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B. Traven - Der Karren (1930)
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ELFTES KAPITEL

1

Luis suchte eine Cantina auf, um sich einen Comiteco hinunterzugießen, und Andres schlenderte hinüber zu dem Restaurant, das aus einem Tisch bestand, der in einer Art sehr primitiver Laube aufgestellt war.
Hinter dem Tisch war ein kleines Öfchen aus Blech, in dem Holzkohlen glühten. Auf dem Öfchen lag ein Blech, das nach unten ein wenig ausgebaucht war. In der Ausbauchung brutzelte
Fett.
Neben dem Öfchen hockte eine alte Indianerin, die alle Augenblicke die Holzkohlen mit einem Fächer aus Bast anglühte. Sie war die Köchin des Restaurants.
Sie röstete die Enchiladas und füllte sie, je nach Wunsch des Bestellers, mit Barbacoa, mit Huajalote, mit Pollo, mit Res, mit Ternera, mit Queso. Barbacoa war Ziegen- oder Hammelfleisch, das auf besondere indianische Art mit allerlei Kräutern versehen und mit Hilfe glühend heißer Steine in einer Erdgrube gebacken worden war. Huajalote war gebratener Truthahn, Pollo war Hühnchen, Res war Rindfleisch, Ternera war Kalbfleisch und Queso war geriebener Ziegenkäse oder wer sonst die Schuld an diesem Käse übernehmen wollte.
Es war der Köchin ganz gleich, in welcher Sprache die Enchiladas und deren Inhalt verlangt wurden.
Sie konnte Spanisch sprechen, Tsotsil, Tojolaval und Tseltal. Ein Spanier, der ihr gegenüber seinen Verkaufsstand hatte, sagte, die Indianerin könne auch Englisch und Arabisch verstehen, wenn man auf die Fleischsorten, die man haben wolle, gleichzeitig mit dem Finger deute. Weil überhaupt jeder, der hier Enchiladas kaufte, mit dem Finger auf das hinwies, was er in seine Enchiladas hineingefüllt haben wollte, so war nicht mit Sicherheit festzustellen, ob die Indianerin eine andere Sprache verstand als Tojolaval.
Neben sich, auf dem Erdboden, hatte die Indianerin mehr als ein Dutzend irdene Schüsselchen und Töpfchen stehen. Denn außer den Fleischsorten steckte sie noch in die Enchiladas Zwiebeln, Tomaten, roten Chili, grünen Chili, grünen Salat, grüne Zitronenblätter, Calabaza-Blüten und noch zwanzig andere verschiedene würzige Kräutchen, Blättchen und Würzelchen.
Sie gebrauchte einen Blechlöffel zum Umwälzen der im Fett sich bräunenden Enchiladas und Tacos.
Messer, Gabeln oder sonstige Hilfsmittel waren ihr unbekannt. Das Fleisch rupfte sie von dem Huhn oder von dem Kalbsschenkel mit den bloßen Fingern ab. Das ging viel schneller, und sie bekam die richtige Portion für eine Enchilada mit einer Sicherheit zwischen die Finger, die verblüffend war.
Wie sie in dem winzigen Plätzchen, das ihr zum Kochen zur Verfügung stand, mit so vielen Fleischsorten und Gemüsen fertig wurde, ohne sie je zu verwechseln, das zusehen war ein Vergnügen an sich.
An de m kleinen Tischchen standen zwei ihrer Töchter, die bedienten. Indianermädchen mit langem, herabhängendem Haar. Sie legten die fertigen Enchiladas und Tacos auf ein kleines Tellerchen und reichten sie so dem Käufer hin. Der Käufer bekam weder Messer noch Gabel, noch Löffel, weil so etwas in dem Restaurant nicht vorrätig war. Aber wer gegessen hatte, bekam einen grauen fettigen Lappen, mit dem er sich die Finger und den Mund abtrocknen durfte. Dann bekam jeder ein kleines Tonkrügchen mit Wasser, um sich den Mund auszuspülen. Diejenigen, die an großen Luxus gewöhnt waren, verlangten noch ein Tontöpfchen mit schwarzem gesüßtem Kaffee, der einen Viertelreal kostete.
Die Tellerchen und Krügchen waren nie wirklich rein gewaschen. Man hätte sich um die Frage, ob das Geschirr denn von Schmutz und Dreck starrte, aber doch herumdrücken müssen, weil man mit einem kurzen klaren ja den Tatbestand nicht genau hätte beschreiben können. Die Geschirre waren unglaublich dreckig; aber merkwürdig, man kam hier auf einen solchen Gedanken gar nicht. Niemand empfand den Schmutz als hässlich oder als störend. Es gehörte zur Sache wie die Wolke zum Himmel. Die Harmonie der ganzen Umwelt wurde in keiner Weise zerrissen.
Und merkwürdig war es, dass die Geschirre dennoch immer frisch gewaschen erschienen. Freilich, wo und wie und womit sie gewaschen wurden, das war nicht zu sehen, nicht zu erfahren und nicht zu ergründen.
Die Geschirre wurden dem Besucher, noch während er aß, fortgezogen, und er musste den Rest in seine Hände nehmen. Inzwischen waren neue Enchiladas fertig, die Geschirre tauchten von irgendwoher wieder auf, und ehe man richtig Zeit hatte, festzustellen, ob die Geschirre gewaschen seien oder nicht, da lagen schon die neuen brutzelnden und vom Fett triefenden Enchiladas auf den Tellerchen, und es war nun nicht mehr zu sagen, ob die fettige braune Tunke von den neuen Enchiladas oder noch von den früheren übrig geblieben sei. Ähnlich erging es mit den Tonkrügchen, in denen der Kaffee gereicht wurde. Der Kaffee wurde immer reichlich eingefüllt und schwappte über; so konnte das Gerinnsel an dem Krügchen sowohl der frische oder auch der frühere Kaffee sein. Wenn etwas verdächtig erschien, so wischte die servierende Tochter mit der Hand den Rand des Krügchens oder den Rand des Tellerchens mit einer flinken Geste sauber. Den Finger leckte sie ab oder streifte ihn gegen ihre weiße Schürze, die so voll Tunkestreifen war, dass man auch hier nicht hätte sagen können, ob das Mädchen den Finger gerade jetzt hier abgetrocknet habe oder vor drei Stunden.
Aber die Leute, die hier herkamen, wollten ja kein Geschirr kaufen, sondern sie wollten Enchiladas essen.
Ihnen war nicht das Geschirr die Hauptsache, sondern gute und schmackhafte Enchiladas. Und die Enchiladas waren vorzüglich.
Darum blühte das Geschäft. Und die Leute stritten sich herum, wer zunächst an der Reihe sei. Andres hatte eine gute Weile zu warten, ehe er zu seinen Enchiladas kam.

 

2

Abgesehen davon, dass man allen Schund und Kram kaufen konnte, der sonst in keiner größeren Stadt verkäuflich war, gab es hier kaum irgendeine wirkliche Zerstreuung oder ein unterhaltsames Vergnügen.
Es gab hier keine Karussells, keine Luftschaukeln, keine Rutschbahnen oder irgend etwas Ähnliches, was solche Feste anderswo belebt. Diese Maschinerie konnte nicht hertransportiert werden, weil der Transport so schwierig und so teuer war, dass jeglicher Gewinn von den Transportkosten verschlungen worden wäre.
Man musste sich ergötzen an dem Schreien der Händler und an den humoristischen Reden, die von den geschickten Männern gehalten wurden, die unzerbrechliche biegsame goldene Schreibfedern verkauften, Glasschneider, Messerschärfer, Nähnadeleinfädler, gläserne Linsen, die man zum Lesen, zum Untersuchen von gefälschter Seide und als Fernrohr gebrauchen konnte, Fleckenwasser, Putzpomade, Magentropfen, Augenwasser, Rheumatismussalbe, Warzenstifte,
Hühneraugentinkturen.
Aber selbst für Andres wurde das nach kurzer Zeit langweilig, denn sobald der Mann herum war mit der Reihe von Dingen, die er anpries, so wiederholte er seine Witze und Schäkereien mit genau den gleichen Worten und Schattierungen.
Die Feuerschlucker, Schlangenmenschen und Entfesselungsmeister, von denen jeder unabhängig vom andern auf eigene Rechnung arbeitete, nur von seiner Frau oder einem Adjutanten begleitet, langweilten gleichfalls, weil sie alle nur einen Trick kannten und den von vier Uhr nachmittags bis elf Uhr nachts sooft wiederholten, solange nur ein Besucher vor ihnen stand, der den Eindruck erweckte, dass er wohl fünf Centavos in der Tasche habe, die man ihm vielleicht abnehmen könnte. Die Spieltische verloren ihr Interesse auch sehr schnell, wenn man nicht selbst mitspielte. Aber es standen immer Leute herum und sahen zu, dachten sich eine Nummer aus und waren glücklich, wenn die Nummer verlor, weil sie ihr Geld in der Tasche behalten hatten.
Und der Zirkus, der im Patio eines Bürgerhauses, etwas abseits des großen Marktgetümmels, Vorstellungen gab - jede halbe Stunde begann eine neue Vorstellung -, war wohl das Ärmste und Bescheidenste, das man sich unter dem Worte Zirkus vorstellen kann. Aber trotzdem machte er auch Geschäfte, weil jegliche Konkurrenz fehlte.
Für die Mehrzahl der Leute bestand das Vergnügen in der Hauptsache nur darin, dass sie umherwanderten, hier einen Augenblick stehen blieben und dort eine Viertelstunde zusahen oder zuhörten und dann sich wieder weiterdrängten.
Am Vergnügtesten waren die jungen Burschen und Mädchen der Stadt, die das Herumwandern und Entlangquetschen in der Menge benutzten, sich zu necken und sich näher zu kommen, ohne beachtet zu werden, als dies bei irgendeiner anderen Gelegenheit möglich war. Denn selbst bei Bällen war immer die Mutter oder die Tante anwesend, und die Mädchen konnten keinen selbständigen Schritt tun, ohne dass sie begleitet wurden. Hier war das nicht durchführbar. Sie gingen zwar mit ihren Müttern auf die Plaza, aber es ließ sich leicht einrichten, dass man sich für eine halbe Stunde ganz aus den Augen verlor. Man konnte nichts dafür. Man war von den Leuten zurückgedrängt und beiseite geschoben worden.
Dadurch geschah es, dass diese so wohlbehüteten und wohlbewachten Jungfrauen der Stadt mehr als einmal im Gedränge oder irgendwo im Schatten der Wände eines Hauses zu einer angenehmen Lippensalbung oder gar zu einer rasch und geschickt vollzogenen anatomischen Abtastung gelangten, die erfreuliche Empfindungen auslösten und nicht angerechnet wurden, weil sie zur Belebung des Festes beitrugen, das gegeben wurde, um dem heiligen Caralampio die schuldige Ehrfurcht zu bezeigen.
Manch eine der Töchter ehrbarer Bürgerfamilien war zuweilen für mehr als eine halbe Stunde verloren gegangen.
Sie ging nicht dauernd verloren. Sie fand sich bei den besorgten Eltern, die sie vergeblich gesucht hatten, wieder ein, mit ein wenig zerzaustem Haar, ein wenig zerknüllt im übrigen, was ihren Worten genügend Beweiskraft gab, mit welcher Mühe sie sich durch die Menge gekämpft habe, um ihre geliebten Eltern wieder zu finden.
Wenn die herumwandernden Leute endlich nicht wussten, was sie mit sich anfangen sollten, weil sie nun jeden Tisch und jeden Verkaufsstand dreihundertundachtzigmal gesehen hatten, dann gingen sie wieder einmal für eine Viertelstunde in die Kirche, die ihre Portale ständig offen hielt und die Orgel spielte und die vermummten Frauen singen ließ. Und dann ließ die Kirche ihre Glocken läuten. Die konnte kein noch so robuster Händler oder Roulettebankier überschreien. So wurden die herumwandernden Leute immer zur rechten Zeit daran gemahnt, nicht all ihr Geld bei den Händlern, beim Roulette, für Enchiladas und für Comiteco zu vergeuden, sondern noch etwas Übrigzulassen für das ewige Leben.
Wer vermag eine bessere Reklame zu machen als die katholische Kirche in Mexiko, wo man so häufig vor den Geldbüchsen einen Zettel sieht mit der zugkräftigen Anzeige: Der Centavito, den du hier einlegst, wird dir mit Gold zurückbezahlt im Himmel. Ein Bankier, der eine solche Anzeige in das Fenster seiner Bank hängt, wird sofort verhaftet wegen Unterschlagung von Depositengeldern. Von ihm würde der Richter verlangen, dass er unzweifelsfrei zu beweisen habe, dass die Depositen im Himmel zurückgezahlt werden, dass es einen Himmel gibt, und wo er sich befindet. Die Kirche braucht das nicht zu beweisen. Ihr glaubt man es. Und wer es nicht glaubt, lästert Gott.
Wie soll sich hier ein Indianer noch zurechtfinden?

 

3

Auch Andres wusste nicht, was er mit sich tun sollte, nachdem er einige zwanzig Male immer dieselben Reihen auf- und abgelaufen war. Er hörte den Singsang aus der Kirche und das klagende Orgelspiel, das so bequem, so denkfaul und so widerstandslos macht, bis man zu allem ja sagt. Er hatte auch nicht die geringste Lust, noch einmal in die Kirche zu gehen.
Das um so weniger, weil in die Nähe des Brunnens, der an einer Seite des Platzes stand und der die ganze Stadt mit Wasser versorgte, einige Musikanten gekommen waren, die aufzuspielen begannen.

 

4

Dieser Brunnen war die Tageszeitung der Stadt. Die Stadt hatte keine andere eigene Zeitung. Aber der Brunnen ersetzte diesen Nachteil, oder Vorteil, ganz wie man will.
Da die Stadt keine Wasserleitung besaß, so waren die Einwohner genötigt, alles Wasser, das sie gebrauchten, von diesem Brunnen heranzuschaffen. jede Familie hatte in ihrem Hause mehrere irdene Krüge, deren jeder etwa achtzig bis hundert Liter hielt. Diese großen Krüge wurden von Indianern angefertigt in derselben Form und Art, wie sie gefertigt wurden vor zweitausend Jahren. Die besseren Familien der Stadt betrachteten es als unvornehm, ihre Mägde zum Brunnen zu schicken und das Wasser in kleineren Krügen, die auf dem Kopfe getragen wurden, heranzuschleppen. Diese Vornehmheit jener Bürgerfamilien ließ ein besonderes Geschäft in der Stadt blühen, das der Wasserlieferanten. Die Lieferanten waren Indianer, die städtisch geworden waren und in den Außenbezirken der Stadt wohnten.
Sie hatten zwei oder drei Esel, die sie täglich von morgens um sechs bis in den späten Nachmittag hinein beschäftigten. Die Esel trugen ein Gestell, in dem sich große Tonkrüge, mit Wasser gefüllt, leicht transportieren ließen. Mit ihrer Last Wasser zogen die Wasserhändler von Haus zu Haus und boten ihre Ware an. Wenn sie einen Kunden fanden, so kamen sie so oft mit einer Last, bis die großen Vorratskrüge in dem Hause des Kunden gefüllt waren. Dafür berechneten sie einen bestimmten kleinen Betrag.
Diejenigen Familien, die noch vornehmer sein wollten als die übrigen, hatten gewöhnlich einen eigenen Esel, auf dem ein indianischer Junge, der im Hause diente, das Wasser heranschaffte.
Die Familien, die der nächsten sozialen Schicht angehörten, bezogen das Wasser nur Lastweise, wofür sie einen Real, zwölf Centavos, oder noch weniger bezahlten.
Dann kam die nächste Schicht, deren Familien schon zuweilen das zweite indianische Mädchen zum Brunnen schickten, um das Wasser herbeizuschaffen.
Dann folgte jene Schicht, deren Angehörige nur ein indianisches Mädchen halten konnten, das für alles gebraucht wurde, also auch für Wasserholen.
Und dann kam die unterste Schicht, wo die Frau selbst oder ihre Kinder das Wasser herbeizuholen hatten, weil hier selbst die zwei Centavos, die eine kleine Last Wasser kostete, eine Summe war, die nicht für etwas ausgegeben werden durfte, was man selbst tun konnte.
Niemand, selbst berufsmäßige Wasserhändler nicht, kam zum Brunnen, ließ das Wasser, das aus mehreren Röhren ununterbrochen Tag und Nacht in dicken Strahlen floss, in die Krüge laufen und rannte sofort wieder davon. Jeder, der zum Brunnen kam, rastete hier ein wenig und schwätzte mit denen, die schon hier standen. Die Männer rollten sich eine Zigarette, und die Mädchen nestelten an ihrem Haar herum oder an ihren Röcken. Es wäre schlechter Geschmack gewesen, hier herzukommen, Wasser einlaufen zu lassen und sofort wieder loszurennen. Das Wasserentnehmen geschah mit großer Ruhe und mit sehr bedächtigen Gesten.
Waren die Krüge gefüllt, dann wurden sie erst auf den Boden gestellt, und die Mädchen schienen zu überlegen, ob sie nun den Krug wirklich aufnehmen sollten oder erst noch irgend etwas abwarten. Es war auch notwendig, dass immer wenigstens zwei Mädchen anwesend waren, weil die zuletzt Gekommene derjenigen, die gehen wollte, den Krug auf den Kopf helfen musste.
Des Abends suchten alle Mädchen, selbst die der vornehmen Familien,   die  ihre  Mädchen  nie  hinunter  zum  Brunnen schickten, nach einem Vorwand, zum Brunnen gehen zu können, sei es auch nur für zehn Minuten. Im Hause erklärten sie, dass das Wasser in den großen Vorratskrügen trübe und schal sei und dass es der Gesundheit und dem guten Appetit des Herrn von Vorteil wäre, wenn sie rasch zum Brunnen hinuntereilen würden, um frisches kühles Wasser für den Abendtisch heraufzuholen.
Wenn das Mädchen zurückkam vom Brunnen, besonders des Abends, so wartete die Frau des Hauses schon in der Küche auf sie, aber nicht des Wassers wegen, sondern um zu hören, ob es wirklich wahr sei, dass Don Jorge in dieser Woche schon dreimal in das Haus der Witwe Dona Amalia gegangen sei, und ob es richtig sei, dass er das Haus erst um ein Uhr morgens verlassen habe, und wie der Zank, den vorgestern Nachmittag Senor Osorio mit seiner Senora hatte, ausgelaufen sei, ob er seine Senora wirklich so verprügelt habe, dass sie sich nicht sehen lassen könne, und ob es sich bestätige, dass Dona Ana, die Partera, die Hebamme, gesagt habe, das neugeborene Kind der Senora Zavala sei um einen Monat zu früh gekommen, oder ob es ein siebenmonatiges sei, weil sie doch erst vor acht Monaten geheiratet habe. Das waren Dinge von viel größerer Wichtigkeit als jene Nebensächlichkeit, dass bei der letzten Wiederwahl des Präsidenten Don Porfirio nur drei Prozent des gesamten mexikanischen Volkes zu den Wahlurnen gegangen waren, weil jeder Mexikaner, ob er Verstand hatte oder nicht, schon ein halbes Jahr vor der Präsidentenwahl wusste, wer gewählt ist, und dass in allen Ecken und Winkeln der Republik von einer Revolution gesprochen wird, die mit dieser Tyrannei ein Ende zu machen gedenke.
Die Mädchen hier am Brunnen hatten auch unter sich soviel über ihre Liebesgeschichten und Eifersuchtskomödien und -tragödien zu schwatzen, dass es kein Wunder war, wenn man bis spät in die Nacht hinein hier Mädchen mit ihren Krügen antraf, die frisches Wasser für ihren Herrn holen mussten.
Und weil die Burschen der Stadt wussten, dass sie hier mit Sicherheit die treffen konnten, die sie sich ausgewählt hatten, so ging es hier in den Abendstunden stets recht lebhaft zu.
Während der Feria freilich war die Idylle des Brunnens völlig zerstört. Es war zu laut in seiner Nähe von dem Schreien der Händler und dem Geschwätz der hin und her wandernden Besucher. Und während zu gewöhnlicher Zeit der Brunnen immer in tiefer Finsternis lag, vorausgesetzt, es war kein Mondschein, so konnte jetzt am Brunnen keine Umarmung verborgen bleiben. Es war zuviel Helligkeit auf dem Platze, Helligkeit, die von den erleuchteten Verkaufsständen ausging. Aber Helligkeit um sich lieben nur Leute, die mehr als zwei Monate verheiratet sind, weil sie ihre Vernunft wieder gefunden haben und sehen wollen, was sie vor sich haben, um es besser kennen zu lernen und eine Antwort auf die Frage zu finden: Allmächtiger Gott im Himmel, warum habe ich Esel, der ich war, das getan?

 

5

Die Musikanten, hier am Brunnen aufgestellt, begannen lustig zu spielen. Es war da ein Stückchen freier Platz, den die Obrigkeiten an die Händler nicht verschachert hatten, weil er notwendig war, um den Wasserholern und den wassertragenden Eseln genügend Raum zu lassen.
Auf diesem Plätzchen begannen jetzt auch gleich die indianischen Burschen und Mädchen der Stadt zu tanzen. Wenn ein Tanz zu Ende war, gab einer der Burschen den Musikanten fünf Centavos, und sofort begannen sie einen neuen Tanz aufzuspielen.
Es war sicher vorauszusagen, dass hier bis zwei oder drei Uhr morgens getanzt werden würde. Denn sobald die Mädchen und Burschen der Stadt hörten, dass hier getanzt wurde, dann kamen sie sehr rasch in großen Gruppen herbei, aus den fernsten Winkeln der Stadt. Tanzen ließen sie sich nicht entgehen.
Eine andere Zerstreuung gab es nicht. Nicht für die Angehörigen der unteren Klasse und nicht für die der oberen. Auch die guten wohlversorgten Bürger, wenn sie eine Zerstreuung nötig hatten, so tanzten sie, in dieser Woche im Hause der Familie Suarez, in der nächsten Woche im Hause der Familie Cota, und so das ganze Jahr hindurch. Hier hatte der Herr des Hauses seinen Cumpleanos, seinen Geburtstag; dort die Frau des Hauses ihren Dia de su Santo, ihren Heiligentag; in einem andern Hause war ein Neuangekommener getauft worden; dann gab es hier eine Hochzeit. Dann waren die zwei Wochen der Posada. Da war das Neujahrsfest. Und wenn gar kein Grund vorlag, zu tanzen, dann luden die jungen Herren der Stadt alle Damen zu einem Ball im Hotel ein, nur des Balles wegen. Dann verließ ein junger verheirateter Arzt die Stadt, um nach den Vereinigten Staaten zu gehen und sich dort weiter auszubilden. Ihm zu Ehren wurde ein Ball veranstaltet. Ein anderer junger Mann der Stadt hatte seine Studien in Mexico City vollendet und kam zurück, um sich als Zahnarzt oder als Rechtsanwalt niederzulassen. Es gab einen Begrüßungsball.
Was sollten die Leute sonst tun? Es gab keine Kinos, keine Theater, keine Konzerte; kein Vortragsredner unternahm die zerrüttenden Mühen einer Reise bis hierher. Selbst ein verhungernder Zirkus war selten.
Sie gingen noch viel weiter in ihrem Drang, Zerstreuung im Tanzen zu suchen und zu finden. Die Indianer tanzten sogar bei ihren Leichenfeiern. Der Sarg mit dem Leichnam wurde in der Mitte des größten Raumes aufgestellt. Hatte die Familie ein paar Pesos übrig, dann wurde der Cura gekauft, um den Leichnam einzusegnen und mit Wasser zu bespritzen. Wenn die Leute kein Geld hatten, wagten sie nicht, den Cura zu bemühen, weil sie wussten, dass er nichts umsonst tat. War der Pfarrer fertig mit seinen Ölungen, seinen anderen geheimnisvollen Hantierungen und war er gegangen, dann setzte eine lustige Musik ein, und die Paare tanzten in aller Fröhlichkeit um den Sarg herum, die allernächsten Verwandten des Verstorbenen oder der Verstorbenen eingeschlossen. Sie tanzten bis zum frühen Morgen.
Dann wurde der Sarg aufgenommen, und alle marschierten wehklagend und heulend zum Friedhof hinaus.
Die Mexikaner, die so genannten Ladinos, taten so etwas natürlich nicht. Sie betrachteten ein solches Verhalten als heidnisches Barbarentum. Ihnen fehlte es an Reife der Kultur, und noch mehr fehlte es ihnen an einer gesunden natürlichen Philosophie. Jahrhundertelang unter dem Einfluss einer Kirche stehend, die eine glitzernde Zeremonie an Stelle einer schlichten Lehre setzte, die nichts anderes sein wollte und will als eine schlichte Lehre, sind die Leute zu Heuchlern geworden; und damit haben sie in sich alles das zerstört, was der Entwicklung zu einem schlichten und aufrichtigen Menschen dienlich ist. Denn wenn man es für schicklich betrachtet, bei der Geburt oder der Taufe eines Kindes zu tanzen, bei jener Gelegenheit, wo ein Mensch gegen seinen eigenen Willen in die Kümmernisse und Leiden des Lebens getrieben wird, warum in aller Welt soll es dann unschicklich und heidnisch sein, zu tanzen, wenn der Mensch Abschied nimmt von den Drangsalen und Hetzereien des Lebens und zurückkehrt in das Land des ewigen Friedens? Aber sie sind nichtswürdige Heuchler. Denn glaubten sie ernsthaft an die Predigten ihrer Religion, müssten sie sich freuen und sie müssten tanzen aus ihrer übergroßen Freude heraus, dass der Abschiednehmende nun einziehen darf in die ewigen Gefilde der Lobgesänge und Harfenklänge.
Aber der Indianer ist zu dumm, um die tiefen Mysterien der katholischen Kirche zu begreifen. Darum macht er alles anders als wir, und wir entsetzen uns über sein Barbarentum.

 

6

Nun sahen die indianischen Burschen und Mädchen, die hier tanzten, keineswegs wie Barbaren aus.
Sie waren, wenigstens die Mädchen, in billigen, sehr billigen, aber sehr sauberen Kleidern. Sie hatten sich alle gut gewaschen, und ihr langes schwarzes Haar war so gut durchgekämmt, wie es in einem Schönheitssalon in Baltimore nicht besser, aber nachlässiger getan wird.
Die Mädchen standen oder hockten auf dem Erdboden, auf der einen Seite, und die Burschen standen aufgereiht oder in losen Gruppen auf der andern Seite.
Die indianischen Burschen gingen nicht hin zu dem Mädchen, mit dem sie tanzen wollten; sie verbeugten sich nicht vor ihm und fragten es nicht mit wohlgesetzten und gut eingeübten Worten, ob sie die Ehre haben könnten und was mehr noch.
Die Burschen hatten weiße Hosen an und weiße jackenartige Hemden. Manche von ihnen trugen Sandalen, die meisten jedoch waren barfuss. Die Mehrzahl der Mädchen war gleichfalls barfuss. Einige dagegen glänzten in Halbschuhen aus Lackleder mit sehr hohen Absätzen.
Der Bursche ging, sobald die Musik einsetzte, einen Schritt vor, zog aus seiner Hemdtasche ein rotes Seidentuch und warf es dem Mädchen, mit dem er tanzen wollte, in den Schoß oder, wenn sie stand, in das Gesicht. Das Mädchen fing das Tuch auf, und das hieß, dass sie mit dem Eigentümer des Tuches tanzen werde. Warf sie ihm jedoch das Tuch wieder zurück, so bedeutete das, dass sie nicht gewillt sei, mit ihm zu tanzen. Aber sie warf das Tuch wohl nur dann zurück, wenn der Tänzer sehr betrunken war, oder aber, wenn sie sah, dass ein anderer Tänzer, den sie bevorzugte, ihr sein Tuch gleichzeitig zuwarf. Es galt jedoch als schlechte Sitte, einem Tänzer das Tuch zurückzuwerfen. Die Mehrzahl der Mädchen nahm das Tuch selbst dann an, wenn der Tänzer betrunken sein sollte, um ihn nicht zu verletzen.
Freilich tanzte sie dann nur einige Takte mit ihm, und sie setzte sich wieder hin. Der Tänzer war dann wenigstens vor der Scham bewahrt, abgewiesen worden zu sein, und er begnügte sich mit den paar Takten durchaus.
Während des Tanzes sprach der Tänzer nicht ein einziges Wort mit seiner Tänzerin. Auch nicht, wenn der Tanz zu Ende war.
Die Paare umarmten sich nicht beim Tanzen, sondern sie tanzten einander gegenüber, jeder für sich.
Sie wechselten zuweilen die Stellung, wobei sie aneinander vorbeitanzten, um jeder auf die gegenüberliegende Seite zu kommen. Die Burschen tanzten alle in einer Reihe auf der einen Seite und die Mädchen alle auf der gegenüberliegenden Seite. Wenn sie die Stellung gewechselt hatten, so waren wieder alle Burschen auf einer Seite und die Mädchen auf der andern.
Während des Tanzes hielt die Tänzerin das Seidentuch ihres Tänzers in ihrer rechten Hand. War der Tanz zu Ende, so gab sie ihm das Tuch zurück, und ohne ein Wort des Dankes oder sonst etwas zu sagen, drehte sie ihm den Rücken zu und ging wieder zurück zu den übrigen Mädchen, die da hockten oder standen.
Dauerte der Tanz zu lange und die Tänzerin fühlte sich ermüdet, oder sie wollte aus irgendeinem anderen Grunde aufhören zu tanzen, so schritt sie während des Tanzes auf ihren Tänzer zu, gab ihm das Tuch zurück und ging zu ihrem Platz.
Die Tänzerin hatte stets das Recht aufzuhören, wann sie wollte, durch Zurückgeben des Tuches. Für einen Burschen galt es als ungemein unhöflich, aufzuhören, solange er nicht sein Tuch zurückerhalten hatte. Es geschah, dass die Musik eine halbe Stunde ununterbrochen spielte. War die Tänzerin eine sehr ausdauernde Tänzerin, wie es alle indianischen Mädchen sind, so tanzte sie ihren Tänzer zum Zusammenbruch, wenn er nicht die gleiche Zähigkeit wie das Mädchen besaß.
Die Mädchen taten das zuweilen, wenn sie sich an einem Burschen für irgend etwas schadlos halten wollten. Sie tanzten ihn dann so erschöpft, dass er für den Rest der Nacht ausgeschaltet war. Frauen besitzen einen vortrefflichen Instinkt für eine gesunde und gut treffende Rache an einem Manne. Auch die indianischen Frauen haben eine große Fähigkeit, wirksame Mittel ausfindig zu machen und sie anzuwenden, wenn es ihnen dienlich erscheint und es ihnen Lust bereitet.
Hier freilich, auf dem Platze in der Stadt, gab es Paare, die zusammen tanzten, wie es auf den Bällen der Ladinos üblich war. Denn wohl die Hälfte der Mädchen und Burschen waren städtische Indianer, die in der Stadt oder in einem Vorort geboren und aufgewachsen waren.

 

7

Andres stand in der Reihe der Burschen. Er hatte Lust zu tanzen. Aber weil er kein Mädchen kannte, so war er schüchtern. Es standen auch einige der Carreteros, die mit auf der Prärie lagerten, herum. Sie stießen sich gegenseitig in die Rippen, um immer den andern anzustacheln, dass er doch tanzen möge, um dann folgen zu können. Aber keiner der Carreteros fasste sich ein Herz dazu. Sie fühlten sich hier zu fremd und ungewohnt.
Andres, keinen Grund findend, hier wie ein kleiner Junge dumm herumzustehen, krümelte sich nach und nach aus den Reihen der Burschen hinweg und schlenderte auf ein Haus zu, wo er sich niedersetzte, gegen die Wand gelehnt, die Knie hochgezogen und die Unterschenkel umarmt.
Von hier aus konnte er dem Tanz ebenso gut zusehen wie dort. Er hörte die Musik hier weniger hart und mehr harmonisch, weil sich die Töne in einem größeren Umraum weiter verlaufen und inniger ineinander schwimmen konnten. Er vermochte weniger gut die Tanzenden zu beobachten, weil da zu viele Burschen herumstanden, die das Bild verdeckten. Er sah nur die Köpfe der tanzenden Mädchen und Burschen und fing zuweilen eine gelegentliche Sicht, wenn sich unter den herumstehenden Leuten eine Lücke öffnete.
Aber das genügte ihm. Er konnte dabei vor sich hinträumen und wurde nicht gestört.
Hin und wieder hörte er ein Lachen oder ein Kichern der Mädchen oder ein vorübergleitendes Schwatzen.
Dann wieder ein halb lärmendes Gerede der Burschen, die sich um irgend etwas herumstritten.
So sitzend und dahinträumend in der Musik und das unterdrückte Lachen der Mädchen aufnehmend, überkam ihn ein seltsames Gefühl, das er nicht begreifen konnte: warum er sei und warum das alles hier sei. Er dachte, man könne ebenso gut tot sein, und es würde nichts fehlen in der Welt.
Drei Mädchen kamen schwatzend dicht bei ihm vorüber und drückten sich um die Ecke in die tiefe Finsternis. Nach einer Weile kamen sie zurück, an ihren Kleidern herumstreifend und herumzupfend.
Sie schwatzten alle drei zu gleicher Zeit in einem girrenden Ton.
Und in diesem girrenden, heißen Geschwätz, das in einigen kurzen Sätzen so tief, wie dunkelverschleiert, ein wenig keuchend und doch wieder voll und schwer klang, hörte Andres zum ersten Male in seinem Leben bewusst das Geschlecht heraus.
Die drei indianischen Mädchen sprachen spanisch, aber vermischten in ihrer Rede, wenn sie nicht schnell genug die richtigen Worte finden konnten, Tseltal, das ja seine Muttersprache war.
Sie wurden seiner nicht gewahr, denn er saß im tiefen Schatten der Wand, und sie waren so in ihrem Gespräch vergessen, dass sie überhaupt nichts zu sehen schienen.
Er konnte das, was die Mädchen, zuweilen völlig in Flüstern verfallend, erzählten, in seinem Zusammenhange nicht erfassen. Er hörte nur den Grundton ihres Sprechens, die Melodie ihrer Stimmen, die ineinander flossen. Und diese girrende und keuchende Melodie war es, die ihn erregte. Es überkam ihn eine Sehnsucht. Er glaubte, es sei eine Sehnsucht nach seiner Mutter. Aber gleich wusste er und fühlte es stark, dass es eine andere Sehnsucht war. Eine Sehnsucht nach etwas. Nach irgend etwas. Nach etwas Schönem. Aber auch das vermochte er nicht klar auszudenken, worin dieses Schöne bestand.
Dann wieder glaubte er, es sei Heimweh. Aber auch das war es nicht. Es war etwas Heißes, das in ihm aufkam und in ihm wogte. Er begann sich unendlich traurig zu fühlen. Und tief einsam.
Alles das war ihm bisher nie geschehen.
Hundertmal hatte er Frauen und Mädchen sprechen hören. Aber nie hatte er vorher je in der Stimme einer Frau etwas vernommen, was ihn erregt hätte. Dutzende von Malen waren Frauen in den Karawanen gewesen. Junge Frauen, alte Frauen, hübsche Frauen, verheiratete und unverheiratete. Zuweilen waren wochenlang in den Karawanen Frauen der Carreteros gewesen, die ihre Männer begleiteten.
Soviel er auch bei solchen Gelegenheiten in der Nähe von Frauen gewesen war, nie hatte er etwas Besonderes in ihrer Gegenwart empfunden. Er hatte Frauen von der Carreta gehoben, oder er hatte ihnen hinaufgeholfen. Unzählige Male hatte er Frauen auf seinem Rücken durch Flüsse getragen. Er hatte Frauen am frühen Morgen in den Ranchos geweckt und sie halb angekleidet oder, der Hitze wegen, völlig entblößt auf ihrem Lager ruhend angetroffen. Er hatte Frauen, die mit der Karawane reisten, irgendwo im Gebüsch am Wege in allen möglichen Verrichtungen und Stellungen aus Versehen überrascht.
Er hatte viele Male des Nachts, in einem plötzliche n Aufleuchten des Blitzes oder bei einem unerwarteten hellen Aufflackern des Campfeuers, Frauen mit ihren Männern unter einer Carreta, oder sonst wo, in Umarmung gesehen. Hunderte von Malen hatte er beim Passieren von Flüssen, Bächen und Tümpeln Frauen bis zu den Hüften entblößt und Mädchen nackt bis zu den Fußsohlen beim Baden getroffen.
Aber nie hatte er etwas gefühlt, was sich auf ihn beziehen konnte oder was in ihm irgendwelche Wünsche wachgerufen hätte.
Jede Frau war für ihn wie ein Mann. Sie war nur ein wenig anders gebaut im Körper. In seinem heimatlichen Ort arbeiteten die Männer und die Frauen. Da war kein Unterschied. Der
Unterschied lag nur in der Art der Arbeit, weil die Frau ja schwächer war und Kinder in sich trug und Kinder gebar und Kinder versorgte und nährte.
Eine reife Frau betrachtete er in seinen Empfindungen gleich seiner Mutter oder seiner Tante, und ein Mädchen betrachtete er wie eine seiner Schwestern.
Die Hütte, in der er aufgewachsen war, hatte nur einen Raum. Und von Jugend an hatte er gesehen, dass sein Vater keinen anderen Schlafplatz hatte als an der Seite seiner Mutter und auf demselben dünnen Petate. Durch die dünnen Stängchen der Wände fiel das helle Licht des tropischen Mondes in die Hütte, und er hatte gesehen, was sein Vater und seine Mutter auf ihrem Lager taten. Und war kein Mondlicht, sondern schwarze Finsternis in der Hütte, so konnte er an dem Aufseufzen seiner Eltern hören, was sie taten. Die Eltern hatten keine Geheimnisse vor ihren Kindern. Wenn sie etwas für ratsam oder notwendig erachteten, so fragten sie die Kinder nicht um Erlaubnis und kümmerten sich nicht um die Anwesenheit ihrer Kinder. Sie wussten, aber sie dachten nie darüber nach, weil es selbstverständlich war, dass ihre Kinder ihnen eine unbegrenzte Ehrfurcht entgegenbrachten und dass diese Ehrfurcht und Liebe ihrer Kinder durch nichts erschüttert werden konnte, zuallerletzt durch Dinge, die für sie natürlich waren wie das Auf- und Untergehen der Sonne oder wie das Wachsen des Maises und der Blumen.
Verlogene Romane, geschwindelte Gedichte und betrügerische Filme kannte Andres nicht. Und weder lebte er, noch war er aufgewachsen in einem Lande, wo Sittlichkeitsprediger und Unzuchtsparagraphen in den Gesetzen Kinder und Erwachsene lehren, was Schweinerei ist und wo man sie findet und in welcher Weise man sich ihrer bedient, um das Recht zu erwerben, zu den wohlanständigen Bürgern gezählt zu werden.
Was die tiefe Ursache sein mochte, warum jetzt, in diesem
Augenblick, eine solche heiße Sehnsucht in ihm aufkam, hätte er nicht ergründen können.
Er versuchte sich das klarzumachen, weil ihm ähnliches nie vorher geschehen war. Für eine halbe Minute glaubte er, es sei ein aufkommendes Fieber, das er irgendwo gefangen habe. jedoch kaum hatte er das ausgedacht, da wusste er, dass es kein Fieber ist. Calentura begann in anderer Form. Er hatte weder Kopfschmerzen, noch fühlte er seine Glieder schwer werden.
Eher das Gegenteil. Er meinte, dass sein Kopf nie so klar gewesen sei wie jetzt, wenn auch benommen.
Und er hatte den Wunsch, jetzt die ganze Nacht und den vollen nächsten Tag zu wandern und zu wandern.
Irgendwohin. Nur wandern.
Es waren die Menschen, die hier lachten und schwatzten und ziellos hin und her zogen auf dem Platze.
Es war der monotone Singsang und das Dudeln der Orgel in der Kirche, das sich immer wieder in die Tanzmusik mischte. Und es war die Tanzmusik selbst, nichts sagend und dennoch lustig. Es waren die aufgeregten Burschen in ihren weißgewaschenen Hosen und hellen Hemden. Es waren die kichernden und schwatzenden Mädchen, mit ihrem langen schwarzen, gut ausgekämmten Haar und mit Blumen dareingeflochten. Es waren ihre weißen blitzenden Zähne, ihre vollen Lippen und ihre suchenden nachtschwarzen Augen, die zuweilen hungrig aufleuchteten und ihn trafen. Und alle Mädchen waren gut gewaschen und rochen nach starker Seife, ihre Kleider waren blitzsauber. Und wenn sie tanzten, lugte zuweilen ein Stück ihrer blütenweiß gewaschenen Hemden hervor.
Aber als die drei Mädchen an ihm so dicht vorüberkamen und hier eine gute Weile standen, hatte er den Geruch ihres leichten Schweißes aufgefangen, der ihm um so deutlicher geworden war, weil er frisch war und von gut gewaschenen Körpern ausströmte. Er empfand das wie eine Süßigkeit, vermischt mit einem unerklärten Weh in seiner Seele.
Was ihn jedoch von allen diesen Dingen in Wahrheit eingefangen hatte, waren die Stimmen der Mädchen gewesen. Es war nichts von Musik in ihren Stimmen. Aber die Stimmen wirkten auf ihn wie Musik.
Nur war die Musik von einer anderen Art. Sie war nicht gleich der Musik, die man mit Instrumenten erzeugen kann.
Es war die Weichheit, die in den Stimmen der Mädchen lag. Die tiefe Güte der Frau, die Herzensgeliebte und Mutter zugleich sein kann, wogte in den heißen, girrenden und wollüstig fortfließenden Stimmen, ohne dass sich die Mädchen dessen bewusst geworden wären. Es schien, dass sie an diesem Abend zur Klarheit gekommen waren, wer es ist, der unter allen Männern auf Erden allein die Fähigkeit besitzt, ihnen die Welt in Rosenblüten eingewickelt als Geschenk darzubieten.
Wenngleich Andres nicht die Ursachen kannte, die ihn zu einem seltsamen Erwachen geführt hatten, so wusste er dennoch das eine, dass er nicht mehr derselbe Mann war, der er vor einer Stunde gewesen war.
Es war eine Veränderung in ihm vorgegangen, von der er schon jetzt fühlte, dass sie völlig von ihm Besitz ergreifen würde.
Dass Frauen andere Stimmen hatten als Männer, war ihm nichts Neues. Aber dass Frauen in der Melodie ihrer Stimme sich so weit von dem Manne unterscheiden können, dass allein durch die Tonfärbung ihrer Stimme und durch die Aufdeckung ihrer ganzen Seele in ihrer Stimme sich eine Welt zwischen Mann und Frau zu legen scheint, war ihm eine ungeahnte, neue Erkenntnis.
Diese Erkenntnis erschütterte ihn für eine kurze Zeit derart, dass er von Furcht gepackt wurde. Er begann sich unsicher zu fühlen. Er glaubte plötzlich, sich in der Welt nicht mehr zurechtfinden zu können.
Die Sehnsucht nach etwas Unbestimmtem, das aber schön war, verband sich in seinen Empfindungen mit der aufkommenden Unsicherheit und Furcht.
Er bekam plötzlich Furcht vor der Frau. Es war mit ihr etwas verknüpft, das er mit einem Male nicht mehr verstand. Es blieb in ihm nur noch das rein nüchterne Gefühl, dass er allein nur seine Mutter verstehen könne, dass sie allein die einzige Frau auf Erden sei, vor der er keine Furcht habe, nicht jetzt und nimmer.
Aber mit dieser Furcht vor der Fremdheit der Frau überkam ihn gleichzeitig das Verlangen, dem Sprechen der Frau zuzuhören und sich von der mütterlichen Güte in ihrer Stimme kosen und streicheln zu lassen.
Er wurde tief traurig und hatte das brünstige Verlangen, zu weinen. Die Mädchen waren schlendernd weitergegangen. Er sah, dass sie sich wieder in die Reihen der Mädchen drängten, die auf Tänzer warteten.
Durch das scheinbar achtlose Weitergehen jener Mädchen überkam es ihn, dass er jetzt, trotz der Menge von Menschen, die auf der Plaza waren, ganz und gar verlassen und einsam geworden sei. Er hatte keinen Freund. Niemand, der mit gütigen Worten zu ihm sprach. Niemand, zu dem er sprechen konnte über das, was er fühlte und was in ihm vorging.
Er fühlte sich müde werden. Er hoffte, dass er so leicht und schmerzlos hinwegsterben möchte. In diesem Augenblick. Ohne sich auch nur aufrichten zu müssen.
In diesem weichen Dahindenken kam ihm die Erkenntnis seiner Sehnsucht. Und die Sehnsucht, so unbestimmt und schwebend bis jetzt, verdichtete sich zur Klarheit.

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