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Willi Bredel - Maschinenfabrik N.& K. (1930)
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Der Neue orientiert sich.

Am Tage darauf hatte sich Melmster im Betrieb tüchtig umgesehen. Wenn die Bearbeitung der Flansche einmal eingestellt war und der Span einige Minuten lief, fand man immer noch Zeit, sich über die Nachbarschaft zu orientieren. Der junge Rotkopf vor ihm, Kurt Menzel, war ein harmloser, etwas penibler Junge. Melmster hatte bald heraus, dass er leidenschaftlich gern tanzte, jedes größere Fußballmatch besuchte und dass die Mädels ihm den ganzen Tag im Kopf spukten. Er war ein in sich verschlossener Mensch, aber freundlich und gefällig.
Bleckmann hieß der ältere Dreher an der Karusselldrehbank. Wenn ein Meister oder einer der Kalkulatoren durch die Halle ging, wollte er sich vor Arbeit umbringen. Das gefiel Melmster nicht. Er schien sich außerordentlich gut mit
Olbracht zu stehen, die beiden hatten oft die Köpfe beieinander.
Dieser Olbracht war ein merkwürdiger Kerl. Ganz offensichtlich versuchte er bei Melmster Sympathie und Zutrauen zu erwerben. Er war freundlich, fast zu freundlich, lächelte oft, selbst dann, wenn es gar nicht angebracht war, und bot sich immer wieder als hilfsbereiter Kollege an.
Von den übrigen Arbeitern fiel ihm ganz am Ende der Reihe ein längerer schmächtiger Mensch auf, der oft übermäßig laut auf seinen Vordermann ein schrie und dann knallrot im Gesicht wurde.
An der großen Koppbank stand ein Dreher aus der „Demagogengeneration". Er trug einen Spitzbart à la Bebel, und Melmster wollte wetten, dass er einen schwarzen, breitrandigen Hut trüge.
Der alte John mochte siebzig Jahre alt sein, und wenngleich er an seiner Karusselldrehbank seit Jahr und Tag dieselben Schwungräder drehte, wie Olbracht sagte, empfand es Melmster doch als einen Skandal, dass dieser Greis sich noch so abplagen musste.
Olbracht zuckte die Schultern: „Er will ja nicht! Invalidität und Rente könnte er längst haben!" „Dabei kann er aber verhungern!"
Olbracht zuckte wieder als Antwort die Schultern.
Ein lustiger Kauz war der Dreher neben Bleckmann. Er bediente eine ebensolche Karusselldrehbank wie dieser, und sie schienen in der Arbeit auch richtige Konkurrenten zu sein. Vornehmlich Bleckmann bekam alle Augenblicke den Besuch seines Nebenmannes, und dann wurde heftig über die Arbeit und das Material schwadroniert. Er war ein schmächtiger, aber springlebendiger Kerl, von einer grotesken Unsauberkeit, denn er schmierte sich gedankenlos den ganzen Dreck seiner Hände ins Gesicht und sah nach einigen Stunden Arbeit wie ein Hottentotte aus. Er hieß Wiesenbach, Fritz, und war für seine Nebenleute das Unikum. Zum Gaudium seiner Kollegen konnte er bei allen Spöttereien gottserbärmlich fluchen.
Der Hobler Hans kam und tat so, als ob er eine Zeichnung suchte, und raunte dabei Melmster zu: „Komm zwanzig nach drei Uhr zum Scheißhaus fünf!"
Melmster hätte nach der Akkordstundenzeit eigentlich mit der Arbeit schon fertig sein müssen, doch war er nach seiner Berechnung höchstens am nächsten Tag um zehn Uhr soweit. Dabei hatte es außergewöhnlich gut geklappt. Nur ein Flansch, in den sich der stumpf gewordene Stahl eingefressen hatte, war Ausschuss. Da er nun mit der Zeit versackt war, bekam er seinen Grundlohn, und das waren 1,20 Mark die Stunde. Die Zeit auf dem Akkordzettel war Durchschnittslohn, das heißt zehn Prozent mehr, also 1,32 Mark. Der Höchstakkordsatz, der nach stillschweigendem Übereinkommen der Belegschaft verrechnet werden durfte, waren zwanzig Prozent. Auf diese Weise wurde verhindert, dass sich die Kollegen aneinander vorbeiarbeiteten; wer aus der Reihe tanzte - es gab auch solche Elemente -, wurde gemieden wie ein Streikbrecher.
„Nun, kommen Sie mit der Zeit zurecht?" Meister Westmann war an die Drehbank getreten und betrachtete die Flansche.
„Sie müssen darauf achten, dass die Metallbohrungen saugend nach Kaliber minus passen!" „Jawohl!"
„Und das wird mit der Zeit schon kommen!" „Was wollte er?" fragte Olbracht, als Westmann fort war. „Nichts von Bedeutung!" entgegnete Melmster. Olbracht biss sich auf die Lippen.
Melmster ging über den Fabrikhof zum Lokus. Die Latrine war eine baufällige Bretterbude. Eine grauschmutzige Blechrinne mit einem Abfluss in ein Siel zog sich durch die ganze Bretterbude. Atemerstickend war der Gestank, der einem entgegenschlug. Durch starkes Qualmen versuchte sich jeder hier den Aufenthalt zu ermöglichen. Melmster kannte von den Werften und von Süddeutschland her die Lattenlatrinen, wo in einer Bretterbude nur eine Latte gelegt war, über der man sich balancierend festhalten musste, doch diese hier waren mindestens ebenso ekelhaft. Die Wände waren verschmiert und verkritzelt, der Boden war nackte Erde, und von den fünf Latrinen stand an der dritten noch ein Schild „Nicht benutzen", hier funktionierte die Wasserleitung nicht.
Auf Nummer fünf saßen bereits drei. Außer dem Hobler Hans lernte Melmster den Schlosser Drohn und den Tischler Hackbarth kennen. Diese drei waren der Zellenkopf der Fabrik.
Sie hatten Melmster zur Beratung herangezogen, weil sie wussten, dass er ein aktives und langjähriges Parteimitglied war.
„Ist das hier eine Pestbude!" Melmster verzog vor Gestank das Gesicht. „Macht schnell, ich verschwinde bald wieder!"
„Wir haben so auf Umwegen erfahren", begann der Hobler Hans zu flüstern, „dass der Arbeiterrat eine Belegschaftsversammlung für Mittwoch nächster Woche plant. Er wird sie heimlich unter seinen Anhängern vorbereiten und sie am Tage davor offiziell bekannt geben. So hoffen sie uns zu über rumpeln. Wir müssen also auf der Hut sein!" - „Ich schlage vor, sofort für morgen eine außerordentliche Zellenversammlung einzuberufen. Es ist seit dem Sommer die erste Belegschaftsversammlung, die der Arbeiterrat einberuft, und vielleicht die letzte vor den Wahlen!"
Der Schlosser Drohn gefiel Melmster, was er sagte, war klar und bestimmt.
„Dann muss jeder möglichst heute noch die Genossen seiner Abteilung benachrichtigen", ergänzte ihn der Tischler Hackbarth.
„Hallo!" Jemand rüttelte an der Tür.
„Besetzt!" schrie Hans Wend.
„Und was meinst du?" fragte er Melmster.
„Ich bin durchaus eurer Auffassung. Wenn die Burschen eine Belegschaftsversammlung umgehen, wo sie nur können, müssen wir auf Draht sein!"
„Also gut!" flüsterte nun wieder Hans Wend, „morgen gleich nach Feierabend. - Geh du zuerst!"
Melmster ging über den Hof in die Maschinenhalle.
Kurz vor Feierabend ging der Oberkalkulator durch die Halle, der meistgehasste Mensch der ganzen Fabrik. Das wusste er auch, aber er wurde dadurch nur noch hochmütiger. Die Hände auf dem Rücken, schlenderte er mit scheinbar gleichgültigen Blicken an den Drehbänken vorbei. Er schien keine Menschen, sondern nur Arbeit zu sehen. Als er bei dem Dreher Bleckmann vorbeikam, zog dieser die Mütze. Bei Melmster blieb er etwas länger stehen und beobachtete dessen Handgriffe. Dann betrachtete der „Mann mit der Stoppuhr" die fertigen Flansche. Dabei sahen sich Melmster und er sekundenlang in die Augen. Melmster hatte das Empfinden, als warte jeder darauf, dass der andere grüßen würde. Melmster verzog keine Miene. Er, der Prolet, fühlte keine Veranlassung, dem „Ober" die einfachste Höflichkeit zu ersparen. Wortlos ging der Oberkalkulator weiter.
„Immer kurz vor Feierabend", brummte der Rotkopf, „dieser madige Sack!" Dann ließ er seine Bank leer laufen und wusch sich hinter seinem Werkzeugtisch die Hände.
Eine komische Begegnung, dachte Melmster, und dann heulte es, und alles lief wieder in wilder Raserei zur Steckuhr. Melmster aber lief wieder nicht mit.


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