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Willi Bredel - Maschinenfabrik N.& K. (1930)
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Zuchthäusler oder Fürsorgezöglinge?

Scheinbar völlig ungestört begann in den nächsten Tagen die Arbeit in der Fabrik wieder. Auch in den Straßen war wieder Ruhe. Kaum waren noch Spuren der letzten Kämpfe und Zusammenstöße zu sehen. Die Polizei hatte sich zurückgezogen, lediglich zwei Sipos patrouillierten in der Nähe der Fabrik und beobachteten den Fabrikeingang.
Nur siebenundneunzig von den über dreihundert streikenden Arbeitern waren wieder eingestellt. Wortkarg und voller Verachtung für die streikbrecherischen Neulinge standen die meisten an ihrem Arbeitsplatz.
In der Fabrik aber herrschte seit dem Streik der größte Wirrwarr. Die Meister fluchten und rauften sich die Haare. Die Mehrzahl der eingearbeiteten Arbeiter war mit der Zeit schon auf der Strecke geblieben. Mit diesen neuen, teilweise auch direkt unfähigen Arbeitern mussten sie sich behelfen. Die Arbeit ging überhaupt nicht vorwärts, und die vermurksten Ausschüsse häuften sich. Von vorn musste angefangen werden, denn die Neuen kamen nicht annähernd mit der Zeit aus, in der die eingearbeiteten und mit allen Kniffen vertrauten Arbeiter die Arbeit fertig gestellt hatten.
Ernstlich wurden diese Dinge in der Meisterbude besprochen.
„Das ist ganz ausgeschlossen, dass das noch lange so weitergehen kann. Was nützt uns nun die Rationalisierung? Wir schaffen nicht die Hälfte von dem, was vor dem Streik geschafft wurde!"
„Ein gewisser Rückgang der Produktion war in der ersten
Zeit ja zu erwarten. Aber ich gestehe, das hier übertrifft alle Befürchtungen!"
„Ich gehe noch auseinander vor Wut", ereiferte sich Meister Westmann, „wenn ich dies unfähige Volk bei der Arbeit sehe!"
„Es wird ja nur für einige Tage sein", beschwichtigte ihn der Oberkalkulator, „wenn sich alles beruhigt hat, sortieren wir; was wir dann nicht brauchen können, fliegt, und wir suchen uns brauchbareres Material. Es laufen genug Dreher herum!"
„Aber wissen Sie denn, wie diese Leute gesinnt sind? Es dauert nicht lange, und wir haben wieder den Bau voll Bolschewiki!"
Der Oberkalkulator zuckte mit den Schultern. „Ihre ganze Reinigungsaktion war für die Katz!" „Das ist nun wohl mal so! Nur müssen wir aufpassen, dass es nicht wieder so hart hergeht!"
Bleckmann arbeitete wieder an seiner riesigen Karusselldrehbank.
„Was sagen Sie nun?" wandte er sich an Meister Westmann, als dieser an seiner Bank vorbeikam. „Ein neuer ,Roter Greifer'!"
Meister Westmann starrte ihn wie abwesend an. „Wa-aas?"
„Ein neuer ,Roter Greifer'!" lachte Bleckmann und zeigte ihm die neue Betriebszeitung. „Würden Sie mir die ausleihen?" „Natürlich!"
„Die muss ich doch gleich mal denen da vorn unter die Nase reiben!"
Er tippelte erregt und schnurstracks ins Büro.
Überall tauchte der „Rote Greifer" auf. Im Umkleideraum wurden in der Mittagspause einige gefunden, auf der Latrine, an den Arbeitstischen, unter den Dreh- und Hobelbänken lagen etliche. Es dauerte nicht lange, und die gefundenen Exemplare wanderten von Hand zu Hand.
Die am Streik beteiligten Kollegen lasen ihn mit triumphierenden Gesichtern, die Reichsbannermitglieder studierten ihn mehr aus Neugierde, aber die alten Arbeiterratsmitglieder waren erst wie versteinert und tobten dann im Betrieb umher.
Kühne, der nach Erdrosselung des Streiks im Betrieb einherschritt, als war ihm alles Untertan, verlor seine ganze Haltung. Der Dreher Schmachel fluchte laut in die Welt, trotzdem weit und breit nur er allein an der Drehbank stand.
Olbracht aber, der von jedem, sogar von den meisten Reichsbannerarbeitern, gemieden wurde und der noch als Erinnerung an seine Schuftigkeit ein langes Pflaster im Gesicht hatte, wurde käsig im Gesicht, als er vom Wiedererscheinen des „Greifers" hörte. Er wusste, warum.
In allen Ecken der Fabrik tuschelten nun die Arbeiter über den „Greifer". „Organisierter Streikbruch" stand in fetten Lettern unter dem Kopf der Betriebszeitung. „Die Mörder des Kollegen Ahrnfeld" hieß eine weitere Überschrift.
Jeder las über die Ursachen des Streiks, von der Einheitsfront der Unternehmer, Gewerkschaftsbürokratie und Polizei gegen die Streikenden. Der Polizeimord an dem Tischler wurde geschildert, und die streikbruchbereiten ehemaligen Arbeiterräte wurden dafür verantwortlich gemacht.
„Die Mitglieder des Reichsbanners, die als Streikbrecher herbeigeholt wurden, sind betrogen worden!" hieß es im „Greifer". „Sie wurden mit erlogenen Gründen zum Streikbruch angehalten. Sicher gibt es auch unter den Arbeitern im Reichsbanner viele, die, wenn sie gewusst hätten, warum sie geholt wurden, sich nicht gegen ihre Arbeitskollegen im Interesse des Unternehmertums hätten missbrauchen lassen."
Einige Reichsbannerarbeiter lasen diesen Artikel immer und immer wieder.
„Der Betriebsspitzel Olbracht" hieß ein weiterer Artikel im „Greifer". Klar und eindeutig wurde dessen Denunziantentum an den Pranger gestellt, und die Kollegen wurden aufgefordert, derartige Kreaturen aus dem Betrieb hinauszujagen.
Ganz groß stand auf der letzten Seite: „Der ,Rote Greifer' wird nach wie vor alle vierzehn Tage erscheinen!"
Während das Blatt von vorn bis hinten durchgeschnüffelt wurde, tauchte bei allen die Frage auf: Woher kommt die Zeitung? - Einige grübelten - andere lachten sich ins Fäustchen. Am gleichgültigsten taten der Tischlerlehrling Fritz und der junge Schlosser Wittig, die seit Abbruch des Streiks Mitglied der kommunistischen Zelle im Betrieb geworden waren.
Am aufgeregtesten aber waren die Mitglieder des alten Arbeiterrats. Sie tobten im Betrieb umher. Kühne ging durch die Maschinenhalle und Schmachel durch die Montagehalle, und beide sammelten die Betriebszeitungen ein.
Es gab Arbeiter, die sie ablieferten, aber bei den meisten wurden sie ausgelacht. Selbst viele Reichsbannermitglieder wehrten sich gegen diese Bevormundung. „Hast du auch eine Zeitung?" „Jawohl!"
„Also gib sie her!" flötete der Riese.
„Wie komm ich dazu!" erwiderte der Bohrer, ein Reichsbannerarbeiter, der sogar an seiner alten, fettigen Fabrikmütze eine schwarzrotgoldene Fahne trug.
„Warum willst du den Wisch behalten!" brauste Kühne auf.
„Sind wir hier Zuchthäusler oder Fürsorgezöglinge? Wir brauchen keinen Zensor. Wir können selbst beurteilen, was Lüge und was Wahrheit ist!"
„Ich bin kein Zensor, aber..."
„Dann wohl Altpapiersammler, was? Ich liefere nicht ab!" fiel ihm der Bohrer ins Wort.
Kühne versuchte fluchend sein Glück bei anderen.
Am Nachmittag aber vereinbarte er mit der Betriebsleitung, ohne dazu befugt zu sein, dass künftig jeder Kollege mit verdächtigem Gepäck beim Betreten der Fabrik untersucht würde. Diese Vereinbarung wurde von der Betriebsleitung in jeder Halle ans „Schwarze Brett" geschlagen. Gleichzeitig wurde die nächste Versammlung der freigewerkschaftlich organisierten Arbeiter bekannt gegeben, die aber nicht bei Horning, sondern innerhalb des Betriebes, im Frühstücksraum, stattfinden sollte.


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