang mit dem, was vor dem Altar jetzt getan wurde.
Da stand ein Herr. Andres konnte freilich auch hier nicht mit Bestimmtheit erkennen, ob es ein Herr oder eine Dame war. Denn der Herr hatte einen Rock an, um sich von allen anderen Männern, die Hosen trugen, gleich von Anbeginn an zu unterscheiden und alle Leute darauf aufmerksam zu machen, dass er etwas Besonderes sei. Andres bekam auch sofort den Eindruck, dass der Mann ein Zauberer sei oder etwas Ähnliches.
Er war eingehüllt in einen weiten, schweren Goldbrokatmantel, der seine menschliche Figur völlig bedeckte.
Der Mantel kostete mehr, als alle Frauen, die hier knieten, in ihrem ganzen langen Leben je verdienen könnten, alle zusammengenommen.
Andres sah nur den gold brokatenen Rücken des Mannes. Und der goldene Mantel war so breit, dass man nicht sehen konnte, was der Mann eigentlich mit den Händen tat. Aus den Bewegungen, die der Mantel machte, konnte man schließen, dass der Mann dort allerlei mysteriöse Handlungen vornahm. Er nahm einen silbernen Leuchter, der rechts von ihm stand, und stellte ihn links vor sich hin. Dann, nach einer Weile, dabei immer murmelnd, stellte er den Leuchter wieder rechts hin. Dann murmelte er aus einem dicken Buche, das er links liegen hatte, dann wieder aus einem dicken Buche, das er in der Mitte oder rechts von sich liegen hatte.
Alle paar Augenblicke verneigte er sich vor den Büchern, und die kleinen heiligen Jungen schwenkten ihre Räucherkesselchen.
Dann trat aus der Tiefe einer dunklen Rauchschicht ein Mann hervor. Er war ein einfacher Mann, Halbindianer, nur mit Hose und Hemd bekleidet und mit Sandalen an den Füßen. Er verbeugte sich dreimal vor dem Altar, und dann hing er dem Herrn, der dort arbeitete, einen neuen goldenen Mantel über. Der neue Mantel war noch reicher und schöner als der andere, mit dicken bunten Steinen reich besetzt und mit goldenen und silbernen Ornamenten bestickt. Nun hatte der Herr mehr Reichtum über sich hängen, als das Jahresbudget des ganzen Distrikts hätte bezahlen können.
Der Herr verbeugte sich wieder mehrere Male. Dann zog er irgendwo einen goldenen Kelch hervor, über den er ein kleines Damentaschentüchelchen gedeckt hatte. Er nahm das Tüchelchen ab und schwenkte den Kelch hin und her. Dann deckte er das Tüchelchen wieder über den Kelch und stellte den Kelch irgendwohin, wo er gerade Platz auf seinem Zaubertische fand.
Hierauf verbeugte er sich wieder.
Nun brachte er wie aus dem Nichts einen goldenen Ständer hervor, auf den ein großer goldener Strahlenkranz gesetzt war. Er schwenkte diesen Ständer hin und her. Dann drehte er sich endlich um, und man konnte sehen, dass er ein Gesicht hatte, das von Pockennarben zerfressen war.
Mit beiden Händen hielt er den Strahlenkranz hoch in die
Luft. Und nun verfiel die anwesende Menge in einen Taumel der Verzückung. Wer stand, fiel auf die Knie nieder; und wer kniete, besonders die vermummten Frauen, stieß seinen Kopf auf den Erdboden. Der Herr schwenkte den Strahlenkranz neunmal, nach jeder Richtung dreimal. Bei jedem Schwenken schüttelten einige der heiligen Jungen, die einen roten Kittel mit weißem Spitzenüberwurf anhatten, ein Büschel mit kleinen Klingelglöckchen.
Und bei jedem Ertönen der Klingelglöckchen stießen die vermummten Frauen ihre Köpfe auf den Boden und tappten sich mit den Fingern auf die Stirn, auf den Mund und auf die Brust. Es war durchaus wie vor einem Tempel der Heiden im südöstlichen Asien. Wenn die Priester an den Gong schlugen, dann fiel die gläubige Menge nieder auf die Knie, stützte die flachen Hände auf den Boden und schlug mit dem Kopfe auf die Erde, und das wiederholte sich, genau wie hier, jedes Mal wenn die Klingelglöckchen schellten.
Der Herr im Goldbrokatmantel wandte sich wieder zum Altar und schwenkte hier den Ständer mit dem goldenen Strahlenkranz dreimal hoch und nieder. Dann setzte er ihn vor sich hin und verbeugte sich.
Als das eine Weile vorüber war, begann er wieder die Leuchter bald von links nach rechts, bald von rechts nach links zu setzen. Dann fing er an zu reden.
Die Gläubigen antworteten darauf in einem Singsang. Aber kein Mensch in der Kirche verstand ein Wort von dem, was der Herr vor sich hin redete.
Ein Drittel der Anwesenden sprach nur Spanisch, ein zweites Drittel sprach Spanisch und Indianisch, von dem letzten Drittel sprach die Hälfte Tseltal, die übrigen Tojolaval. Darum schien sich aber der Herr nicht zu kümmern, ob ihn jemand verstand oder nicht. Er redete lateinisch, oder etwas, von dem er glaubte, dass es lateinisch sei.
Wie immer Andres auch hier versuchte, sich auf das, was vorging, mit Sinn und Vernunft einzustellen, nicht für eine halbe Minute lang verlor er den Eindruck, dass auch nicht einer in der Kirche wusste, warum der Herr sich so betrug und bewegte, wie er es tat. Es schien alles leer und nichts als nackte Geste.
Was konnte Andres dafür, dass er hier nichts anderes sah und hörte, als was er gesehen und gehört hatte, wenn er mit seinem Vater zu den indianischen Festen gegangen war, in denen die Götter angerufen wurden, um den Feldern Fruchtbarkeit zu geben und die Hütten der Peones vor Schaden, Unglück, Seuchen und bösen Geistern zu schützen! Der gebildete Katholik, der vor sich einen oft hochgebildeten Geistlichen amtieren sieht, empfindet keine Zauberei und keine Maskerade. Er weiß, dass jene vermeintliche Zauberei und Maskerade nur die Symbole sind und vielleicht die Ornamente. Andres jedoch, wie alle Indianer, wie die ungeheure Mehrzahl der unteren ungebildeten Klasse hier, sah nichts anderes als Zauberei, Mummerei, Verkleidung, Medizinmanntanz, unverständliche hergemurmelte Zauber- und Beschwörungsformeln. Es war nicht seine Schuld, dass er nur Zauberei sah und Beschwörungsformeln hörte und nichts als eine dumpfe, in schwelendem Rauch ihre leeren Gesten verrichtende Menge um sich erblickte.

 

7

Während die Klingelglöckchen schellten, hatten die Dutzende von Händlern, die hier in der Kirche ihre Waren feilboten, ihr Feilschen für eine Weile unterbrochen. Sie waren neben ihren Tischen, gleichwie alle übrigen Leute in der Kirche, auf die Knie niedergefallen und schlugen gleichfalls ihre Köpfe auf den Boden, sich in Demut vor den Göttern erniedrigend. Sie waren aber so vortreffliche Geschäftsleute, dass sie, selbst in diesen Augenblicken, ihren Handel nicht vergaßen. Sie schielten auf ihre Tische, um aufzupassen, dass nicht etwa jemand eine Kerze oder ein Bildchen stehle oder gar die Kasse anrühre. Einige waren so tüchtig, dass sie denjenigen Frauen, von denen sie in ihrem Handeln gerade getrennt wurden, als der Strahlenkranz geschwenkt wurde, verstohlen zublinzelten und ihnen mit den Fingern Zahlen zuwinkten, die sich auf die Preise bezogen, über die man bisher nicht einig geworden war.
Als die große Zeremonie endlich vorüber war, begann das Schwatzen und Feilschen an den Tischen mit lauteren Worten und heftigeren Gesten sofort wieder da einzusetzen, wo es unterbrochen worden war. Die Kirche begann jetzt gleichfalls ihr Geschäft aufzumachen. In Mexiko, wie auch in USA, zieht der Staat keine Steuern für die Kirche ein, weil er, aus guten Gründen, die Kirche als ein Konkurrenzgeschäft betrachtet. Niemand kann nicht bezahlter Kirchensteuern wegen vor den Richter gerufen oder gar etwa gepfändet werden. In diesen Ländern hier muss die Kirche sehen, wie sie auf ihre Rechnung kommt. Und wenn in USA die protestantischen Kirchen Bälle mit Jazzmusik innerhalb der Kirche veranstalten und Basare, in denen zugunsten der Kirche Küsse und schlecht gewordene Konserven, die ein frommer Delikatessenhändler der Kirche opferte, verkauft werden, so darf man das wohl ein ehrliches und offenes Geschäft nennen, weil die Kirche hier freimütig zugibt, dass sie vom Gotteslohn allein nicht leben kann und auf das Paradies nicht warten mag, weil der Mr. Preacher, der Herr Pastor, wenn er seine Hausmiete nicht bezahlen kann, genauso gut ohne seine Möbel auf die Straße gesetzt wird wie jeder andere Bürger. Und wenn er seiner Frau keine neuen Kleider und Hüte kaufen kann, dann besteht die Gefahr, dass er den Dienst des Herrn und die Errettung der Seelen nicht weiterbetreibt, sondern eine Automobilagentur des Mr. Henry Ford übernimmt. Nur nicht beim Leisten bleiben, Schuhflicker, wenn du bei einem anderen Geschäft mehr verdienen kannst!
Die katholische Kirche ist ja nicht so ruchlos wie die protestantische; und darum ist sie weniger freimütig im Geldverdienen. Sie gibt keine Bälle in der Kirche, bei denen mit herabgerollten Seidenstrümpfen und Röcken sieben Zoll über dem Knie getanzt wird. Über dem Knie. In der Richtung des Nabels zu gerechnet natürlich. Und die katholische Kirche verkauft auch nicht innerhalb der Kirche Küsse und Strumpfbänder verheirateter Frauen zugunsten des Herrn Pastors, der, um sich auf ganz besonders guten Fuß mit einigen seiner einflussreichen männlichen Gemeindemitglieder zu stellen, die Herren zum Leeren einiger gefüllter Whiskyflaschen einladet in der hochbegnadeten Zeit der Prohibition.
In jener Zeit der Prohibition, in der die Witwe eines Arbeiters, die, um Brot für ihre hungrigen Kinder zu beschaffen, einen halben Liter Branntwein verkaufte, für diese Tat mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft wurde. Denn es kommt bei der Prohibition nicht darauf an, dass Whisky verkauft wird, sondern allein nur darauf, welcher sozialen Schicht der angehört, der Whisky verkauft. Die Witwe eines Multimillionärs, die täglich zweihundert Dollars an Renten zu verzehren hat, kann wöchentlich fünfhundert Kisten Whisky verkaufen, gleich gegenüber dem Hauptpolizeigebäude. Es wird ihr niemand in das ehrliche Handwerk pfuschen. Der Federalagent, der sie ertappt oder es gar wagt, eines ihrer vollbeladenen Lastautomobile zu konfiszieren, wird abgesetzt, oder er kommt ins Irrenhaus, wo er mit Recht hingehört.
Aber die katholische Kirche, die sich weder an Bällen, noch an verkauften Strumpfbändern, noch an geschmuggeltem Whisky bereichern will, muss sich ihre Mittel auf anderem Wege beschaffen.

 

8

Zur linken Seite, etwa in der Mitte zwischen dem Altar und dem Portal, stand auf einem Sockel der heilige Caralampio, derselbe, zu dessen Ehren das Fest gefeiert wurde.
Er stand nicht eigentlich auf seinem Sockel, sondern er kniete. Er war aus Holz, hatte einen Strahlenkranz über dem Kopf, starre Glasaugen und einen Bart. Bekleidet war er mit einem dunkelblauen Samtmantel. Er kniete so, dass sein Gesicht einem Altar zugewendet war. Ob es sein persönlicher Altar war, konnte man nicht erkennen. Seine Hände waren flach aneinandergepresst und zum Gebet erhoben.
Warum er betete und zu wem er betete, war nicht ersichtlich. Es machte sich auch niemand die Mühe, das erfahren zu wollen. jeder begnügte sich damit, dass er hier war und dass man ihn persönlich sehen konnte.
Wohl nur ganz wenige Leute in der Kirche betrachteten ihn wie eine Photographie oder wie eine Skulptur. Die Mehrzahl der Leute, die Indianer alle und die untere Schicht der Mexikaner zu neun Zehnteln, waren des festen Glaubens, dass die Figur der wirkliche Heilige, den anzubeten sie gekommen waren, selbst in Person und dass diese Person versteinert, verhölzert oder vertrocknet sei. Denn es gab ja auch vertrocknete Stückchen anderer Heiliger in Menge, Haare, Knöchelchen, Finger, Zähne, eingepökelte Herzen in goldenen Dosen und Hirne in Kästchen aus Ebenholz. Aber wie weit auch bei einzelnen der Glaube gehen mochte, dass die Figur hier der wirkliche heilige Caralampio sei, so waren doch alle, ohne eine einzige Ausnahme, der festen Überzeugung, dass zum wenigsten der Geist und die Seele des heiligen Caralampio in diese Figur gekrochen sei und sie sich zur ewigen Wohnung erwählt habe. Wenn sich eine Oblate in das wirkliche Fleisch des Gottes verwandeln kann durch einfache Zeremonie, so kann sich erst recht und ebenso gut ein wirklicher Heiliger in eine Holzfigur verwandeln, ganz allein oder mit Hilfe von Zeremonien. Diese Zeremonien waren wahrscheinlich vor vielen hundert Jahren vorgenommen worden, und seitdem war die Figur der wirkliche heilige Caralampio.
Nachdem nun das Hohe Amt vorüber war, stellten sich alle Anwesenden in langen Reihen auf, um jeder einzeln dem heiligen Caralampio die gebührende Ehrfurcht zu bezeigen.
Der dunkelblaue Samtmantel bedeckte den ganzen Körper des Heiligen und fiel weit über die Füße, die ihre nackten Sohlen den Leuten, die anstanden, zukehrten.
Wer an die Reihe kam, stellte sich dicht bei den Fußsohlen des Heiligen auf, murmelte ein Gebet oder eine Beschwörungsformel oder ein Gelöbnis, hob dann den Samtmantel hoch, so dass die nackten Beine des Heiligen sichtbar wurden, und presste drei Küsse auf die Fußsohlen der Figur. Dann bekreuzigte sich der Gläubige mehrere Male, murmelte wieder einige Formeln, und dann ging er voran, um einem andern Gläubigen Platz zu machen für das Küssen der Fußsohlen.
Derjenige, der dem Heiligen die Fußsohlen hatte küssen dürfen, wurde aber nicht etwa nun freigelassen.
Beim Weitergehen gelangte er in eine Art von Barriere. Und bei dieser Barriere stand ein Mann mit einer Büchse, die er dem Gläubigen dicht vor die Brust hielt. Wer dem heiligen Caralampio auf die nackten Fußsohlen küssen wollte, musste dafür bezahlen.
Andres hatte die Hantierungen, Maskeraden und das Herumspringen seiner Medizinmänner und Zauberer gesehen, er hatte einen Zirkus besucht, und er hatte jetzt dem Gottesdienst in einer katholischen Kirche bei einem großen Heiligenfeste beigewohnt. Es war nicht seine Schuld, dass er Vergleiche zog, die schief waren. Es war die Schuld derer, deren Pflicht es war, ihm eine gute Erziehung zu geben.
Aber die Herren der katholischen Kirche betrachteten die Indianer als Kinder. Und sie betrachteten es als ihre göttliche Aufgabe, die Indianer und die übrigen proletarischen Schichten des Volkes für immer und ewig Kinder bleiben zu lassen, deren Vater der Heilige Vater in Rom war und die Herren Curas ihre Nebenväter und Onkel.
Ohne dass er selbst es wusste, war Andres gewiss der einzige in der Kirche, der aus der Intelligenz heraus, die sich bei ihm in den letzten Monaten stark zu entwickeln begann, hier Vergleiche zog, die kein anderer der Anwesenden zu ziehen vermochte, weil sie Kinder waren und aus Lässigkeit Kinder bleiben wollten. Es war so bequem, nichts zu denken. Aber unter dem Einfluss der Menge hier stehend, die gleich einer Herde handelte, verfiel er, gleich allen übrigen, dem Nachahmungstriebe. Weil alle Leute hier dasselbe taten, darunter viele, die, ihrer Kleidung nach zu urteilen, klüger zu sein schienen, als er sich selbst glaubte, dachte er, es müsse wohl etwas Verborgenes und ihm Unbekanntes hier am Werke sein, das die Leute veranlasste, alle das gleiche zu tun. Er meinte bei sich, dass vielleicht in seinem Innern eine Veränderung vorgehen möchte, die nach außen hin nicht sichtbar sei. Um zu erfahren, ob dies richtig sei und ob er eine neue Erkenntnis gewinnen könnte, stellte auch er sich endlich mit in die Reihe. Er wollte sich nicht ausgestoßen fühlen aus der Herde, und darum tat er, was die Herde tat.
Auch er ging zu dem heiligen Caralampio und küsste ihm die lackierten Fußsohlen an genau denselben Stellen, an denen hundert andere nasse Mäuler vor ihm ihren Speichel zurückgelassen hatten. Und auch er bezahlte an den Mann mit der Büchse alles, was er schuldig war.
Als er endlich aus der Kirche trat, fand er, dass in ihm keine Veränderung irgendwelcher Art vorgegangen war, wie er gehofft hatte, dass es geschehen müsste, falls er alles täte, was hier zu tun üblich war.
Als er diese Entdeckung machte, hörte er auf, Kind zu sein. Er dachte an seinen Vater, an seine Onkel und Vettern, an alle Männer seiner Sippe, auch an den Medizinmann, vor dem er stets in Furcht gelebt hatte. Und er fühlte, als er draußen vor der Kirchtür stand und den Platz mit den schreienden und kreischenden Händlern übersah, dass dennoch eine Veränderung sich in ihm vollzogen hatte.
Es kam ihm zu einem klaren Bewusstsein, dass er über seinen Vater, ja selbst über den Medizinmann weit hinausgewachsen war. Er wusste, dass er von nun an keine Furcht mehr vor den Medizinmännern seines Volkes haben würde. Und damit verlor er jegliche Furcht vor Göttern, ob sie indianische oder andere Götter waren. Er gewann den Eindruck, dass alle Götter Handel trieben, jeder in seiner Weise.
Dadurch hatten sie für ihn alle ihre Geheimnisse aufgedeckt. Sie hatten ihre Schrecken verloren, denn es zeigte sich, dass sie gebrechlich waren. Sie verübten weder Donner noch Blitze, noch Erdbeben.
Diese Dinge - so folgerte er - wurden nur von denen gebraucht, die mit den Göttern, den vermeintlichen Urhebern jener Dinge, Geschäfte machen wollten.
So kam er zu der Erkenntnis, dass die Kirche und alles, was damit zusammenhängt, im übrigen nur interessant und wichtig ist für die, die nichts anderes zum Nachdenken haben.
Damit schloss die Bekehrung des Andres zum Christentum ab, noch ehe sie richtig begonnen hatte. Er wusste und fühlte, dass er von jetzt an recht gut für sein ganzes Leben ohne Kirche fertig werden würde.

 

9

Auf der zweituntersten Stufe der Kirchtreppe saß Luis. Luis war Carretero wie Andres, aber bei einem anderen Frachtunternehmer. Auch er war indianischen Blutes, stammte jedoch nicht von einer Finca, sondern aus der indianischen Stadt Yalanchen, die westlich von Balun Canan liegt.
Luis kaute an Enchiladas, die er sich soeben gekauft hatte und die noch ganz heiß waren.
Das Fett tropfte ihm über die Hände, und alle Augenblicke nahm er die Enchiladas in die andere Hand, um von der entlasteten Hand das tropfende Fett abzulecken.
Andres und Luis kannten sich seit langer Zeit schon. Oft waren sie in gemeinsamen Karawanen marschiert.
Alle Carreteros standen in einem gewissen kameradschaftlichen Verhältnis zueinander. Sie trafen sich ständig auf den Märschen, die einen herunterkommend zur Eisenbahnstation, die anderen hinaufreisend auf das Hochland. Sie halfen sich gegenseitig auf den Wegen aus, wenn kein Herr dabei war. Und sie halfen sich selbst auch dann gegenseitig aus, im Aufrichten zusammengebrochener Carretas, im Herausziehen von Carretas, die im Morast versunken waren, und hundert andern Dingen, wenn sie dadurch Marschzeit verloren und Lohnabzüge erlitten.
»Warst du in der Kirche?« fragte Luis kauend.
»Ja«, sagte Andres und setzte sich neben Luis auf die Steinstufe. »Du bist ein sehr frommer Katholik. Bist du?« fragte Luis, ihn von der Seite anblickend.
»Ich glaube nicht«, antwortete Andres. »Es ist alles so wirr. Man weiß mit keinem Worte, was da los ist und was der Mann in dem goldenen Mantel da tut.«
»Den Mann kenne ich nun gut«, sagte Luis, die Enchiladas wieder aus der einen Hand in die andere nehmend und das warme Fett von den Fingern abschleckend. »Der Mann in dem goldenen Mantel, der da die goldenen Becher und die Strahlenkränze in der Luft herumdreht, das ist Don Usebio. Usebio nennt er sich erst, seit er hier in der Kirche arbeitet. Eigentlich heißt er Nicolas, weißt du. Sein Vater war Schneider in Tonala. Die haben dann eines Tages in der spanischen Lotterie Geld gewonnen, siehst du. Ich weiß nicht, wie viel. Da hat dann der Vater den Nicolas auf eine Schule geschickt, damit er die Zauberei lernen soll, ein Seminario, weißt du. Da hat dann Nicolas richtig zaubern gelernt, er kann kleine Tortillas aus Harina, kleine Plätzchen aus Mehl, in Menschenfleisch verzaubern und spanischen Rotwein in Menschenblut. Das hat mir Felipe gesagt, der auch im Seminario eine gute Zeitlang war, den sie aber forttrieben, weil er sich verheiraten wollte. Das erlauben sie nicht.«
»Kann Nicolas jetzt zaubern?« fragte Andres.
»Nicht gut«, antwortete Luis. »Er hat das nicht richtig gelernt. Antonio, den kennst du ja, der Carretero bei Don Ambrosio, der ist hier eines Tages in die Kirche gegangen, und da hat ihm Nicolas eine kleine Tortilla zu essen gegeben. Aber Antonio sagte mir, dass diese kleine Tortilla gar nicht nach Fleisch schmeckt, sondern nur nach Mehl, und dass er nun weiß, dass Nicolas das nicht richtig gelernt hat mit dem Zaubern. Aber er verdient hier gutes Geld, weißt du, die bezahlen ihm hier gute schöne Pesos für Kindertaufen, für Verheiraten, für Begraben und für Freibeten aus der Hölle. Felipe hat mir erzählt, dass die Meister im Seminario sagen, die Curas sollten den Leuten in der Kirche Angst machen, dass sie alle gebraten werden und mit Zangen gezwickt werden, wenn sie tot sind. Aber wenn sie fleißig in die Kirche gehen und immer tun, was der Cura sagt, dann werden sie nicht gebraten, sondern nur gewärmt und in heißem Wasser gewaschen, damit sie rein werden. Felipe sagt, das ist alles gar nicht wahr, das wird nur so erzählt, damit die
Leute alle schrecklich Angst haben sollen. Siehst du, die Leute sind ja alle so dumm. Es claro, durchaus klar und richtig, wenn man tot ist, fühlt man nichts mehr, ob man gebraten wird oder mit heißen Zangen gezwickt. Aber was willst du, die Leute glauben es, und es tut ihnen ein so schönes Kribbeln auf der Haut, wenn sie es glauben, und darum glauben sie es. Die Curas wollen nur das Geld von den Leuten haben, damit sie gut leben können und nicht so hart zu arbeiten brauchen. Unser Brujo in Yalanchen, der Medizinmann, erzählte uns auch immer so schreckliche Geschichten von den Höhlen, in die wir nach dem Tode hineingesteckt werden und wo Schlangen sind und Jaguare. Aber wenn ihm mein Vater und mein Onkel ein Schaf gaben oder ein kleines Schwein, dann sagte er, er werde mit den Santitos, mit den Göttern, reden, dass wir nicht in die Höhle gesteckt werden, wo die Schlangen und Jaguare seien.«
»Das hat unser Brujo nicht gesagt«, unterbrach Andres. »Der hat uns erzählt, dass wir in eine tiefe schwarze Grube gesteckt werden, wenn wir gestorben sind und nicht tun, was er uns befiehlt. Und in der schwarzen Grube ist ein morastiger See, und wir werden in den Morast gesteckt, dass er uns gerade bis an das Kinn reicht, und dann können wir nicht sterben und auch nicht leben, sondern wir müssen nur entsetzlich frieren in dem Morast, und wir können uns nicht herausarbeiten, weil die Wände ganz steil und schleimig sind und bedeckt mit kleinen Schlangen und mit großen Kröten. Wir haben unserm Brujo immer Tequila und Mais geben müssen, dann hat er getanzt und gebetet, und die Santitos haben ihm in der Nacht gesagt, dass wir nicht in den Morast gesteckt werden, wenn wir tun, was er sagt. Aber wenn irgend jemand von uns dem Finquero erzählt, wer der Brujo ist, den er nicht kennt, dann werden wir mit Sicherheit in den Morast gesteckt, und kein Tequila und kein kleines Schwein für den Brujo kann uns dann mehr daraus befreien.«
»Da will ich dir einmal einen guten Rat geben«, sagte darauf Luis, der um beinahe das Doppelte so alt war wie Andres,
»wenn du dich um gar nichts kümmerst, was der Brujo sagt oder der Cura hier, wenn du gar nichts glaubst, nicht an das Braten, nicht an die Höhlen und Gruben, dann lebst du ganz ruhig und zufrieden und bist immer fröhlichen Mutes wie ich. Oder hast du schon einmal gesehen, dass ich trübselig bin? Gewiss nicht. Wenn mich die Ochsen ärgern oder mir bricht ein Karren zusammen, nun ja, dann fluche ich, dass es nur so kracht. Aber das ist nur für einen Augenblick. Lebe, und wenn du am Ende bist, dann lasse die andern sorgen. Wenn du fertig bist mit deinem Leben, dann kümmert sich niemand mehr um dich. Wer wird sich denn die Mühe machen, sich mit dir nach deinem Tode noch jahrelang herumzubalgen! Es bleiben genug nach dir am Leben, wo es viel wichtiger ist, sich mit denen zu beschäftigen. Wir stellen uns doch auch nicht hin am Wege und peitschen einen Ochsen, nachdem er verreckt ist, weil er uns eine Carreta in die Schlucht geworfen hat.
Und jetzt muss ich einen Comiteco trinken gehen, um die Enchiladas zu verdauen.«
»Was hast du denn bezahlt für die Enchiladas?« fragte Andres. »Sechs für einen Real. Können gar nicht besser sein.«
»Wo?«
Luis deutete nach einem Tisch, der zwischen Wänden von Laubreisern stand.

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