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B. Traven - Der Karren (1930)
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ERSTES KAPITEL

1

Andres Ugaldo war reinen indianischen Blutes. Zugehörig der großen Nation der Tseltales.
Er stammte von Lumbojvil, einer Finca im Distrikt von Tsimajovel. Der volle Name jener Finca war Santa Maria Dolorosa Lumbojvil.
Lumbojvil war der uralte indianische Name einer indianischen Kommune oder Wirtschaftsgemeinschaft, und er bedeutete soviel wie kultiviertes Land.
Nach der Eroberung durch die Spanier wurde diese Kommune den Indianern weggenommen, und das Land wurde von dem Generalgouverneur, der hier zu befehlen hatte, einem spanischen Landsknecht verkauft oder geschenkt, der die Kommune zu einer Finca, einer Domäne, umformte. Die ursprünglichen Besitzer, die Indianer, blieben in ihrem Dorf, das inmitten ihres Gemeindelandes lag, wohnen, weil sie nirgends anderswo hätten hingehen können. Teils blieben sie hier aus sentimentaler Anhänglichkeit an die Erde, auf der sie geboren waren, und teils aus der sich rasch verbreitenden Kenntnis, dass, wohin sie auch immer gehen würden, sie ein genau gleiches Schicksal erwartete. Sie waren nun nicht länger mehr unabhängige Bauern auf ihrer eigenen Erde, sondern der Finquero, der neue Herr ihres Landes, wies ihnen nach seinem Ermessen und Gutdünken Äcker zu, auf denen sie die Früchte anbauten, die sie für ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familien gebrauchten. Dies war der Lohn für die Arbeit, die sie dem neuen Herrn zu leisten hatten, dessen Leibeigene sie wurden.
Die Spanier, wenn sie ein solches Kommuneland erwarben, ließen den alten indianischen Namen bestehen, weil das die einzige Möglichkeit war, dass sich die indianische Bevölkerung, die durch Jahrhunderte an den Namen gewöhnt war, auskennen konnte und wusste, wo sie hingehörte. Aber die Spanier, um des Schutzes ihrer eigenen Gottheiten in dem neuerworbenen Lande sicher zu sein, setzten dem indianischen Namen einen guten frommen Namen vor. In diesem Falle: Heilige Schmerzensreiche Maria.
Im Laufe der Zeit war die Finca durch Erbschaften und Verkäufe in zahlreiche Hände übergegangen.
Was aber bei diesen Käufen und Verkäufen nie wechselte, war das Land selbst und seine Urbewohner.
Auf der Finca wohnten heute noch dieselben Familien, die dort gewohnt hatten, ehe die Spanier kamen.
Sie blieben ihrem Lande und ihrer Erde treu, ruhig und geduldig auf den Tag wartend, der es ihnen wieder zum Eigentum geben würde.
Der jetzige Besitzer war Don Arnulfo Partida, ein Mexikaner spanischer Herkunft. Auf seine spanische Herkunft war er sehr stolz, obgleich er wohl schon mehr mexikanisches und indianisches Blut in sich trug als spanisches.

 

2

Es war eine Seltenheit, dass ein Angehöriger der Peones einer Finca von der Finca fortkam. Der Vater Peon, der Sohn Peon und die Tochter Frau eines Peons. Das war so gut wie Gesetz. Und wenn ein Peon davonlief, um sein eigenes Leben zu führen, so bezahlte der Finquero fünf Pesos dem Präsidenten der Municipalidad seines Distriktes, und der Präsident ließ den entlaufenen Peon durch die Polizei einfangen und auf die Finca zurückbringen, wo der Peon die fünf Pesos abverdienen musste, nachdem er seine besondere Strafe für sein Entlaufen erlitten hatte. Aber die innigen Bande, die einen Indianer mit seiner Familie und mit seinen Blutsgenossen und Freunden verknüpfen, ließen sehr selten in einem Peon den Gedanken aufkommen, von der Finca, zu der er gehörte, fortzulaufen.
Andres Ugaldo war von der Finca fortgekommen, ohne fortlaufen zu müssen. Ob von seiner angestammten Finca, auch wenn sie eine gewisse Leibeigenschaft bedeutet, fortzukommen, immer ein Glück für den Peon ist, kann nicht gesagt werden. Es ist ebenso oft zu seinem persönlichen Schaden, wie es häufig zu seinem Vorteil sein mag. Das vorher zu wissen oder gar sein Leben geschickt und erfolgreich einer neuen Umgebung anzupassen, dazu fehlt dem Peon die Intelligenz, die zu entwickeln der Finquero ängstlich vermeidet. Und wenn diese Entwicklung der Intelligenz des Peons gar von Staats wegen geschieht, dann wird der Finquero unangenehm, und er wird höchst unbequem für den Staat. Er wird Monarchist oder Bolschewik, oder Rebellenführer ganz gleich was, wenn er nur diese gefährliche Staatsfürsorge für seine Peones dadurch verhindern kann.

 

3

Eine Tochter des Don Arnulfo hatte sich nach Joveltó verheiratet. Joveltó ist ein schönes reinliches Städtchen, mit zur Hälfte mexikanischer Bevölkerung, so genannten Ladinos, und zur anderen Hälfte mit rein indianischer Bevölkerung. Die Indianer wohnen für sich in ihrem Stadtviertel, und die Ladinos wohnen für sich in einem andern Stadtviertel. Aber auf dem Markte und in allen Geschäften mischen sich Indianer und Mexikaner, wie auch sonst sich die Bevölkerung einer Stadt überall auf Erden mischt. Die Mexikaner haben ihren eigenen Bürgermeister, und die Indianer haben ihren eigenen Chef oder Jefe oder Häuptling oder Cacique, oder wie sie es nennen mögen.
Dona Emilia konnte in ihrem neuen Wohnort nicht die rechten Mädchen finden, oder sie konnte sich an die indianischen Mädchen von Joveltó nicht gewöhnen, oder sie wollte vertraute Gesichter um sich haben oder was auch immer der Grund sein mochte, jedenfalls schickte sie einen indianischen Burschen mit einem Briefe an ihren Vater ab. Sie bat ihren Vater, ihr zwei Mädchen von der heimatlichen Ranch zu schicken, und sie nannte auch gleich die Namen der Mädchen, die sie wünschte, Ofelia und Paulina. Beide Mädchen hatten daheim schon im Hause des Vaters gedient, und Dona Emilia hatte sie in der Küche und in den Wohnräumen lange um sich gehabt. Um gleich alles in einem Streich zu tun, erbat sie von ihrem Vater, dass er ihr auch noch einen Jungen schicken möge, der anstellig sei und den ihr junger Ehemann in seinem Geschäft notwendig gebrauche.
Don Arnulfo konnte seiner Tochter nichts abschlagen, umsoweniger, als sie mit umschriebenen Worten andeutete, dass sie ihn, innerhalb der vorgeschriebenen Frist, zum Großvater machen werde, welche Tatsache ihr vergangene Woche bewusst geworden sei. Der Vater beeilte sich daraufhin, die beiden gewünschten Mädchen zu schicken, und er bestimmte auch gleich den Jungen, der mitzugehen hatte, Dieser Junge war Andres. Eines der beiden Mädchen, die Ofelia, war seine Tante. Und weil er mit seiner Tante gehen konnte, so fiel es ihm weniger schwer, von seinem väterlichen Jacalito, der Lehmhütte, in der er geboren war, fortzugehen.
Es war das erste Mal in seinem jungen Leben, dass er von Hause ging. Die Mutter weinte, als sie ihm seinen Posol zurechtknetete. Aber sein Vater war stoisch und ließ von seinem wahren Gefühl nichts merken. Der Junge jedoch empfand in seinem männlichen Instinkt die tiefe Liebe und den Schmerz der Trennung, die seinen Vater durchschüttelten, obgleich der Vater auch nicht durch die geringste Bewegung in seinen Gesichtszügen verriet, was es für ihn bedeutete, sich von seinem Jungen zu trennen.
Es war ein schwaches Blinken in den schwarzbraunen Augen des Vaters, ein merkwürdiges Funkeln, wie es der Junge vorher nie bei seinem Vater gesehen hatte. Aber es offenbarte ihm eine so tiefe Liebe, wie er niemals geglaubt hätte, dass sein Vater einer solchen Liebe ihm gegenüber fähig gewesen wäre. Denn Criserio war ein schlichter Mann, der nicht mehr von der Welt und dem Leben wusste, als was sein Stückchen Maisfeld, seine Milpa, sein Bohnenfeld, seine paar Schafe, die Felder und die Viehherden seines Patrons ihn lehrten und lehren konnten. Er konnte seinen Empfindungen weder in Worten noch in Gesten Ausdruck geben. Es kam ihm auch gar nicht der Gedanke, ihnen Ausdruck zu geben.
Dieses Blinken in den Augen seines Vaters beim Abschied von der Heimat war es, was das fernere Leben des Jungen bestimmen sollte. Es war der Wendepunkt in der Forderung seines Charakters und der Anfang im Aufbau seines Schicksals.
Andres war damals elf Jahre alt.

 

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Die beiden Mädchen wurden auf Pferde gesetzt, ihre paar Lümpchen und ihre Schlafdecken wurden in Schilfmatten gepackt und auf ein Mule geladen. Andres und der Bursche, der zur Begleitung mitgeschickt wurde, um die Tiere wieder zurückzubringen, gingen zu Fuß. Es war eine Reise von drei Tagen.
Das Heimweh, sowohl das der beiden Mädchen als auch das des Jungen, wurde gemildert, als sie das bekannte Gesicht der Dona Emilia in Joveltó wieder sahen. Dona Emilia war ja auf derselben Erde geboren wie sie, wenn auch im Hause des Patrons. Sie war nur ein Jahr älter als Ofelia und nur drei älter als Paulina. Sie waren miteinander aufgewachsen, denn die beiden indianischen Mädchen waren sehr frühzeitig zu Diensten ins Haus gekommen. Und im Hause hatten sie zusammen in der Küche und in den Wohnräumen gewirtschaftet, zusammen gelacht, zusammen geheult, zusammen getanzt, zusammen vor den Heiligenbildern der Kapelle der Finca gekniet und zusammen ihre kleinen Geheimnisse gehabt. Dona Emilia sprach die indianische Sprache ebenso geläufig wie die Mädchen, und die Mädchen wussten genug Spanisch, um sich unter Mexikanern zurechtzufinden.
Dona Emilia war sehr beliebt bei allen Familien der Peones ihres Vaters gewesen, wenn auch freilich oft mit der Einschränkung, dass sie beliebt war in der Art, wie in einem Königreiche der Kronprinz beliebter ist als der König. Aber sie hatte stets Hilfe bereit für kranke Leute, und wo immer sie konnte, versuchte sie da recht zu machen, wo nach ihrer Meinung oder nach Meinung der Peones von ihrem Vater oder von dem Mayordomo ein Unrecht getan worden war. Und so, in der Nähe der ihnen vertrauten jungen Frau bleibend, vergaßen die beiden Mädchen und der Junge schon nach wenigen Tagen, dass sie sich in einer neuen Umgebung befanden.
Don Leonardo, der Ehemann der Dona Emilia, war ein freundlicher Mann, der niemand etwas zuleide tun zu können schien. Er kümmerte sich auch nicht um das Dienstpersonal seiner Frau. Den Mädchen schien es, dass er ein besserer und gütigerer Patron sei als Don Arnulfo, der oft sehr grimmig werden konnte.

 

5

Don Leonardo war ein Kaufmann. Er unterhielt in Joveltó eine Tienda de Abarrotes, einen Laden und Lager für alle Art von Waren, wie Zucker, Kaffee, Mais, Bohnen, Seife, Mehl, Branntwein, Konserven, Schuhe, Laternen, Beile, fertige Kleider, Hemden, Baumwollstoffe, Seidenbänder, Phonographen, Medizin, Tabak, Heiligenbilder, Tinte, Flaschenbier, Parfüm, Sättel, Patronen. Ein Warenhaus in dem winzigen Format, wie es für Joveltó, eine halb indianische, eine halb mexikanische Stadt von etwa tausend Einwohnern, als großzügig und weltstädtisch angesehen werden muss.
Don Leonardo konnte dieses umfangreiche Geschäft durchaus allein besorgen. Im Notfalle, wenn der Andrang zu groß wurde, wenn etwa eine Frau eine Kerze für drei Centavos wünschte und zu gleicher Zeit eine Indianerin für zwei Centavos Rizinusöl haben wollte, dann kam es vor, dass Dona Emilia zur Aushilfe hinzusprang. Aber dass zwei Leute gleichzeitig im Laden waren, um etwas zu kaufen, das geschah nur selten, und wenn es wirklich geschah, dann war es nur an Markttagen. Der gewöhnliche Verlauf des Geschäftes ging so vor sich, dass frühmorgens um halb sechs ein Indianer vor der Tür kauerte, der im selben Augenblick, wenn geöffnet wurde, eintrat und für einen Quinto, fünf Centavos, Tabakblätter verlangte. Zwei Stunden später kam ein Kind und verlangte für einen Medio, sechs Centavos, gemahlenen Kaffee. Um zehn Uhr schickte eine Näherin nach Maschinennadeln Größe sieben.
Der Ladeninhaber ließ sagen, dass er Größe sieben nicht habe. Das Kind lief nach Hause und kam zurück, es dürfte auch Größe acht sein. Don Leonardo sagte, dass er Größe acht leider auch nicht habe, er habe nur Größe neun. Das Kind kam wieder und kaufte für drei Centavos eine Nadel Größe neun.
Dann wurde  die Nadel  im Laufe des Tages viermal umgetauscht, bis sich die Parteien endlich gegen Abend auf Größe fünf endgültig einigten und der Verkauf damit abgeschlossen war, unter dem Vorbehalt, dass die Näherin das Recht habe, die Nadel im Laufe der Woche umzutauschen, falls die Größe sich doch nicht eignen sollte.
Zuweilen wurden freilich auch ein Paar Stiefel verkauft oder sechs Meter Crepestoff oder fünfundzwanzig Quininapillen oder gar ein ganzes blaues Kleid für dreiundzwanzig Pesos. Das will sagen, dreiundzwanzig Pesos verlangte Don Leonardo, weil das Kleid von New York importiert sei. Nach vier Stunden wurde das Kleid dann für vierzehn Pesos verkauft, wobei sowohl Don Leonardo als auch die Käuferin weinten oder wenigstens so taten, als ob sie weinten. Er darum, weil er das Kleid unter dem Einkaufspreis habe hergeben müssen und er das nur könne und nur tue, weil sie seine Nachbarin sei und zu einer Hochzeit wolle, und er hoffe, dass sie seine treue Kundin bis ans Ende ihrer Tage bleibe, während sie zu weinen vorgab darum, weil sie nur ein Kleid für acht Pesos habe kaufen wollen und nun alle ihre Ersparnisse hergeben müsse, um diesen sündhaften Preis bezahlen zu können. Als alles vorüber war, erzählte Don Leonardo seiner jungen Frau, dass er sechs Pesos an dem Kleide verdient habe, und die Käuferin erzählte in der ganzen Stadt herum, dass sie Don Leonardo diesmal aber schön hereingelegt habe, dass sie ein Kleid, das wenigstens dreißig Pesos wert sei, für den lächerlich geringen Preis von vierzehn Pesos erwischt habe und dass sie niemals, in ihrem ganzen Leben nicht, ein so schönes und so gutes und so modernes Kleid für so wenig Geld gekauft habe.
Diese Tienda würde Don Leonardo nicht reich, kaum wohlhabend gemacht haben. Die Konkurrenz war zu groß. Es gab in dem Städtchen so viele Läden, dass auf je drei Häuser ein Laden kam. Freilich waren die übrigen Läden nicht so groß und in ihren Waren nicht so reichhaltig wie der des Don Leonardo.
Die meisten Läden waren eigentlich nur Winkelchen, und in der Hälfte aller Läden konnte man die ganze vorhandene Ware in einem Ramsch für zehn Pesos kaufen und dabei noch Geld verdienen.
Don Leonardo hatte andere Geschäfte nebenbei laufen, die ihm mehr eintrugen. Er kaufte Mais von den indianischen Bauern, die in unabhängigen Gemeinden wohnten, in großen Mengen auf und verkaufte ihn dann mit gutem Gewinn in den größeren Städten Jovel, Tuxtla, Yalanchen, Balun Canan. Er kaufte in dem Distrikt Tsimajovel Kaffee auf und in dem Distrikt Pichucalco Kakao und verkaufte diese Waren an der Bahnstation an die größeren amerikanischen Kaffee- und Kakao-Einkäufer. Er kaufte in Hucutsin Tabak auf in Tausenden von Puppen und verkaufte ihn an die Händler in den Städten.
Er betrieb diese Geschäfte nicht in sehr großem Maßstabe. Natürlich nicht. Dazu fehlte ihm genügend Kapital, und es waren auch zu viele andere Aufkäufer herum, die sich gegenseitig Leben und Existenz erschwerten. Auch war die Produktion nicht groß und nicht beständig genug, um dabei reich zu werden. Aber diese Nebengeschäfte halfen ihm dabei, zu einem behäbigen Wohlstand zu gelangen.
Er durfte sich mit Recht für wohlhabender betrachten als sein Schwiegervater Don Arnulfo.

 

6

Bisher hatte ihm seine Tante im Geschäft geholfen. Seit seiner Heirat jedoch war die Tante mit ihm verfeindet. Mütter und Tanten haben es an sich, bösartig und sogar bissig zu werden, wenn ihre Schützlinge heiraten und sie nicht freudig und mit weitausgestreckten Armen in die Ehe mit aufgenommen werden. Und Tanten, besonders gar, wenn es übrig gebliebene Tanten sind, sind zuweilen blutdürstiger als Schwiegermütter. Die Schwiegermutter, selbst die gute, selbst die Ausnahme, ist ein Überbleibsel aus der Zeit der Höhlenmenschen. Das wird so häufig vergessen, und darum sind Witze über die Schwiegermutter meist so langweilig. Don Leonardo hatte keine Lust, seine junge Frau ständig im Geschäft zu haben, wenngleich das die Regel in den kleinen Städten in Mexiko ist und besonders in den kleinen Geschäften des unteren Mittelstandes. Die mexikanische Frau ist im Geschäft dem Manne weit überlegen. Sie ist arbeitsamer als er, gewandter und rascher im Erfassen von Situationen.
Die mexikanische Frau hat etwas, was dem mexikanischen Manne völlig fehlt: Vorausberechnung, und die Ruhe, das Vorausberechnete geduldig abzuwarten. Und weil Don Leonardo seine Frau nicht im Laden arbeiten sehen wollte, wenigstens nicht als Notwendigkeit, so hatte er an einen Jungen gedacht, den er im Geschäft heranbilden konnte, um ihn zu vertreten, wenn er seiner Einkäufe wegen nicht daheim sein konnte. Dona Emilia hatte ihm Andres beschrieben und ihm diesen Jungen empfohlen.
Andres war im Alter von etwa neun Jahren ins Haus, in das Herrschaftshaus des Don Arnulfo, gekommen, um bei Tisch zu bedienen. In den Ranchos und Haciendas in Mexiko sind es meist Jungen, die am Tische bedienen, sehr selten Mädchen. Es sind Jungen eines oder einiger Peones der Hacienda, also indianische Jungen. Oft sind es freilich Kinder, die den Liebesverhältnissen des Patrons der Finca, oder seiner erwachsenen Söhne, mit einem oder mit mehreren indianischen Mädchen der Finca entspringen.
Die Arbeit des Jungen eines Peons im Herrschaftshaus des Patrons gilt als Pflichtarbeit, die seinem Vater gutgerechnet wird. Der Vater des Jungen erhält dafür vielleicht etwas mehr Land zugewiesen, oder es werden ihm von den zwei Wochen Pflichtarbeit, die er im Monat für den Patron zu leisten hat, ein oder zwei Tage abgelassen, oder er bekommt das Recht, sich mehrere Ziegen oder gar eine Kuh zu halten, die auf die Weiden des Patrons gehen dürfen, oder der Junge arbeitet eine Schuld herunter, die sein Vater bei dem Patron gemacht hat, vielleicht als er Hemdenstoff brauchte oder Ferkel oder ein Hündchen von dem Herrn erwarb. Andres bediente nicht nur bei Tisch, er half beim Geschirrwaschen, half beim Reinigen der Stuben, wässerte die Blumen im Garten, putzte das Reitzeug des Patrons, half beim Baden der Reitpferde, half Wasser vom Fluss herbeischleppen, und wenn so gar nichts anderes zu tun schien, so rief ihn der Mayordomo, und dann musste er beim Drehen von Seilen helfen. Aber in nichts, was er auch tat, brauchte er sich totzuarbeiten. Wie sich wohl niemand, kein einziger Peon, auch wenn sie sich alle in gewisser Form von Leibeigenschaft befanden, zu Tode zu rackern brauchte.
Denn es wurde nichts in überhastender Eile getan. Weder hier noch auf irgendeiner anderen Finca, die im Besitz eines Mexikaners oder eines Halbspaniers war. Wenn Andres vielleicht von irgendwem im Hause gerufen wurde und er war nicht zur Stelle, weil er sich mit anderen Jungen des Dorf es herumbalgte, so wurde er, wenn er endlich erschien, gründlich angebüffelt, und gelegentlich bekam er vielleicht eins hinter die Ohren gelangt; aber damit war der Vorfall auch schon wieder vergessen. Immerhin war der Dienst im Hause für Andres von Vorteil. Er schnappte Spanisch auf; und er lernte es so gut, dass er zu jener Zeit, als er nach Joveltó kam, sich im Sprechen von den mexikanischen Jungen dort kaum unterschied. Und weil er gleichzeitig auch seine Muttersprache Tseltal sprach und es dieselbe Sprache war, die in Joveltó und in dessen weiter Umgebung von den Indianern gesprochen wird, wenn auch mit Abweichungen von dem Dialekt, den Andres sprach, so war der Junge von großem Wert für Don Leonardo. Denn Don Leonardo hatte, besonders an Markttagen, eine größere Kundschaft unter den Indianern als unter den Mexikanern.

 

7

Don Leonardo konnte den Jungen bald recht gut leiden. Andres war willig, zu lernen, er war intelligent und anstellig. Er lernte rasch die Waren zu unterscheiden und richtig zu benennen, lernte ihren Wert und ihre Haltbarkeit kennen, lernte ihren Preis und lernte auch bald, wie viel er bei der einen Ware vorschlagen und wie weit er mit dem Preise zuletzt heruntergehen konnte, um seinem Herrn immer noch einen Nutzen zu lassen.
Jedoch wohl nicht aus allzu großer Liebe für den Jungen und weniger wohl noch aus einer Fürsorge für die Zukunft des Jungen, sondern zweifellos aus rein egoistischen und für ihn selbst sehr nützlichen Gründen heraus schickte Don Leonardo den Jungen in die Abendschule, damit er lesen, schreiben und rechnen lernen möge. Rechnen konnte der Junge sehr wenig. Wenn ihm jemand einen Peso gab und die verkauften Waren kosteten sechsundachtzig Centavos, so musste er erst Don Leonardo oder Dona Emilia fragen oder gar aufsuchen, um die Summe zusammenrechnen zu lassen und ihm zu sagen, wie viel er herausgeben müsse. Das war umständlich und häufig, wenn Don Leonardo gerade bei Tische war oder die Zeitung lesen wollte, sehr belästigend. Und es war belästigend, dass der Junge die Aufschriften auf den Kisten und Packen nicht lesen konnte und darum oft die falschen Kisten aufmachte oder oft nahe daran war, die Ziffern der Preise zu verwechseln und Waren unter dem Preis zu verkaufen.
Don Leonardo dachte darüber nach, und er rechnete aus, dass der Junge für ihn wertvoller würde, wenn er lesen, schreiben und rechnen könne. Es war hier im Kleinen, wie es überall in der Welt im Großen ist. Der Fabrikant, der Großkapitalist, der Großlandbesitzer ist im Grunde seines Wesens der Bildung der Proletarier abgeneigt. Er fühlt mit gutem Recht, dass der gebildete Prolet seiner bevorzugten Stellung in der Welt gefährlich werden kann. Aber das Wirtschaftsleben ist so kompliziert und so verwickelt geworden, dass ein Fabrikant, der ungebildete Arbeiter beschäftigt, von jenen Fabrikanten, die gebildete und hochintelligente Arbeiter um sich sammeln, zugrunde gerichtet wird. Ein Eisendreher, der nicht berechnen kann, welche Übertragungsräder er einstellen muss, wenn er ein Gewinde von zehn Gängen auf einen Zoll Länge bringen soll, ist heute durchaus wertlos für den Fabrikanten. Die Maschinen, die ein Arbeiter heute zu bedienen hat, sind in den meisten Fällen so kompliziert, dass der Arbeiter, der alle die vielen Aufschriften an den unzähligen Hebeln, Rädern und Armen an seiner Maschine nicht blitzschnell zu lesen vermag, dem Fabrikanten in zwei Sekunden einen Schaden von zehntausend Dollar verursachen kann. Ein Arbeiter, der vorgelegte Zeichnungen nicht lesen, verstehen und nach ihnen arbeiten kann, ist unbrauchbar für den Fabrikanten von heute. Der Kapitalist von heute muss, um Kapitalist sein und bleiben zu können, den Staat unterstützen und sogar anspornen, den Kindern des Proletariats, die er ja eines Tages als Arbeiter benötigt, eine so gute Schulbildung zu geben, wie sie vor hundert Jahren nur selten die Kinder von Fabrikanten erhielten. Der Kapitalist muss mit seinen Steuern diese Bildung des Proletariats unterstützen. Er tut es mit bitterem Grimm im Herzen, aber er hat keinen anderen Ausweg. Heute, und mehr noch in Zukunft, steht nicht das Land an erster Stelle in der Welt, das die gebildetste Oberschicht hat, sondern jenes Land bestimmt den Wert des Geldes, das innerhalb seiner Grenzen das gebildetste Proletariat auferzieht.
So waren es reine Erwägungen von Nützlichkeit und von eigenem Vorteil, die Don Leonardo bewogen, dem Jungen eine notdürftige Schulbildung zu geben. Aber man darf ruhig schon jetzt sagen, dass, wenn der Junge eines Tages von seiner Schulbildung einen individuellen Gebrauch machen würde von einer Art, die Don Leonardo nicht behagt, Don Leonardo von einer undankbaren Kreatur sprechen wird, von einem Jungen, den er zu dem gemacht habe, was er sei, und der die große Güte seines Herrn mit schwarzer Undankbarkeit vergelte, und wenn er, Don Leonardo, das nur früher gewusst hätte, so würde er ihn, den Jungen, in seinem verlausten Indianerdorf gelassen haben, und er würde sich wohl gehütet haben, sein gutes Geld dafür auszugeben, dass der Junge etwas lerne.

 

8

Das gute Geld, das Don Leonardo für die Schulbildung des Jungen ausgab, war nicht viel. Sechzig Centavos den Monat. Aber Don Leonardo machte viel Aufhebens von dieser Ausgabe.
Er hatte eigentlich ein Recht dazu, viel darüber zu sprechen. Denn er war wohl der einzige in der ganzen Stadt, der einen kleinen Indianerjungen, der in Diensten stand, in die Schule schickte und noch dafür bezahlte. Andere Mexikaner, die in Joveltó wohnten und indianische Bedienstete hatten, dachten mit keinem Gedanken daran, ihren Bediensteten eine Möglichkeit zu geben, sich eine geringe Bildung anzueignen. Der Bedienstete, ob Bursche oder Mädchen, arbeitete von fünf Uhr morgens bis abends um zehn. Es war nicht immer schwere Arbeit, aber er musste stets auf den Beinen und zur Stelle sein, wenn er gerufen wurde. Der Bedienstete konnte keine Stunde entbehrt werden. Das bildeten sich wenigstens sein Herr und seine Herrin ein. Und ihn gar in die Schule zu schicken, war einmal Unsinn und zum andern Sünde. Unsinn war es darum, weil es ja geschehen mochte, dass der indianische Junge nach einer Zeit mehr konnte und mehr wusste als der leibliche Sohn des Herrn. Denn die leiblichen Kinder des Herrn wurden hinsichtlich ihrer Schulbildung sehr lässig behandelt. Es galt meist schon allerlei, wenn sie notdürftig lesen und schreiben konnten. Und Sünde war es, einen Indianerjungen etwas Schreiben und Lesen lernen zu lassen, weil die Kirche einer Schulbildung der Indianer nicht sehr freundlich gesinnt war. Die Kirche wollte die Indianer in ihrer Unschuld und Unwissenheit belassen, weil den unschuldigen Kindlein das Himmelreich gewiss sei, während man von einem gebildeten Indianer nie wisse, wohin ihn seine Bildung führen möchte. Das Beispiel des Indianers Benito Juarez war noch sehr frisch und ist bis heute frisch geblieben. Dieser Indianer aus Oaxaca, der bis zu seinem fünfzehnten Jahre in paradiesischer Unwissenheit dahingelebt hatte, erhielt die
Möglichkeit, sich etwas Bildung zu erwerben. Und als er nach vielen Mühen endlich eine gute Bildung gewonnen hatte, konfiszierte er alles Kircheneigentum für das mexikanische Volk und räumte so gewaltig unter den ewigen und von Gott persönlich an die Kirche verliehenen Rechten auf, wie das vorher niemals jemand gegen die katholische Kirche gewagt hatte. Kein Wunder, dass die Kirche mit schiefen Augen die Schulbildung der Indianer betrachtete.
Die sechzig Centavos, die Don Leonardo für die Schulbildung des Andres ausgab, waren in Wirklichkeit viel weniger Geld, als es schien. Denn: Andres bekam keinen Lohn.
Wer wird denn auch einem Indianerjungen Lohn bezahlen! Der Indianerjunge darf froh sein, dass er die Ehre hat, arbeiten zu dürfen. Das ist des Lohnes genug. Der Patron hat ein Recht darauf, von dem Indianer Dankbarkeit zu erwarten dafür, dass er ihn beschäftigt.
Andres bekam das Essen. Es war reichlich. Das muss gesagt werden. Aber sein Essen war sehr selten etwas anderes als Maisfladen, schwarze Bohnen und Chili, oder, um es genauer zu bestimmen, Tortillas, Frijoles und grüner Pfeffer. Wenn der Junge nicht gleich zur Stelle war, sobald er gerufen wurde, oder wenn er etwas versah in seiner Arbeit, so wurde ihm ständig gesagt, dass er nicht einmal sein Essen verdiene und dass sein Herr an ihm täglich verliere.
Außer dem Essen erhielt er auch die Kleidung von seinem Patron. Die Kleidung war eine weiße Baumwollhose und eine weiße hemdartige Jacke aus Baumwollstoff und ein Hut aus Bast. Schuhe oder Stiefel bekam der Junge nicht. Nicht einmal Sandalen. Er ging immer barfuss und hatte nie in seinem Leben etwas an den Füßen gehabt. Der Junge war daran gewöhnt und wusste es nicht besser.
Wenn dann die Fiesta des Ortes war, das Fest des heiligen Schutzpatrons von Joveltó, dann bekam der Junge vielleicht fünf
Centavos, oder wenn sein Herr sehr freigebiger Laune war, zwei Reales, fünfundzwanzig Centavos, damit er sich Dulces, Bonbons, kaufen möge. Das kam einmal im Jahr vor, weil die Fiesta nur einmal im Jahre war. Damit aber nicht genug. Wenn der Junge seinen Dia de Santo, den Tag seines Schutzheiligen, hatte, dann bekam er wieder einmal zehn Centavos und vielleicht einen neuen Cintaron de lana, ein rotes Wollband, das ihm zum Festhalten seiner Baumwollhose um die Hüften diente.
Ein Bett hatte er nicht. Er war auch nicht daran gewöhnt. Er schlief auf einem Petate, einer Matte aus Bast, die er in einem Winkel der Küche oder in einer Ecke des Portico ausbreitete. Diese Matte hatte er von Hause mitgebracht.
Weil der Junge auch während seines Dienstes im Herrschaftshause der Finca niemals Lohn bekommen hatte und dort nicht einmal einen Centavo in die Hand bekam, so wusste er auch gar nicht, was Lohn war. Und darum, wenn er jetzt zweimal im Jahre ein paar Centavos von seinem Herrn erhielt, so fühlte er sich in seiner wirtschaftlichen Lage erheblich gebessert. Ein System, das einen Kapitalisten vor Neid bersten lassen könnte und das gesetzlich überall auf Erden einzuführen der mollige Traum eines jeden Arbeitgebers ist.

 

9

Der Lehrer konnte es leicht für sechzig Centavos im Monat tun, dem jungen Bildung beizubringen. Er hatte fünfundzwanzig Pesos Gehalt im Monat.
Der Jefe Politico, der Distriktschef, hatte sechshundert Pesos im Monat, die Einnahmen, die er aus Erpressungen und Bestechungen schöpfte, nicht gerechnet. Das war mehr als sein Gehalt. Unter allen Staatsangestellten hatte der Lehrer das geringste Einkommen.
Staatsanwälte und Polizeidirektoren werden zwanzigmal besser bezahlt. Und sie werden darum zwanzigmal besser bezahlt und hundertfach höher geachtet, weil es ihre Aufgabe ist, die Defekte der Menschheit zu beknabbern. Eine Aufgabe, die notwendig ist, um den Staat zu erhalten und den Menschen beizubringen, dass die Anerkennung des Privateigentums ein Zeichen von Zivilisation ist.
Der Lehrer konnte keine Erpressungen ausüben, weil er dazu weder ein Recht noch die Macht hatte.
Und ihn zu bestechen, machte sich niemand die Mühe; denn ob jemand in seiner Schule ein Examen bestand oder nicht, das war sowohl für die Schüler als für deren Eltern ohne jeglichen Belang.
Er konnte seine Einkünfte allein nur dadurch verbessern, dass er eine Abendschule einrichtete für die Leute und für die Kinder, die während des Tages nicht zur Schule kommen konnten. Die Mehrzahl der Kinder des Städtchens, die Kinder der Indianer alle, mussten während des Tages arbeiten. Die einen auf den Feldern, die anderen irgendwie in der Hausindustrie, wo Kerzen gegossen, Zigaretten gedreht, Tongeschirr geformt, Wolldecken gewebt, Leder bearbeitet, Bonbons gekocht, Hüte geflochten wurden.
Der Lehrer berechnete für jeden Schüler, ob erwachsen oder nicht, einen Peso im Monat. Zahlreiche Familien konnten diesen Peso nicht aufbringen, und darum blieben die Kinder ohne Schulbildung.
Don Leonardo, guter Kaufmann, der er war, verstand es, von dem Peso, den er dem Lehrer für Andres zu bezahlen hatte, noch vierzig Centavos abzuhandeln.
Andres sollte eigentlich jeden Abend zur Schule kommen, die von sieben bis neun oder halb zehn gehalten wurde. Er wollte auch jeden Abend kommen, denn er fand Freude am Lernen. Aber wenn ihn sein Patron im Geschäft brauchte, dann konnte er nicht gehen. Das Geschäft ging vor, und Lernen war nichts als Zeitvergeudung.
Don Leonardo kaufte dem Jungen auch keine Bücher. Wenn er ihm wirklich einmal ein beschmutztes Schreibheft aus dem Laden gab oder einen halbaufgebrochenen Bleistift oder ein schal gewordenes Fläschchen Tinte, so tat er das mit vielen Worten und mit saurer Miene. Aber der Junge konnte ja altes Einpackpapier, das zum Einwickeln nicht mehr zu gebrauchen war, haben, und er mochte auf seinen Gängen in den Straßen achtgeben, ob er nicht ein Bleistiftstümmelchen, das jemand verloren oder weggeworfen hatte, auflesen könnte.
Unvollkommen, wie diese Art des Unterrichts auch war, Andres lernte dennoch eine gute Menge.
Das Wichtigste, was er wohl lernte, war, zu erkennen, welchen Wert Bildung hatte. Denn selbst den Wert, lesen und schreiben zu können, weiß nur der zu schätzen, der lesen und schreiben kann.

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