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Ludwig Turek - Ein Prolet erzählt (1930)
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Handgranaten in der Nationalversammlung

Die Sozialdemokraten propagierten die Nationalversammlung.
Noske organisierte Zeitfreiwilligenformationen und ließ Freikorps vom Stapel. Mit den Freikorps ging's fix wie das Brezelbacken. Man nehme eine Zeitung, gleichgültig ob aus Berlin oder Hinterpommern, aus der noskitischen Glanzzeit und lese im Inseratenteil nach: jeder Generalesel wurde ermächtigt zur Bildung eines Freikorps und suchte auf dem Inseratenwege Freiwillige.
Die Nationalversammlung musste beschützt werden. Diesen Dienst versah das Freikorps Maerker. Auch ich fühlte mich verpflichtet, die Nationalversammlung zu „beschützen". Ich ließ mich bei Maerker anwerben. Eine ganze Anzahl anderer Genossen kam auf dieselbe gute Idee. In Erfurt hatte am 19. Februar die Unabhängige Sozialdemokratische Partei bei der Wahl zur Nationalversammlung etwa 15 000 Stimmen erhalten. Das schien den Leuten in Weimar gefährlich. Alle Dörfer um Weimar, wo man im Neuen Theater die Versammlung eröffnet hatte, wurden von den Maerkertruppen besetzt. Auf dem Bahnhof in Weimar herrschte strengste Kontrolle. Kein Mensch durfte den Bahnhof verlassen, ohne sich ausweisen zu können. Verhaftungen „verdächtiger" Elemente waren an der Tagesordnung. Noch mehr und noch vorsichtiger gesiebt wurde die Zuhörerschaft der Tribüne in der Nationalversammlung. Und da saßen nun wir, ein Dutzend Spartakisten, sechs Handgranaten am Koppel und noch mehr Eierhandgranaten in der Tasche, und warteten auf ein Signal. Das silberne Eichenblatt als Abzeichen des Freikorps Maerker und v. Lüttwitz am Kragen. Wir trugen es zu Recht, denn wir waren laut Militärpass Freiwillige des Korps.
Hättet ihr da unten auf der Bühne — Erzberger, Ebert, Scheidemann, Noske und ihr anderen alle —, hättet ihr gewusst, dass hoch über euch im dritten Rang einige Dutzend Handgranaten abzugsbereit warteten, wie wäre euch da zumute gewesen! Als Signal zum Losdonnern sollte, so war mit dem Verbindungsmann zu den USP-Leuten verabredet, gelten, dass die Unabhängigen bei einer Abstimmung den Saal verließen und dann hatte ein Elektriker den Hauptlichtschalter abzudrehen. Wir saßen wie auf Kohlen, aber die Unabhängigen gingen nicht raus und das Licht ging nicht aus. Nichts ereignete sich. Die Sache verlief im Sande; enttäuscht verließen wir das Theater. Ob die Unabhängigen nicht alle unterrichtet waren oder Angst vor ihrer eigenen Courage bekommen hatten, weiß ich nicht. Wo stände die Revolution heute, wenn damals das Licht ausgedreht worden wäre?
In Kleinkromsdorf, nahe bei Weimar, standen die 15-cm-Haubitzen der 2. schweren Batterie des Korps, dem ich angehörte. Durch einen Genossen aus Erfurt unterhielten wir Verbindung mit Erfurt. 4000 bewaffnete Arbeiter wurden an einem bestimmten Tage im Anmarsch nach Weimar gemeldet. Drei Nächte hintereinander stand ich Wache an den auf die Nationalversammlung in Weimar eingestellten Geschützen. Kein bewaffneter Arbeiter aus Erfurt kam. Wären doch die Genossen Unabhängigen nicht in der Nationalversammlung gewesen, vielleicht hätte ich in meiner Wut den Laden zusammengepfeffert.
Die politische Tätigkeit, welche wir bei der Truppe entfalteten, trug keineswegs den Charakter einer geheimnisvollen Verschwörung. Nur in den intimsten Beratungen blieben wir unter uns. Dass wir bei dem Belagerungs- und Ausnahmezustand nicht erwischt und an die Wand gestellt wurden, verdankten wir besonderen Umständen. Erstens, dass wir ganz junge Leute, alle wenig über zwanzig Jahre oder noch darunter, waren, die bei den Dingen nur einen ehrlichen Gedanken an die proletarische Revolution ohne jede selbstsüchtige Nebenabsicht verfolgten, die alle fest in echter Kameradschaft zusammenhielten, und zweitens, dass wir glücklicherweise keine Feiglinge waren. Nicht unwichtig war die gänzliche Sorglosigkeit unserer Offiziere, die in politischen Sachen indifferent wie Säuglinge waren und in ihrer Vergnügungssucht, die bei ihnen genau so zur Pest wurde wie bei der Mannschaft, in Weimar einen entsprechenden Tummelplatz fanden. Sie kümmerten sich um die Truppe sehr wenig. Dienst machte nur, wer Lust hatte oder es nicht verstand, sich zu drücken. Niemand dachte ernsthaft daran, dass er hier eine gewisse Aufgabe zu erfüllen hatte. Ich wette, Maerker und v. Lüttwitz, der Kapp-Putsch-Hochverräter selbst, haben nie Herzklopfen um das Wohl und Wehe der Nationalversammlung gehabt.
Eine taktfeste, militärisch organisierte Arbeitertruppe konnte Sack und Seele des Korps im ersten Anlauf nehmen.
Für schöne thüringische Mädchen, Kusswalzer, Schiebertänze, einen guten Happen und Tropfen, Ausschlafen und Löhnungsempfang war Interesse vorhanden, aber nicht für das Gelumpe, das zur Ausrüstung und zum Dienst für die Batterie gehörte.
Von Kleinkromsdorf rückten wir ab nach Blankenhain, ungefähr achtzehn Kilometer von Weimar, ein Städtchen mit ungefähr 2—3000 Einwohnern. Dort selbst gründeten wir mit einer Gruppe von Arbeitern eine Ortsgruppe der USPD. Einen Spartakusbund wollten die Proleten nicht haben. Aber, um überhaupt erst einmal Bresche zu schlagen in die Politik der Sozialdemokratie, billigten wir das Vorhaben und unterstützten die Genossen. Seltsamerweise war es in Blankenhain die Frau eines Hauptmannes, der dort ansässig war, die ebenfalls alle Versammlungen besuchte und auch eine gewisse Rolle spielte.
Ich hatte einen Landsmann bei der Batterie, den Unteroffizier Wilhelm Mathies aus Kläden bei Stendal. Mit dem wohnte ich privat bei Mutter Knote. Von der Nationalversammlung sahen wir in dem entfernten Blankenhain nicht viel, um so mehr gerieten wir in den Strudel der schier nicht endenwollenden Vergnügungen. Die Mädels, ach die armen Mädels! Alte Leute hielten uns auf der Straße an und machten uns die bittersten Vorwürfe, dass wir die ganzen „Menscher" verrückt machten. Ein Umstand war allerdings wenig erquicklich: Wir hinterließen bei den Mädchen von Blankenhain nicht nur schöne Erinnerungen, sondern auch lebendige kleine Tierchen, -für deren Vertilgung es so viel nichtsnutzende Pulver gibt. In kurzer Zeit waren nämlich alle Mädchen, die Berührung mit uns rauen Kriegern gehabt hatten, verlaust. Das tat uns furchtbar leid, auch den Mädels, aber eine Änderung in den Beziehungen zueinander herbeizuführen, dazu waren diese kleinen Tierchen nicht einflussreich genug.
Mutter Knote besaß einen Holzstall, der lehnte sich von außen an unser Schlafzimmerfenster in der ersten Etage und bot einen, wenn auch etwas unbequemen, illegalen Zugang zu unseren Räumlichkeiten. Mutter Knote wachte mit Argusaugen über unseren Umgang mit Frauen. Aber, dass die Menscher von Blankenhain bereits so gerissen waren und wie Katzen über die Hofplanke auf das hohe Dach des Holzstalles bis in unser Fenster gelangten und das bei Nacht und Nebel, hat die gute alte Frau nie herausbekommen. Sonst hatten wir keinerlei Veranlassung, unsere Schlummermutter und ihre Fähigkeiten zu bemängeln. Nur wenn wir gerade Besuch hatten und die Schritte Mutter Knotes wie die eines Wachtpostens hörbar wurden, empfanden wir ihre Nähe störend. Denn ein solcher Besuch ist, speziell wenn Möbelstücke mit musikalischen Talenten die Wohnung zieren, nicht ganz zu verheimlichen. Unsere Gastfreundschaft kannte keine Grenzen. Mein Kamerad Wilhelm verfügte über fette Beziehungen zur Gulaschkanone (er wurde später selbst Küchenunteroffizier), deshalb waren wir fähig, unsere schönen Gäste in allen gewünschten Dingen vollauf zufrieden zu stellen.
Die Thüringer sind ein lustiges Völkchen. Trari trara, tati tata, Kinder, Mutter, Vater tanzen Hyawatha. Wilhelm mit seinen roten Haaren und den Vollmondbacken schwitzte, dass die Tropfen nur so von der Stirn perlten. Seine roten Augenwimpern senkten sich glückselig, wenn er im Walzertakte die süße Last in den Armen wiegte. Er wählte die Dame seines Herzens nach Gewicht, was er vorher ziemlich sorgfältig abzuschätzen pflegte. Unter 150 Pfund zeigte er kein Interesse, um 180 warb er mit sichtlichem Vergnügen. Für 200 legte er sich ins Feuer mit einer verblüffenden Hartnäckigkeit. Als ich ihn später in Stendal, wo er jetzt verheiratet ist, besuchte, fiel ich aus den Wolken, denn seine Frau war eine schlanke Blondine weit unter 150.
Natürlich auch ich war ein Hund auf der Kommode, nur in entgegengesetzter Richtung. Wo Schlankheit nicht krankhaft erschien, war ich ihr begeisterter Verehrer. Neben der Freude am schönen Frauenkörper und starker Sinnlichkeit kannte ich allerdings keine Empfindung. Es war ein Leben wie mitten im Sommer, nur. die Hitze fehlte.
Wilhelm hatte als Unteroffizier einen Maschinengewehrposten im Dorfe Öttern zu besetzen. Der Kameradschaft halber ging ich mit.' Dort passierte eine amüsante Geschichte. Beim Bürgermeister von Öttern waren wir einquartiert. Eines Nachmittags gingen wir aus unserer Kammer in eine nach vorn gelegene Stube zum Kaffeetrinken. Wilhelm ging voran. Als er die Stubentür öffnete, brach er in ein schallendes Gelächter aus und schrie laut: „Mensch, Ludwig, kiek mal, hier sitzt en Neger an 'n Disch." Als ich, nicht wenig neugierig, die Nase durch die Tür schob, sprang dieser Neger, der sich als ein jugendlicher Vertreter des zarten Geschlechts erwies, ziemlich energisch von seinem Sitz, holte ein paar Mal Luft, wobei sich ein üppiger Busen hob und senkte, und sagte in fehlerlosem Deutsch mit einem sehr aristokratischen Zungenschlag: „Mein Herr, welche Ungehörigkeit erlauben Sie sich? Denken Sie etwa, dass alle Menschen rote Haare und einen solchen aufgedunsenen Kopf haben müssen wie Sie? Bitte, respektieren Sie gefälligst meine afrikanische Abstammung, ich wage zu behaupten, eine bessere Deutsche zu sein, als Sie es sind!" — Das hatte genügt, um Wilhelm in die Flucht zu schlagen; er verzichtete auf sein Butterbrot.
Mit einer höflichen Geste nahm ich am Kaffeetisch Platz und kam bald in eine anregende Unterhaltung mit der Schwarzen. Sie holte jeden Donnerstag Butter vom Bürgermeister, hieß Alfreda v. S. und wohnte in Weimar. Ich erbot mich, sie ein Stück des Weges zu begleiten, was sie sichtlich erfreut annahm. Ein schöner Märztag verschied langsam. Ich hing einen Feldstecher um und lustig wanderten wir los in Richtung Weimar.
Sehr bald wurden wir intimer. Ich war allzu neugierig, wie das Fräulein mit dem breiten Mund, den weißen Zähnen und kullernden Augen aussehe, wenn sie auf Liebespfaden wandelte. Ausgezeichnet verstand sie meinen einkreisenden Worten auszuweichen, ohne allerdings ganz auf das Thema zu verzichten. In einem dichten Busch, durch den unser Weg führte, warf sie plötzlich alle Etikette ab und fragte, ob denn wirklich alle Männer so seien. Ich schämte mich, mit meinen unlauteren Absichten entdeckt zu sein und bat um Entschuldigung.
Nun sprach sie sich in wehmütigen Worten ihren Kummer vom Herzen. — „Glauben Sie mir, dass ich des öfteren gar keine Lust habe, Herrenbekanntschaften zu machen, denn in sehr seltenen Fällen stoße ich auf ernsthafte Menschen, die nicht nur die Neugierde an meiner schwarzen Haut mit mir zusammenführt. Fast nie weiß ich, obwohl formale Höflichkeit mir gegenüber meistens ebenso gewahrt wird wie bei den hiesigen Damen, ob nicht doch im geheimen das Gefühl vorherrscht, ich sei nicht ganz vollwertig zu nehmen. Beinahe beleidigend ist das Benehmen derjenigen, die überhaupt kein Hehl daraus machen, wie unangenehm ihnen eine Berührung mit mir ist. Und ich bin doch gewiss nicht schlechter als andere. Wenn ich manchmal beobachte, mit wie viel Intrigen sich die weißen Damen gegenseitig ausstechen, so möchte ich wohl sagen, dass ich dagegen noch ein harmloser Wicht bin. Fast ebenso verletzend ist die Sorte Männer, die sich einbildet, mit mir ein interessantes Spielchen machen zu können, ohne zur letzten Konsequenz zu schreiten. Damit will ich nicht gesagt haben, dass ich jemals daran gedacht habe, man müsse mit mir zum Traualtar gehen. Was bleibt mir nun noch übrig?"
Diese Worte klangen wie ein freundlich einladender Gong. Ermunternd, mit ihrer eigenartig klangvollen Stimme, in Begleitung eines verheißungsvollen Lächelns, sprach sie weiter. „Da habe ich mich zwangsläufig zu einem etwas eigenartigen Standpunkt durchgerungen." Eine kurze Verlegenheitspause entstand, in deren Verlauf sie mit einem breiten Lächeln, wiegendem Kopf und allerliebst rollenden Augen ihren Spazierstock kühn durch die Luft schwenkte. Mit ernsthaften Worten ermunterte ich sie zum Weiterreden. Alsbald sprach sie ohne Hemmungen. „Ich halte solche Männer für die aufrichtigsten, die, nachdem sie mit mir einen Flirt begonnen haben, auch meinen Körper wirklich nehmen. Bitte, denken Sie nicht schlecht von mir, es ist gewiss kein alltägliches Bekenntnis, was ich Ihnen da beichte, aber bedenken Sie doch meine besondere Lage, die ich hier als Farbige einzunehmen gezwungen bin. Ich habe doch nicht zu erwarten, dass man mich heiratet. Soll ich also mein ganzes Leben vertrauern?"
Selten habe ich eine Frau so offen reden hören. — Wir schritten nun bedeutend langsamer, in die Betrachtung der dämmergrauen Fluren verloren, nebeneinander. Gegen meine bisherige Art fasste ich zartfühlend ihre Hand. Zu sentimentalen Anwandlungen ließ es Alfreda nicht kommen, ihr afrikanisches Temperament zerschlug blitzartig die letzten Schleier spröder Rücksichtnahme. Vielleicht war diese Frau verehrungswürdiger als manche ihrer weißen Schwestern. Zum mindesten hatte ihre absonderliche Stellung sehr zum Nachdenken angeregt und somit einen geläuterten philosophischen Charakter geschaffen. Ein Briefwechsel, der noch weit über meine Thüringer Tage hinausreichte, hat mir noch manchmal den Wert dieses Menschenkindes aus den heißen Gefilden Afrikas bestätigt.
Meine militärische Tätigkeit bei der Truppe war gleich Null. Über Halle ging die Fahrt nach Magdeburg. Niemals hätte ich geglaubt, noch einmal mit einer Kanone in derselben Kaserne herumkutschen zu müssen, in der ich als Rekrut schon eine gehörige Anzahl Schweißtropfen verloren hatte. Freilich, vieles war anders geworden, an Schwitzen war nicht mehr zu denken, und doch bekam ich Zweifel, ob meine Anwesenheit im Kreise dieser Söldner noch gerechtfertigt war. Übrigens erlebte ich auf einem Besuchsweg nach Magdeburg-Neustadt eine unliebsame, für mich beinahe verhängnisvolle Auseinandersetzung mit etlichen Arbeitern. Ein bekanntes Mädel aus der Tangermünder Jugendgruppe, Lotte N., wohnte in der Neustadt bei einer Verwandten in der Mittagstraße. Dort wollte ich einen Patronengurt und mehrere Handgranaten hinterlegen, um sie später, wenn ich nicht mehr Soldat des Freikorps sei, abzuholen. Aus Blankenhain hatte ich einen Karabiner nach Stendal geschickt, jedoch bot sich keine Gelegenheit, die nötigen Patronen dazu zu ergattern. Auf dem Transport nach Magdeburg war mir das geglückt. Alles war schön verpackt, und die alte Dame war bereit, ohne zu wissen, was sie in Verwahrung nahm, mir meinen Pappkarton aufzubewahren. Lotte war leider nicht anwesend und kehrte aller Wahrscheinlichkeit nach sehr spät zurück.
Nach kurzen Worten verabschiedete ich mich. Kaum war ich auf die Straße hinausgetreten, als ich sah, wie im Dunkel einer Hausecke, von den spärlichen Straßenlaternen nur wenig erhellt, mehrere Männer eine erregte Debatte plötzlich abbrachen und ihre Gesichter finster gegen mich wandten. Ich legte meine Hand auf die Revolvertasche und zog, unmerklich, indem ich mich langsam den Männern näherte, die Pistole heraus. Hinter dem Rücken nahm ich sie von der linken in die rechte Hand, entsicherte sie mit dem Daumen und ging etwas weiter von der Hauslinie ab dem Bordstein zu. Noch keine zwei Schritt weit war ich an dem Haufen vorüber, als ich gerade noch Zeit hatte, eine schnelle Kehrtwendung zu machen und zwei Schüsse über die Köpfe der Angreifer, die sofort zurückwichen, in die Luft zu jagen. Dann steckte ich den Revolver in die Tasche, ging auf die Leute zu und bat um eine Unterredung. Mein Mitgliedsbuch der USPD, Ortsgruppe Blankenhain, vorzeigend, erzählte ich den misstrauisch dreinschauenden Proleten, aus welchen Motiven ich bei der Truppe war. Nur meine genaue Kenntnis der gegenwärtigen politischen Lage, meine Personenkenntnis und die Bereitschaft, den Karton mit der geschmuggelten Munition in Begleitung etlicher Kollegen aus dem Hause vorzeigen zu wollen, brachte sie aus ihrem berechtigtem Misstrauen. Sie waren mir schon von der Straßenbahn aus gefolgt, um mir in dem Hause einen dauerhaften Denkzettel zu geben. Durch das frühzeitige Heraustreten seien sie in ihrem Vorhaben gestört worden. Infolge der zwei Schüsse sammelten sich schnell eine Menge Neugierige an und deshalb trennten wir uns mit kräftigem Händedruck.
Bei einem ähnlichen Vorfall, wo ich ein Mädel nach Buckau begleitete, entwickelte sich in einem Treppenhaus eine wüste Schießerei, aufs gleiche artete ein Tanzvergnügen aus. Mit Handgranaten am Koppel wurde getanzt. Vielfach wurden Kameraden mörderlich verhauen, oder, wenn sie sich zu weit in die Vorstädte wagten, verschwanden sie auf Nimmerwiedersehen. Die Kameraden waren an diesen Vergewaltigungen zumeist ganz schuldlos. Ihre politische Orientierung fehlte überhaupt, es waren eben Söldner, dabei sonst keine üblen Kerle. Trotz alledem ist die feindliche Haltung der proletarischen Bevölkerung gegenüber solchen Truppen durchaus richtig, wenn es zu ernsten Verlusten für die Truppe führt. Das zermürbt die Mannschaft, stellt sie schneller und deutlicher in Gegensatz zu ihren Offizieren, und nicht nebensächlich ist der Umstand, dass man einer Militärformation nur mit Gewaltmitteln beikommen kann.
Ich wollte in den nächsten Tagen meine Kündigung einreichen, als die Arbeiterschaft Braunschweigs aufstand und unser Korps zum Niederschlagen dieses Aufstandes nach dort abging. Es war eine eigentümliche, vom militärischen Standpunkt aus mir unverständliche Taktik Maerkers, die schwere Artillerie immer, wie in Weimar, so auch hier wieder, in geringer Entfernung von der Stadt auffahren zu lassen. In Geitelde, ganz nahe an Braunschweig, gingen wir in Stellung. Wieder hoffte ich vergebens auf einen Angriff der Arbeiter. Auch hier konnte man, nach nüchterner Einschätzung der Lage, den angreifenden Arbeitern einen Sieg voraussagen. Durch einen nächtlichen Handstreich unsere Geschütze zu erobern, gänzlich unblutig, während wir Vertrauten Wache standen, wäre wahrhaftig keine große Heldentat gewesen. Zwei Tage bemühte ich mich in Braunschweig, nirgends gelang es, Verbindung zu bekommen. Wieder nach Geitelde zurückgekehrt, erstickte ich meinen Gram mit Braunschweiger Honigkuchen, den meine Wirtin gebacken hatte.
Eines Tages wurde beim Antreten ein Unteroffizier gesucht, der mit mehreren Mann in einem verdächtigen Hause an der Chaussee nach Braunschweig, wo Arbeiter wohnten, eine Durchsuchung nach Waffen vorzunehmen hatte. Schon lange vorher war mein Freund Wilhelm von mir unterrichtet worden, bei solchen Gelegenheiten, die meistens immer den Unteroffizieren freigestellt wurden, gleich zuzusagen. Selbstverständlich gingen ich und noch zwei gute Kameraden mit. Ebenso selbstverständlich fanden wir keine Waffen dort.
Inzwischen hatte ich wieder eine Postsendung Munition an die Adresse meiner Eltern geschickt. Das bedeutete mein Ende bei Maerker. Die Umhüllung des schweren Paketes hatte sich auf einem Postamt gelöst und die Infanteriemunition war herausgefallen. Eine Rückfrage bei dem Empfänger seitens der Post führte dazu, dass die Geschichte meiner Batterie bekannt wurde. Ein kurzer Satz in meinem Müitärpaß: „Für freiwilligen Dienst nicht brauchbar." — Die restliche Löhnung und gute Worte meines Batterieführers, dass er mich als Soldat sehr geschätzt habe, aber dass sich meine in letzter Zeit an den Tag gelegte Gesinnung nicht mit dem Beruf eines deutschen Soldaten vertrüge und noch anderen Kohl dazu, waren das letzte, was mir Maerker zu geben hatte. Ein Paar neue Reithosen mit Ledersitz nahm ich mir noch selber, dann dampfte ich der Heimat zu.
Als ich kaum ein paar Tage in Stendal war, gab es wieder etwas zu tun. Das große Proviantlager sollte gestürmt werden. Kein Prolet in Stendal hatte etwas Vernünftiges zu beißen, im Proviantlager war alles zu haben, das gab zu denken. Seit der Mittagsstunde lungerten rebellische Haufen, vorwiegend jüngere Leute, in der Nähe des Lagers herum. „Noskes" (eine allgemein bekannte Bezeichnung für die Soldaten des Sozialdemokraten Noske) standen mit dem Gewehr im Arm recht zahlreich davor. Am Nachmittag rüttelte eine Meute von vielleicht 300 Mann sehr energisch an dem Tor zum Lager. Viel Volk, die so genannten Raben, denen es weniger auf den gefährlichen Sturm als auf eine Kiste Nudeln oder Fleischbüchsen ankommt, hielten sich weiter hinten in den Straßen für den „ergreifenden" Moment bereit. Lautes Gejohle leitete den Angriff ein.
Krachend gab das Tor dem Druck der Masse nach. Den „Noskes" wurde bange und sie türmten nach hinten durch die Gärten. Von dort schossen sie durch die Bretterwand des angebauten Schuppens zwischen die räubernde Menge. — Nur wer schon einmal etwas Ähnliches gesehen hat, kann sich ungefähr ein Bild machen. Es scheint, als ob jeder einzelne in dem Augenblick, wo er die Halle mit den begehrenswerten Dingen betritt, einen Klaps kriegt. Eine Kiste ergreifen, mit ihr an einem anderen Stapel Kisten vorübersausen, die erste Kiste mit den Nudeln fallen lassen und eine andere mit Fleischbüchsen ergreifen, — da, was ist denn das? Was hat denn der? Was? Zigaretten?! Weg mit den Fleischbüchsen, mit Zigaretten beladen, soviel Hände greifen können, Pakete mit 1000 Stück, dass kaum noch der Kerl zu sehen ist, Donnerwetter — Schnaps!! 25-Liter-Ballons, weg mit den Zigaretten, die vom rechten Arm gehalten werden. Einen Ballon Schnaps drangehängt. Über Scherben zertrümmerter Flaschen, mit jedem Schritt hunderte von Zigaretten zertretend, stolpernd, fallend, immer neue Räuber nachdrängend. Schreien der Verwundeten, die, alles fallen lassend, sich die Schussstelle haltend, hinausstürmen, oder wie ein halbzertretener Regenwurm sich am Boden wälzen. Oder noch komischer, mit der Grimasse eines verprügelten Affen, humpelnd den Ausgang suchen, — dass ist die Szene einer Plünderung!
Was soll ich nehmen? Zigaretten?! Ich rauche nur Pfeife. Rum? Fleischbüchsen? Das Fleisch ist nicht viel wert. Nudeln? Gut. Noch einmal werfe ich einen Blick auf die wühlende Menge. Ist das Hunger?! Vor dem Sturm war es Hunger, jetzt ist es Habgier. Eigentlich ein widerliches Bild und doch menschlich verständlich. Würden die „Noskes" nicht durch die Bretterwand ihre Kugeln schicken, sondern offen vor diesen Wühlratten stehen, würden sie sich in alle Winde zerstreuen wie eine Schar verjagter Sperlinge. Ich setze meine Kiste Nudeln auf die Schultern und gehe nach Hause. Nudeln mit Backobst ist noch heute mein Leibgericht.
Zwei Tote und viele Verwundete kostete das Unternehmen.
Eintönig schlichen die Tage dahin. Es war nichts mehr los in der Wüste der deutschen Revolution. Arbeit als Buchdrucker zu finden war schwieriger als dem lieben Gott im Mondschein zu begegnen. Disteln stechen für Mutters Ziege ist eine stachlige Arbeit, die wohl die Ziege, aber nicht den Mann ernährt. Ich ging unter die Bierkutscher, ein feuchter Beruf. Ein Buchdrucker kann Minister, Reichstagspräsident oder Bürgermeister werden, aber Bierkutscher kann er nicht werden, das kann er nur für eine kurze Zeitspanne markieren. Ich markierte auf der Hansabrauerei in Stendal etliche Wochen Bierkutscher. Morgens um fünf Uhr Pferdefüttern, dann putzen, dann am Ausstoß die Wagen beladen und dann — dann geht's los. Jeder hat seine bestimmte Tour. Ein Pfuscher wie ich war, kann nur Landtouren oder für größere Etablissements Aufträge erledigen. Stadtkutscher zu sein, erfordert eine Berufsroutine, die man nur durch jahrelange Tätigkeit erwerben kann. Bierkutscher sind tadellose Kerle. In den Dingen, wo ich versagte, wurde mir jederzeit kameradschaftliche Hilfe zuteil. Dass sie etwas mehr trinken als andere Menschen, ist eine Berufskrankheit.
Fritze Arndt war das Original des Betriebes. Vull wie 'ne Strandkanone, grau wie 'ne Haubitze, sterndudeldicke und so, kam er jeden Abend mit seinem Fuhrwerk nach Hause. Die Backen hatte er voller Zigarrenstummel. Fünf bis sieben Stück war normale Füllung. Kerzengerade, als hätte er einen Pfahl im Kreuze, saß er auf dem Kutscherbock, wenn er auf den Brauereihof fuhr. Mit der Linken dreht er seinen mächtigen Schnurrbart, mit der Rechten hält er die Leine. Seine Pferde kennen ihn, sie gehen ihren Weg. Bedenklich torkelt Fritze in die Kutscherstube, um den Kupferkrug noch einmal zu einem langen Zug an die Lippen zu setzen. Ruhig schaukelt er dann in seiner blauen Kutscherbluse heimwärts.
Wegen der geklauten Munition muss ich drei Tage ins Gefängnis, das bedeutete den Sack bei der Hansa, Im Gefängnis soll ich Holz hacken, und zwar große Wurzelstümpfe mit Axt und Keil zerspalten. Mit dem großen Holzhammer treibe ich den Keil fest in den Stamm, nehme die Axt und schlage absichtlich mit größter Wucht etwa zehn Zentimeter unterhalb des Eisens den Stiel auf den Keil, genau an derselben Stelle bricht der Stiel ab. Nach einer halben Stunde habe ich auf diese Weise eine zweite Axt erledigt. Ich werde euch euer Holz schon hacken, denke ich, ihr sollt eure Freude an mir haben in den drei Tagen. Aber die Gesellschaft verdirbt mir den Spaß, man schickt mich auf die Zelle. Ich schlafe mich gründlich aus und bald sehe ich das Kittchen von draußen.
Mit meinem Vetter, Franz Gorajski, einem Drucker, tippele ich eines Tages nach Osterburg, 22 Kilometer nördlich von Stendal, um einem fast allen älteren Buchdruckern — durch seine verwahrloste Bruchbude, seine Lehrlingssauwirtschaft — als Prinzipalkuriosum bekannte Krauter Theodor Schulz einen Besuch zu machen. In der Gewerkschaftszeitung der Buchdrucker, dem „Korrespondent", ist dieser Murkser schon oftmals zum Gaudium der deutschen Kollegenschaft beleuchtet worden. Wenn durchreisende Buchdrucker nach Osterburg kamen (und sollten sie vom Bodensee her bei allen Buden vergebens nach „Kunst" gefragt haben), bei Schulz, da gibt es Kunst. Bei Schulz gibt es noch mehr, bei Schulz in Osterburg gibt es auch noch Kost und Logis und einen „feinen" Lohn dazu. Wir treten ein in den heiligen Kunsttempel. Der Oberpriester ist nicht da, aber das kleine Ladenmädel kann uns das feste Versprechen geben, dass wir Arbeit bekommen werden. Theodor macht neben der edlen Schwarzkunst auch noch Geschäfte mit Siegellack, Bleistiften, Reißzwecken, Abziehbildern, Klosettpapier und anderen lebenswichtigen Dingen. Wir versprechen, nachdem uns ein Viatikum (Zehrpfennig) ausgehändigt worden ist, in einer Stunde wiederzukommen, wenn der Herr Schulz selbst anwesend sein wird.
Nach einer Stunde: „Guten Tag, meine Herren — ja ja, ich weiß schon alles; — das ist ja einfach fabelhaft. Den ganzen Tag zerbreche ich mir schon den Kopf, wie ich's anfangen soll; — ich stecke nämlich bis über die Ohren in der Arbeit. So ein Glück! Sie sind Setzer und Sie Drucker. Darf ich Sie bitten, meine Herren, den Betrieb und Ihre Zimmer zu besichtigen? Wir halten es der Einfachheit halber so, dass Kost und Logis gleich im Hause gegeben wird. Es ist von den Herren immer als sehr bequem empfunden worden. So, hier haben wir die Stätte Ihres künftigen Wirkens." Mit vornehmer Manier wurden wir den zwei vorhandenen Gehilfen vorgestellt. Obwohl wir die Verhältnisse kannten, bekamen wir doch keinen gelinden Schreck. Wie Fliegen auf dem Käse, so krochen in der kleinen Bude die Lehrlinge herum. Zwei halbe Gesellen und neun Lehrlinge! Nun ging's auf die Zimmer. „Hier schlafen meine Lehrlinge, und hier, Ihr Interieur." Im ersten Bunker, wie beim Militär, übereinander die Betten, viel zu klein das Zimmer für neun Personen. Im zweiten Stall vier Betten. Um unsere unangenehme Überraschung, die wir natürlich nicht ganz verbergen konnten, in eine günstige umzustimmen, machte er uns mit den lukullischen Genüssen, die aus seiner Küche kommen sollten, bekannt. Er sagte uns, wie viel Schweine er jährlich schlachte. — Wie viel Tonnen Heringe bei ihm konsumiert wurden, das sagte er uns aber nicht.
Nun war sein Gesprächsstoff einigermaßen erschöpft, aber über den Lohn war noch kein Wort gefallen. Ich hakte vorsichtig an. — „Sie kommen doch heute abend zum Essen? Wir essen pünktlich sieben Uhr und dann werden wir uns schon darüber einigen. Holen Sie einstweilen Ihren Rucksack von der Herberge." — Was der Krauter auspacken wollte, wenn wir tüchtige Gehilfen seien, spottete jeder Beschreibung. Niemals hatten wir daran gedacht, in der Quetsche Arbeit zu nehmen. Wir sagten ihm alles, was man einem solchen Ausputzer sagt, und zogen unsere Straße. (Bedauerlich ist, dass sich die Handwerkskammer um diese Lehrlingsausbeutung nicht besser kümmert! Was so ein armer Knirps in dem Saustall nach vier Jahren Lehrzeit für einen Begriff vom Buchdruckerhandwerk kriegt, reicht höchstens dazu, einen Pfuscher abzugeben, der so wenig Buchdrucker ist, wie ein Kistenmacher ein Holzbildhauer.) Als wir von Osterburg zurückkehrten, kamen wir gerade noch zur rechten Zeit in eine Versammlung, wo die Gründung der Ortsgruppe Stendal der Kommunistischen Partei vollzogen wurde.
Mein Vater machte gute Geschäfte, er war selbständig und beschäftigte ein oder zwei Gesellen. Da ich eine kleine Vorahnung der Zigarrenherstellung hatte, half ich meinem Vater. Lange dauerte diese Tätigkeit nicht, ich bekam Streit und verließ die elterliche Wohnung, um nunmehr in einem nahe gelegenen Dorfe, mit Namen Wahrburg, bei einem Bäckermeister als Brotkutscher eine Stellung anzunehmen. Zwei hübsche kleine Pferdchen und einen Brotwagen steuerte ich jeden Tag nach Stendal und besuchte die Kundschaft. Die Brotmarken, welche es damals noch gab, erschwerten die Arbeit wesentlich. Hervorzuheben wäre das gute Essen, wovon ich reichlich bekam. Viel Geld erhielt ich nicht gerade, doch der Bäcker und seine Gattin waren vernünftige Leute; an eine Ausbeutung meiner Arbeitskraft über die Grenzen des Anstandes hinaus dachten sie nicht. Ich zeigte mich dankbar und habe — entgegen den Gewohnheiten meiner Vorgänger — keinerlei Schiebungen gemacht. Die hatten einfach mehr Brote in den Wagen geladen als dem Meister bekannt war und das Geld dafür in die eigene Tasche gesteckt.
Bald hatte ich ein paar Pfennige erspart und ging an die Verwirklichung meines Planes, einen Handel anzufangen. Nachdem ich darin einige Erfolge zu verzeichnen hatte, konnte ich gar nicht mehr begreifen, wie es möglich ist, dass ein Proletarier für solch einen geringfügigen Lohn sich in die Sklavenketten spannen lässt. Immer wieder während meiner mehrmonatigen Tätigkeit kam mir dieser Gedanke. Ich kaufte Roggen, Gerste, Hafer und auch Weizen bei den Bauern und setzte sie in Stendal bei Privaten ab. Da das Getreide noch der Beschlagnahme unterlag, war ich also ein Schieber geworden. Die Gesetzwidrigkeit meiner Beschäftigung kümmerte mich wenig. Wohl aber plagte mich mein Gewissen, dass ich damit den Brotgetreidepreis höher hinaufschrauben half.
Ich beschloss, einen anderen Artikel zu handeln. Meinem ehemaligen Lehrmeister, dem Buchdruckereibesitzer Dannemann, kaufte ich mehrere Fuhren Altpapier und eine alte Maschine ab. Etliche Leute aus der Herberge, die ich gut bezahlte, pressten das Papier in Ballen, zerschlugen die alte Maschine und luden alles auf ein vom Grossisten geborgtes Fuhrwerk. Meine ganze Arbeit an dem Geschäft war ein kurzer Kaufabschluss mit dem Verkäufer, die Beaufsichtigung des Wiegens und das Einstreichen des Geldes.
Mühelos hatte ich einen Reingewinn von dem Achtfachen eines tariflichen Buchdruckerwochenlohnes. Acht Wochen musst du dafür schuften, Prolet, was ein Spekulant an den Abfällen deiner Produktion in wenigen Stunden verdient. Natürlich hatte ich meinen ehemaligen Chef dabei gehörig über das Ohr gehauen. Er hatte keine Ahnung von den Preisen und erkundigte sich telephonisch bei der Firma Mattischak, Rohprodukten en gros. Aber das war ein noch größerer Gauner als ich, der bot noch weniger.
Durch Inserate in den Berliner Zeitungen merkte ich, wie sich die Aufkäufer von Tuchresten, Neutuchabfällen usw. in ihren Preisen von Tag zu Tag überboten. Auf eine Probe hin machte ich die Entdeckung, dass damit heilloses Geld zu machen sei. Ich reiste in der Provinz herum und kaufte bei den Schneidermeistern solche Reste auf. Über den Preis, den ich zahlte, waren die Kleinbürger riesig erstaunt. Sie hielten es kaum für möglich, dass man soviel Geld dafür zahlen konnte. Dass ich trotzdem noch mit 100—150 Prozent Verdienst arbeitete, sagte ich natürlich nicht. Zwei- bis dreimal schloss ich mit einem Großhändler in Berlin in jeder Woche ab. Ein wöchentlicher Verdienst von 1000—1500 Mark, ungefähr das Zehn- bis Fünfzehnfache des Wochenlohnes eines Arbeiters, war das Ergebnis dieser Schiebereien.
Obgleich ich mehrfach in der Lokalpresse Inserate laufen ließ, besaß ich doch keinen Gewerbeschein, war also gesetzmäßig nicht zum Handeltreiben berechtigt. Steuern bezahlte ich überhaupt keine. Ich hatte immer viel Geld. Wenn sich nebenbei noch Geschäfte boten, fasste ich zu. Es bestand eine Hochkonjunktur im Handel mit Pianos. Da ließen sich bei guter Spekulation ganz mühelos Hunderte verdienen. Wenn ich sage „mühelos", so bezieht sich das natürlich nicht auf die Leute, die die Dinger zu transportieren hatten. Aber ich bezahlte sie gut, denn im Grunde meiner Seele war ich kein Geschäftsmann. Ich lebte in den Tag hinein wie ein richtiger Nichtsnutz. Hatte ich an manchen Tagen keine Lust, machte ich keinen Handschlag.
Wie wenig ernst ich mein Geschäft nahm, zeigte sich, als die Leipziger Frühjahrsmesse kam. Alles stehen und liegen lassend, nahm ich mein Geld und fuhr nach Leipzig zur Messe. In einem sehr feudal eingerichteten Zimmer in der Elsterstraße bei einem Musiklehrer stieg ich ab. In allen Ausstellungen, in allen Messhäusern schaukelte ich umher. Wahllos, wie ein Schmetterling von Blume zu Blume, flatterte ich von einem Speisehaus in das andere, veräppelte Prostituierte und stieg hübschen Mädchen nach. Besuchte Kinos, Theater und Tingeltangels, rutschte im Varieté bei einer Rummsti-Bummsti-Clown-Nummer vor Lachen vom Stuhl unter den Tisch, bekam bei einer Schlägerei in der Zeitzer Straße eine unverschämte Tracht Prügel und fuhr wieder nach Stendal zurück.

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