Einhunderteinundsiebzig! 
  Im großen Tanzsaal von Horning war bereits kurz nach vier Uhr jeder  Stuhl und jeder Winkel besetzt. Die Nachzügler, die keinen Platz mehr  fanden, blieben im Gastzimmer oder an der Tür stehen. Die Durstigen  zogen die Plätze an der Theke vor. 
    Immer noch drängten sich neue  Arbeiter durch die kleine Saaltür, an der zwei Kollegen die Kontrolle  ausübten. Nur freigewerkschaftlich organisierte Arbeiter, die bei N.  & K. arbeiteten, wurden eingelassen. Im Saal rumorte und lärmte es.  Es wurde laut diskutiert, gerufen, gelacht, Stühle wurden aus dem  kleinen Klubzimmer in den Saal gereicht. Und dazwischen liefen Kellner  und brachten Bier, Selters und Schnäpse. 
    Der Schmied Hennings ging durch den Saal und verteilte kleine weiße  Zettel, darauf standen die Namen: Hans Wend, Hobler Karl Dresen, Dreher  Fritz Drohn, Schlosser Adolf Hackbarth, Tischler Hermann Hennings,  Schmied Alfred Plien, Schweißer Karl Bröse, Platzarbeiter 
    Das waren die Arbeiterratskandidaten der Revolutionären  Gewerkschaftsopposition. 
    Pünktlich um viereinhalb klingelte der Betriebsratsobmann, der die  Versammlung leitete. Die Saaltür wurde geschlossen. Der Lärm ließ nach.  Als Vertreter des Verbandes erhielt der Gewerkschaftsangestellte Kies  das Wort. Am Vorstandstisch erhob sich ein bärenhaft großer, beleibter  Mann. 
    „Wat de Drönbüdel verteilt, weet wi all!" sagte ein  hagerer Schmied. „Komm, lot uns rut!" 
    An der Theke standen noch eine ganze Anzahl Arbeiter. „Wer  spricht?" 
    „Der Gewerkschaftsbonze Kies!" 
    „Ich will dessen Quatsch gar nicht hören. Bei der Abstimmung gehe ich  rein. Wen ich zu wählen hab, weiß ich. - Kuddel, schenk mi noch 'en  Halben in!" 
    Auch an der Theke bildeten sich Diskutiergruppen. 
    „Mensch, sieh sie dir an! Der Riese mit dem Sammetpfötchen - der  tapprige Fahs - der Dreher mit dem Gemsbart -das sind doch alles  Scheißkerle!" 
    „Die Kommunisten sind aber manchmal noch richtige Jungens!" 
    „Aber nicht bange, mein Lieber. Den Alten läuft das Wasser aus den  Hosen, wenn sie von weitem den Jacobi sehen! Geh mir mit diesen  verknöcherten Leisetretern los!" erwiderte ein stämmiger, noch von der  Tagesarbeit schmutziger Schlosser dem Schweißer und nahm dabei einen  tiefen Schluck. 
    An einem Tisch wurde geknobelt. Dreimal sieben und zweimal eins  gewinnt. Für einen Augenblick sah alles zu den Spielern, denn mit  lautem Hallo und Gelächter wurde der Verlierer festgestellt. „Wirt,  noch eine Runde!" 
    „Faselt der noch immer?" fragte der Schmied den Schlosser, der die  Saaltür etwas geöffnet und einen Augenblick zugehorcht hatte. 
    „Fahs spricht. Er gibt den Jahresbericht!" 
    „Fahs? Kühne hat wohl einen Kloss im Hals - oder ist er  heiser?" 
    „Was will und was kann der berichten?" 
    „Geh rein und hör dir's an. Du wirst staunen, was wir alles  im letzten Jahr erreicht haben!" 
    „Das sagt mir mein Portemonnaie viel besser!" 
    „Ja!" brüllte der Schmied mit rauhem Lachen. „Uns wird  der Schaum nur so um die Fresse geklatscht!" - 
    „Der Dreher spricht jetzt!" 
    „Welcher?" 
    „Der große, der neue, der mit dem Kindergesicht!" 
    Die Saaltür wurde aufgerissen. „Pst! - Pst!" 
    „Ruhe, wir wollen auch was hören!" 
    Melmster sprach. „Zwar bin ich knapp ein Vierteljahr im Betrieb, aber  das genügt, um diesen zusammengestotterten Jahresbericht des  Arbeiterrats zu zerpflücken." 
    „Hahaha!" brüllte zustimmend der Schmied, dass sich ein  gutes Dutzend Arbeiter nach ihm umsahen. 
    „In welcher Frage kann der jetzige Arbeiterrat vor uns hintreten und  sagen, dies und das haben wir mit eurer Hilfe der Firma, dem  Unternehmer abgerungen? In keiner, in keiner einzigen Frage kann er  das. Weder hygienisch noch organisatorisch ist etwas von den  vorsintflutlichen Zuständen in unserem Betrieb geändert worden,  höchstens in einer Frage gab es eine umwälzende Änderung, in der Frage  des Arbeitstempos. Hier ist modernisiert und das Tempo auf unsere  Kosten nach oben geschraubt worden. Und dann der Lohn..." 
    „Der Junge redet wie ein Advokat!" 
    „Der ist gut, der lässt sich kein X für ein U vormachen und gibt dem  Arbeiterrat manche bittere Pille zu schlucken!" stimmte der Schlosser  zu und schloss die Saaltür. Langsam gingen sie wieder zu ihren  halbvollen Gläsern an die Theke. 
    „So Feuer und Flamme waren wir auch mal!" sagte der Schmied und sah  tiefsinnig ins Bierglas. „Bebel kam. Ich vergeß es mein Lebtag nicht.  Er sprach im Gewerkschaftshaus, unserer damaligen Waffen- und heutigen  Verratsschmiede. Das war ein Leben! Wir haben agitiert, nachts geklebt,  Flugblätter verteilt und waren von morgens bis abends auf den Beinen.  Und dann die Massen, die Begeisterung! Tausende eng gepfropft im Saal,  Tausende auf der Straße. Plötzlich Ruhe. Alles starrte wie hypnotisiert  nach vorn. Dann trat der Alte ans Podium. Ein Tosen, ein Brausen, ein  Gejubel. Das war er. Mir kollerten Tränen, ich sage dir, Tränen übers  Gesicht. Das war der letzte vernünftige Sozialdemokrat!" 
    Der Schmied goss den ganzen Rest des Bieres in sich hinein. 
    „Und diese Spitzbuben heute, diese Minister und Senatoren! Man sollte  es nicht für möglich halten!" Im Saal wurde lebhaft geklatscht. 
    „Der Junge wird seine Sache gut gemacht haben!" meinte  der Schlosser. 
    „Drei Sieben! Ich bin raus!" Die vier jungen Montageschlosser  knobelten noch immer. 
    „Ich will doch mal sehen, wer jetzt am Törn ist!" 
    „Der Tischler Kappke!" kam der Schweißer zurück. Plötzlich entstand im  Saal ein großer Lärm. Rufe, Schreie und die Klingel des  Versammlungsleiters drangen bis an die Theke. 
    „Ich bin doch neugierig!" 
    „Ja, horch und erzähl mir's dann!" rief der Schmied dem  Schweißer nach. 
    An der offenen Saaltür standen jetzt eine ganze Anzahl Arbeiter und  horchten. Der Schmied aber saß auf seinem Bock an der Theke und träumte  vor sich hin. 
    Die jungen Kerle würfelten noch immer, aber nicht mehr um  Bier, sondern aus Vergnügen. 
    Wieder Lärm im Saal, aber auch Beifall dazwischen. „Der Tischler  behauptet, der ,Rote Greifer' werde von der Firma finanziert!" „Der  Idiot!" 
    „Er sagt, der Arbeiterrat habe Beweise dafür!" „Dann  soll er sie sagen!" 
    „Das sieht so aus, als ob die Stimmung umschlägt!" 
    „Sollte mich nicht wundern!" brummte der Schmied. „Die  Menschen sind zu blöde und fallen auf jeden Trick herein!" 
    „Mensch, komm her!" schrie der Schlosser aus Leibeskräften. „Jetzt  wird's interessant!" Und fast gleichzeitig drang ein lautes Gebrüll aus  dem Saal. 
    Der Schmied und sogar die Würfelspieler eilten zur Saaltür,  die wieder weit aufgerissen war. 
    Inmitten der Versammlung stand der Hobler. 
    „Wenn diese niederträchtigen, durch nichts zu beweisenden Behauptungen  hier geäußert wurden, so will ich der erste sein, der den Vorhang  lüftet, damit die Kollegen einmal hinter die Kulissen blicken können.  Im Namen meiner Gesinnungsfreunde behaupte ich, dass der Arbeiterrat  von der 
    Firma korrumpiert wurde!" - Eine unheimliche Ruhe im  ganzen Saal. 
    „Aber ich behaupte es nicht nur, ich beweise es. Welcher Kollege hier  im Saal weiß, dass sämtliche Arbeiterratsmitglieder jede Woche zwanzig  Prozent auf den bei uns üblichen Höchstlohn ausgezahlt bekommen? Ich  glaube, keiner, und doch ist es so! Oder stimmt es nicht, Kollege  Kühne?" Keiner rührte sich. 
    „Das Schweigen bestätigt alles!" 
    „Solch Gesindel!" schrie einer, und im Nu wogte und lärmte es im ganzen  Saal. Der Arbeiterrat saß regungslos, wie versteinert am Vorstandstisch. 
    „Das ist aber noch nicht alles!" schrie der Hobler, und  die Ruhe war fast augenblicklich wiederhergestellt. 
    „Wir haben auch einen Kollegen in unserer Mitte, der über jedes  Vorkommnis im Betrieb, über jede Versammlung, die wir abhalten, über  jedes Wort, das ein Kollege spricht, der Firma Mitteilung macht!" 
    Eine drohende Unruhe ging durch die anwesenden Arbeiter. 
    „Das sind die Leute, die behaupten, die oppositionellen  Kollegen stehen mit der Firma im Bunde!" 
    Nun brach es los. Die Arbeiter sprangen von ihren Stühlen. Alles  schrie, tobte: „Wer? - Wer? - Wer ist das?" Der Hobler winkte sich mit  der Hand Ruhe. „Der - Dreher - Olbracht!" Wie ein knallender Schlag  schlug jedes Wort in der Versammlung ein. Erst schien alles wie  gelähmt, dann brüllte ein Schrei aus hundert Kehlen. Fäuste wurden  geballt. Einige ließen sich kaum noch bändigen. „Kollegen!" schrie der  Hobler. „Kollegen!" Nur langsam beruhigten sich die aufs äußerste  erregten Arbeiter. 
    „Lasst uns hören, was dieser Schurke auf die Anschuldigungen  zu sagen hat!" 
    Und als ob der Hobler der Versammlungsleiter wäre, rief er:  „Olbracht hat das Wort!" 
    Über zweihundert Augenpaare sahen zu dem kleinen Tisch hin, an dem grau  und mit blauen Lippen, wie ein Lebloser, der Entlarvte saß und  unverwandt vor sich hin starrte. 
    Er rührte sich nicht. Selbst wenn er sich hätte verteidigen wollen,  wäre er unfähig dazu gewesen. Der Angriff erfolgte so unerwartet und  plötzlich. „Er schweigt!" stellte trocken der Hobler fest. 
    Wieder brach ein Sturm der Entrüstung los, Verwünschungen  und Flüche schwirrten durch den Saal. 
    Die Arbeiter, die an einem Tisch mit dem Spitzel saßen, erhoben sich  und rückten von ihm ab. Einer spuckte vor Ekel vor ihm aus. Als aber  einige mit unverkennbarer Absicht sich den Weg zu ihm bahnten, rief der  Hobler mit lauter Stimme: „Kollegen, lasst uns erst die Wahl tätigen.  Durch unüberlegte Handlungen hetzen wir nur die Polizei auf uns!" 
    „Da findet man direkt keine Worte für!" Der Schmied  hatte ein vor Wut gerötetes Gesicht, und sein Unterkiefer zitterte. 
    „Es ist unbegreiflich, dass es noch solche Schufte  gibt!" pflichtete der Schweißer bei. 
    Sie gingen wieder an den Schanktisch zurück. Das stehen  gebliebene Bier war schal geworden. Der Wirt schenkte neues ein. 
    „So'n Schuft!" wiederholte der Schlosser. 
    „Die Gurgel umdrehen, das einzige!" brummte der  Schmied. 
    Hennings und Melmster kamen aus der Saaltür. „Also es ist  absolut bewiesen!" 
    „Alles stimmt und ist zu beweisen, was Hans sagte!" bestätigte  Melmster. 
    „Ist gut!" erwiderte kurz der Schmied, seine Augen  flatterten, und seine knochigen Finger verkrampften sich zur Faust. 
    „Was hast du vor?" 
    „Ist gut!" wiederholte Hennings und ging in den Saal zurück. 
    „Hallo, Hermann!" rief ihm sein alter Arbeitskollege  von der Theke nach. Doch der war schon wieder im Saal verschwunden. 
    „Er hätte doch 'n Schluck mittrinken können!" 
    „Der Arbeiterrat rückt jetzt von Olbracht ab! Der Kühne  spricht! meldete der Schweißer, der von der Tür kam. 
    „Jetzt lassen sie ihn fallen, aber sie waren und bleiben  seine Spießgesellen!" 
    „Ich begreife es noch nicht!" grübelte der Schlosser,  „was denkt sich so'n Kerl dabei!" 
    „Was denken sich Zörgiebel, Severing und der Müller und wie  die Kerle alle heißen!" antwortete der Schmied mit einer Frage. 
    „Ja, meinst du, dass die Firma ihn direkt bezahlt?" 
    „Die werden sich schon revanchieren!" 
    „Abstimmung!" schrie einer von der Tür, und alle  begaben sich in den Saal. 
    Kleine weiße Zettel wurden verteilt. Es wurde über Listen abgestimmt.  Liste eins war die sozialdemokratische, und fast sämtliche Mitglieder  des alten Arbeiterrats kandidierten wieder. Liste zwei war die der  Revolutionären Gewerkschaftsopposition. Gleichzeitig wurden  entsprechend diesem Wahlergebnis die Vertrauensleute gewählt. 
    Noch klang die unterdrückte Erregung unter den Arbeitern nach. Überall  wurde halblaut diskutiert. Dazwischen wurde geschrieben. Einige  Bleistifte wanderten von Hand zu Hand. Dann liefen drei  Gewerkschaftsfunktionäre mit Hüten umher und sammelten die  beschriebenen Stimmzettel wieder ein. 
    Während der Auszählung sprach der Gewerkschaftsangestellte Kies zu den  letzten Vorfällen und erklärte, „dass die Gewerkschaften diese  ungeheuerlichen Beschuldigungen prüfen und den betreffenden Kollegen  zur Rechenschaft ziehen werden!" 
    „Vertuschen werden!" rief einer. 
    „Bei uns wird nichts vertuscht!" schrie der Redner.  Dann meldete sich der „Gottsucher" zu Wort. 
    „Ich habe die Liste der Opposition gewählt", begann er, „nicht weil  unter den Sozialdemokraten ein Lump entlarvt wurde, sondern weil ich  zur Überzeugung gekommen bin, dass überhaupt nur noch in der Opposition  die fortschrittlich und ehrlich gesinnten Arbeiter versammelt sind!" 
    „Bravo!" riefen etliche. 
    „Jetzt will ich aber nicht nur mit der Stimmabgabe, sondern auch in der  praktischen Kleinarbeit die Opposition unterstützen!" schloss er. 
    Dann gab der Versammlungsleiter Fahs unter denkbar größter  Ruhe das Wahlresultat bekannt. 
    Für Liste eins: zweiundvierzig Stimmen. Für Liste zwei:  hunderteinundsiebzig Stimmen. Ungültig waren achtzehn Stimmen. 
   
 
  
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