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Willi Bredel - Maschinenfabrik N.& K. (1930)
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Vom Abort, der Kontrolluhr und vom Umkleideraum.

Am Mittwochmorgen wurde ein neuer „Roter Greifer" verteilt. Der Betriebsobmann Kühne machte einen schwachen Versuch, die Verteiler vor dem Fabriktor zu vertreiben. Es gelang ihm jedoch nicht, die Arbeiter selbst schützten sie.
Einen neuen Zusammenstoß gab es im Umkleideraum. Einige Arbeiterratsmitglieder wollten den Lehrlingen den „Greifer" wegnehmen.
„Dat is nix vor Jungens!" meinte das Arbeiterratsmitglied Kappke von der Tischlerei. Doch die Lehrjungen wehrten sich, und die Mehrzahl versteckte die Betriebszeitung und behauptete, keine bekommen zu haben.
Im „Roten Greifer" wurde zur Belegschafts- und Branchenversammlung Stellung genommen und die Kollegenschaft aufgefordert, stets so wie an diesem Montag fest und geschlossen zusammenzustehen und ihren Forderungen Geltung zu verschaffen. Der sozialdemokratische Arbeiterrat und die „acht Verächtlichen" wurden als die Agenten des Unternehmertums entlarvt. Doch den größten Eindruck unter den Kollegen machte die Korrespondenz „Nur drei Punkte". Jeder las sie. Alles diskutierte über die drei Punkte. Die Korrespondenz hatte folgenden Wortlaut:
Wir wollen in dieser Korrespondenz nicht von dem Hungerlohn, nicht von der Akkordraserei, nicht von den Agenten des Unternehmertums in unseren eigenen Reihen sprechen, sondern nur von drei Dingen im Betrieb, die so schon seit Jahren bestehen und um die sich noch nie ein Arbeiterratsmitglied gekümmert hat.
1. Der Abort. - Hört man unsern Betriebsobmann und seine Anhänger, so kommen immer wieder die Redewendungen „wir heutigen Kulturmenschen!" - „anspruchsvoll, jahrzehntelang organisierte Arbeiter!" - „Der Betriebsrat hat heute ein Wort mitzureden!" und dergleichen mehr. Nun, um so charakteristischer ist die Feststellung, dass seit Jahrzehnten auf dem Fabrikhof ein Scheißhaus steht, das ein wahrer Pestpfuhl ist. Aber kein „kultivierter" Sozialdemokrat oder gar Arbeiterratsmitglied hat je daran Anstoß genommen. Für dreihundert Menschen sind fünf Aborte vorhanden, die in der Regel noch nicht einmal alle benutzt werden können, fast täglich ist einer verstopft. Im Winter ist in diesem leichten, unheizbaren Holzverschlag eine Hundekälte, im Sommer ist es eine Brutstelle für Seuchen. Dass durch diese Abtritte noch nicht die Pest entstanden ist, ist ein seltener Glücksumstand, aber Unterleibsleiden und Erkältungen sind an der Tagesordnung, denn der Boden ist nackte Erde, nur wissen die Kollegen in den meisten Fällen nicht, dass es auf diese Aborte zurückzuführen ist. Das Pissoir ist eine verrostete und verschmutzte Blechrinne, in der allerlei Gewürm lebt. Zwei Meter breit für dreihundert Menschen. Der Arbeiterrat kennt diese schweinemäßigen Zustände, aber er rührt keinen Finger, er scheißt, wo dransteht „Meister und Vorarbeiter".
2. Die Kontrolluhr. - In jeder Halle steht nur eine Kontrolluhr. Täglich spielt sich um vier Uhr eine Szene ab, die tief beschämend für die gesamte Belegschaft ist. In wilder Jagd stürzt sich jeder auf die Kontrolluhr, um der erste zu sein. Die letzten, diejenigen, die am Ende der Halle arbeiten oder die diese dumme Rennerei nicht mitmachen wollen, müssen oft fünf und mehr Minuten warten, bis die eine Uhr frei ist. Wer morgens fünf Minuten zu spät kommt, dem wird eine halbe Stunde vom Lohn abgezogen.
Wann du, Kollege, aber abends nach Hause kommst, das
interessiert den Unternehmer nicht. Das ist kapitalistische Rationalisierung. Und der gold-gelbe Arbeiterrat sieht über diesen skandalösen Zustand hinweg, denn er ist vom Stempeln an der Uhr entbunden.
3. Der Umkleideraum. - Etwa neunzig bis hundertzwanzig Quadratmeter groß ist der Raum, den die Firma zum Umkleiden und zum Reinigen von dreihundert Arbeitern übrig hat. Nicht ein einziges Spind steht darin, dazu wäre auch der Raum viel zu klein, sondern lange Hakenständer sind aufgestellt mit dreihundert Haken. Jede Nummer hat ihren Haken, und man kann auf diesem einen Haken unmöglich sein Zeug richtig aufhängen. Zweiundvierzig Waschbecken stehen in diesem Raum für dreihundert Arbeiter. Die Arbeiterratsmitglieder und die... zigjährigen im Betrieb haben ihr Stammbecken, die andern müssen warten oder ungewaschen nach Hause gehen. - Noch nie ist vom Arbeiterrat daran gedacht worden, hier Wandel zu schaffen. Der Betriebsratsobmann Kühne kennt diesen ungeheuren Missstand, denn er geht fast regelmäßig täglich einige Minuten vor vier in den Umkleideraum, und die Betriebsleitung ist klug genug, es bei ihm zu dulden.
Kollegen, soll dies so weitergehen? - Die Gewerkschaftsopposition und die revolutionären Arbeiter fordern von der Betriebsleitung:
1. einen hygienisch einwandfreien Abort
2. mindestens zwei Kontrolluhren für jede Fabrikhalle
3. ein Waschbecken und ein verschließbares Spind für jeden Arbeiter.
Der Arbeiterrat muss sich in der nächsten Belegschaftsversammlung zu diesen Punkten äußern. Sorgt dafür, dass bald eine Belegschaftsversammlung einberufen wird, brecht die Sabotage der feigen Unternehmerseelen! Die gesamte Belegschaft muss sich für die Forderungen der Revolutionären Gewerkschaftsopposition einsetzen und sie durchkämpfen.
Diese Korrespondenz im „Roten Greifer" wurde Betriebsgespräch. In der Montage, in der Maschinenhalle, in der
Tischlerei, überall wurden die „drei Punkte" erörtert und diskutiert. An der Holzwand über der Pissrinne im Lokus war der aufgeschlagene „Greifer" angeheftet, und darüber hatte einer mit Kreide geschrieben: „Wer kann bestreiten, dass es so ist?"
Nur die Arbeiterratsmitglieder taten, als hätten sie nichts gelesen und wüssten von nichts. Der Betriebsgoliath an der Anreißplatte bewegte sich eher noch gravitätischer als gewöhnlich! Doch das war Berechnung, innerlich bebte und tobte er, aber er wusste auch genau, dass er machtlos war und sich nur noch mehr der Lächerlichkeit aussetzte, wenn er zeigen würde, was in ihm vorging.
Olbracht und Bleckmann fühlten sich inzwischen von ihrer Überstundenblamage etwas erholt und hatten wieder dauernd die Köpfe beieinander. Melmster erriet, worüber sie sprachen. Nicht etwa über das, was in der Betriebszeitung stand, nicht über Möglichkeiten und Wege, die aufgezeigten Missstände zu beseitigen - sie waren nur von dem einen Problem erfüllt: Wer kann der Betriebszeitungsredakteur sein? Alle bekannten Kommunisten im Betrieb nahmen sie durch.
„Der Hobler Wend?"
„Sie werden nicht gerade den nehmen!"
„Der Schlosser Drohn?"
„Ich weiß genau, der kann wohl reden, aber nicht schreiben!"
„Der Revolverdreher Dresen?"
„Unmöglich, der ist zu alt!"
„Der Schmied Hennings?"
„Der Schreihals ist viel zu dämlich!"
„Aber einer muss es doch sein?"
„Natürlich! Einer muss es sein!"
„Ja!-Wer?-Wer?"
„Und Melmster?" fragte Bleckmann.
„Daran habe ich auch schon gedacht! Doch der war knapp zwei Tage im Betrieb, als die erste Nummer erschien. Und wie mir versichert wurde, hat er in der Zellenversammlung der Kommunisten bereits davon gesprochen, dass eine Betriebszeitung geplant und vorbereitet ist. Der ist es nicht! Der ist noch zu jung im Betrieb!"
„Aber wer ist es denn?"
„Ja! Ja! Ich möcht es verflucht gern wissen!"


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