Handgranaten in der Nationalversammlung
  Die Sozialdemokraten propagierten die Nationalversammlung. 
    Noske  organisierte Zeitfreiwilligenformationen und ließ Freikorps vom Stapel.  Mit den Freikorps ging's fix wie das Brezelbacken. Man nehme eine  Zeitung, gleichgültig ob aus Berlin oder Hinterpommern, aus der  noskitischen Glanzzeit und lese im Inseratenteil nach: jeder  Generalesel wurde ermächtigt zur Bildung eines Freikorps und suchte auf  dem Inseratenwege Freiwillige. 
    Die Nationalversammlung musste beschützt werden. Diesen Dienst versah  das Freikorps Maerker. Auch ich fühlte mich verpflichtet, die  Nationalversammlung zu „beschützen". Ich ließ mich bei Maerker  anwerben. Eine ganze Anzahl anderer Genossen kam auf dieselbe gute  Idee. In Erfurt hatte am 19. Februar die Unabhängige  Sozialdemokratische Partei bei der Wahl zur Nationalversammlung etwa 15  000 Stimmen erhalten. Das schien den Leuten in Weimar gefährlich. Alle  Dörfer um Weimar, wo man im Neuen Theater die Versammlung eröffnet  hatte, wurden von den Maerkertruppen besetzt. Auf dem Bahnhof in Weimar  herrschte strengste Kontrolle. Kein Mensch durfte den Bahnhof  verlassen, ohne sich ausweisen zu können. Verhaftungen „verdächtiger"  Elemente waren an der Tagesordnung. Noch mehr und noch vorsichtiger  gesiebt wurde die Zuhörerschaft der Tribüne in der Nationalversammlung.  Und da saßen nun wir, ein Dutzend Spartakisten, sechs Handgranaten am  Koppel und noch mehr Eierhandgranaten in der Tasche, und warteten auf  ein Signal. Das silberne Eichenblatt als Abzeichen des Freikorps  Maerker und v. Lüttwitz am Kragen. Wir trugen es zu Recht, denn wir  waren laut Militärpass Freiwillige des Korps. 
    Hättet ihr da unten auf der Bühne — Erzberger, Ebert, Scheidemann,  Noske und ihr anderen alle —, hättet ihr gewusst, dass hoch über euch  im dritten Rang einige Dutzend Handgranaten abzugsbereit warteten, wie  wäre euch da zumute gewesen! Als Signal zum Losdonnern sollte, so war  mit dem Verbindungsmann zu den USP-Leuten verabredet, gelten, dass die  Unabhängigen bei einer Abstimmung den Saal verließen und dann hatte ein  Elektriker den Hauptlichtschalter abzudrehen. Wir saßen wie auf Kohlen,  aber die Unabhängigen gingen nicht raus und das Licht ging nicht aus.  Nichts ereignete sich. Die Sache verlief im Sande; enttäuscht verließen  wir das Theater. Ob die Unabhängigen nicht alle unterrichtet waren oder  Angst vor ihrer eigenen Courage bekommen hatten, weiß ich nicht. Wo  stände die Revolution heute, wenn damals das Licht ausgedreht worden  wäre? 
    In Kleinkromsdorf, nahe bei Weimar, standen die 15-cm-Haubitzen der 2.  schweren Batterie des Korps, dem ich angehörte. Durch einen Genossen  aus Erfurt unterhielten wir Verbindung mit Erfurt. 4000 bewaffnete  Arbeiter wurden an einem bestimmten Tage im Anmarsch nach Weimar  gemeldet. Drei Nächte hintereinander stand ich Wache an den auf die  Nationalversammlung in Weimar eingestellten Geschützen. Kein  bewaffneter Arbeiter aus Erfurt kam. Wären doch die Genossen  Unabhängigen nicht in der Nationalversammlung gewesen, vielleicht hätte  ich in meiner Wut den Laden zusammengepfeffert. 
    Die politische Tätigkeit, welche wir bei der Truppe entfalteten, trug  keineswegs den Charakter einer geheimnisvollen Verschwörung. Nur in den  intimsten Beratungen blieben wir unter uns. Dass wir bei dem  Belagerungs- und Ausnahmezustand nicht erwischt und an die Wand  gestellt wurden, verdankten wir besonderen Umständen. Erstens, dass wir  ganz junge Leute, alle wenig über zwanzig Jahre oder noch darunter,  waren, die bei den Dingen nur einen ehrlichen Gedanken an die  proletarische Revolution ohne jede selbstsüchtige Nebenabsicht  verfolgten, die alle fest in echter Kameradschaft zusammenhielten, und  zweitens, dass wir glücklicherweise keine Feiglinge waren. Nicht  unwichtig war die gänzliche Sorglosigkeit unserer Offiziere, die in  politischen Sachen indifferent wie Säuglinge waren und in ihrer  Vergnügungssucht, die bei ihnen genau so zur Pest wurde wie bei der  Mannschaft, in Weimar einen entsprechenden Tummelplatz fanden. Sie  kümmerten sich um die Truppe sehr wenig. Dienst machte nur, wer Lust  hatte oder es nicht verstand, sich zu drücken. Niemand dachte ernsthaft  daran, dass er hier eine gewisse Aufgabe zu erfüllen hatte. Ich wette,  Maerker und v. Lüttwitz, der Kapp-Putsch-Hochverräter selbst, haben nie  Herzklopfen um das Wohl und Wehe der Nationalversammlung gehabt. 
    Eine taktfeste, militärisch organisierte Arbeitertruppe konnte Sack und Seele  des Korps im ersten Anlauf nehmen. 
    Für schöne thüringische Mädchen, Kusswalzer, Schiebertänze, einen guten  Happen und Tropfen, Ausschlafen und Löhnungsempfang war Interesse  vorhanden, aber nicht für das Gelumpe, das zur Ausrüstung und zum  Dienst für die Batterie gehörte. 
    Von Kleinkromsdorf rückten wir ab nach Blankenhain, ungefähr achtzehn  Kilometer von Weimar, ein Städtchen mit ungefähr 2—3000 Einwohnern.  Dort selbst gründeten wir mit einer Gruppe von Arbeitern eine  Ortsgruppe der USPD. Einen Spartakusbund wollten die Proleten nicht  haben. Aber, um überhaupt erst einmal Bresche zu schlagen in die  Politik der Sozialdemokratie, billigten wir das Vorhaben und  unterstützten die Genossen. Seltsamerweise war es in Blankenhain die  Frau eines Hauptmannes, der dort ansässig war, die ebenfalls alle  Versammlungen besuchte und auch eine gewisse Rolle spielte. 
    Ich hatte einen Landsmann bei der Batterie, den Unteroffizier Wilhelm  Mathies aus Kläden bei Stendal. Mit dem wohnte ich privat bei Mutter  Knote. Von der Nationalversammlung sahen wir in dem entfernten  Blankenhain nicht viel, um so mehr gerieten wir in den Strudel der  schier nicht endenwollenden Vergnügungen. Die Mädels, ach die armen  Mädels! Alte Leute hielten uns auf der Straße an und machten uns die  bittersten Vorwürfe, dass wir die ganzen „Menscher" verrückt machten.  Ein Umstand war allerdings wenig erquicklich: Wir hinterließen bei den  Mädchen von Blankenhain nicht nur schöne Erinnerungen, sondern auch  lebendige kleine Tierchen, -für deren Vertilgung es so viel  nichtsnutzende Pulver gibt. In kurzer Zeit waren nämlich alle Mädchen,  die Berührung mit uns rauen Kriegern gehabt hatten, verlaust. Das tat  uns furchtbar leid, auch den Mädels, aber eine Änderung in den  Beziehungen zueinander herbeizuführen, dazu waren diese kleinen  Tierchen nicht einflussreich genug. 
    Mutter Knote besaß einen Holzstall, der lehnte sich von außen an unser  Schlafzimmerfenster in der ersten Etage und bot einen, wenn auch etwas  unbequemen, illegalen Zugang zu unseren Räumlichkeiten. Mutter Knote  wachte mit Argusaugen über unseren Umgang mit Frauen. Aber, dass die  Menscher von Blankenhain bereits so gerissen waren und wie Katzen über  die Hofplanke auf das hohe Dach des Holzstalles bis in unser Fenster  gelangten und das bei Nacht und Nebel, hat die gute alte Frau nie  herausbekommen. Sonst hatten wir keinerlei Veranlassung, unsere  Schlummermutter und ihre Fähigkeiten zu bemängeln. Nur wenn wir gerade  Besuch hatten und die Schritte Mutter Knotes wie die eines Wachtpostens  hörbar wurden, empfanden wir ihre Nähe störend. Denn ein solcher Besuch  ist, speziell wenn Möbelstücke mit musikalischen Talenten die Wohnung  zieren, nicht ganz zu verheimlichen. Unsere Gastfreundschaft kannte  keine Grenzen. Mein Kamerad Wilhelm verfügte über fette Beziehungen zur  Gulaschkanone (er wurde später selbst Küchenunteroffizier), deshalb  waren wir fähig, unsere schönen Gäste in allen gewünschten Dingen  vollauf zufrieden zu stellen. 
    Die Thüringer sind ein lustiges Völkchen. Trari trara, tati tata,  Kinder, Mutter, Vater tanzen Hyawatha. Wilhelm mit seinen roten Haaren  und den Vollmondbacken schwitzte, dass die Tropfen nur so von der Stirn  perlten. Seine roten Augenwimpern senkten sich glückselig, wenn er im  Walzertakte die süße Last in den Armen wiegte. Er wählte die Dame  seines Herzens nach Gewicht, was er vorher ziemlich sorgfältig  abzuschätzen pflegte. Unter 150 Pfund zeigte er kein Interesse, um 180  warb er mit sichtlichem Vergnügen. Für 200 legte er sich ins Feuer mit  einer verblüffenden Hartnäckigkeit. Als ich ihn später in Stendal, wo  er jetzt verheiratet ist, besuchte, fiel ich aus den Wolken, denn seine  Frau war eine schlanke Blondine weit unter 150. 
    Natürlich auch ich war ein Hund auf der Kommode, nur in  entgegengesetzter Richtung. Wo Schlankheit nicht krankhaft erschien,  war ich ihr begeisterter Verehrer. Neben der Freude am schönen  Frauenkörper und starker Sinnlichkeit kannte ich allerdings keine  Empfindung. Es war ein Leben wie mitten im Sommer, nur. die Hitze  fehlte. 
    Wilhelm hatte als Unteroffizier einen Maschinengewehrposten im Dorfe  Öttern zu besetzen. Der Kameradschaft halber ging ich mit.' Dort  passierte eine amüsante Geschichte. Beim Bürgermeister von Öttern waren  wir einquartiert. Eines Nachmittags gingen wir aus unserer Kammer in  eine nach vorn gelegene Stube zum Kaffeetrinken. Wilhelm ging voran.  Als er die Stubentür öffnete, brach er in ein schallendes Gelächter aus  und schrie laut: „Mensch, Ludwig, kiek mal, hier sitzt en Neger an 'n  Disch." Als ich, nicht wenig neugierig, die Nase durch die Tür schob,  sprang dieser Neger, der sich als ein jugendlicher Vertreter des zarten  Geschlechts erwies, ziemlich energisch von seinem Sitz, holte ein paar  Mal Luft, wobei sich ein üppiger Busen hob und senkte, und sagte in  fehlerlosem Deutsch mit einem sehr aristokratischen Zungenschlag: „Mein  Herr, welche Ungehörigkeit erlauben Sie sich? Denken Sie etwa, dass  alle Menschen rote Haare und einen solchen aufgedunsenen Kopf haben  müssen wie Sie? Bitte, respektieren Sie gefälligst meine afrikanische  Abstammung, ich wage zu behaupten, eine bessere Deutsche zu sein, als  Sie es sind!" — Das hatte genügt, um Wilhelm in die Flucht zu schlagen;  er verzichtete auf sein Butterbrot. 
    Mit einer höflichen Geste nahm ich am Kaffeetisch Platz und kam bald in  eine anregende Unterhaltung mit der Schwarzen. Sie holte jeden  Donnerstag Butter vom Bürgermeister, hieß Alfreda v. S. und wohnte in  Weimar. Ich erbot mich, sie ein Stück des Weges zu begleiten, was sie  sichtlich erfreut annahm. Ein schöner Märztag verschied langsam. Ich  hing einen Feldstecher um und lustig wanderten wir los in Richtung  Weimar. 
    Sehr bald wurden wir intimer. Ich war allzu neugierig, wie das Fräulein  mit dem breiten Mund, den weißen Zähnen und kullernden Augen aussehe,  wenn sie auf Liebespfaden wandelte. Ausgezeichnet verstand sie meinen  einkreisenden Worten auszuweichen, ohne allerdings ganz auf das Thema  zu verzichten. In einem dichten Busch, durch den unser Weg führte, warf  sie plötzlich alle Etikette ab und fragte, ob denn wirklich alle Männer  so seien. Ich schämte mich, mit meinen unlauteren Absichten entdeckt zu  sein und bat um Entschuldigung. 
    Nun sprach sie sich in wehmütigen Worten ihren Kummer vom Herzen. —  „Glauben Sie mir, dass ich des öfteren gar keine Lust habe,  Herrenbekanntschaften zu machen, denn in sehr seltenen Fällen stoße ich  auf ernsthafte Menschen, die nicht nur die Neugierde an meiner  schwarzen Haut mit mir zusammenführt. Fast nie weiß ich, obwohl formale  Höflichkeit mir gegenüber meistens ebenso gewahrt wird wie bei den  hiesigen Damen, ob nicht doch im geheimen das Gefühl vorherrscht, ich  sei nicht ganz vollwertig zu nehmen. Beinahe beleidigend ist das  Benehmen derjenigen, die überhaupt kein Hehl daraus machen, wie  unangenehm ihnen eine Berührung mit mir ist. Und ich bin doch gewiss  nicht schlechter als andere. Wenn ich manchmal beobachte, mit wie viel  Intrigen sich die weißen Damen gegenseitig ausstechen, so möchte ich  wohl sagen, dass ich dagegen noch ein harmloser Wicht bin. Fast ebenso  verletzend ist die Sorte Männer, die sich einbildet, mit mir ein  interessantes Spielchen machen zu können, ohne zur letzten Konsequenz  zu schreiten. Damit will ich nicht gesagt haben, dass ich jemals daran  gedacht habe, man müsse mit mir zum Traualtar gehen. Was bleibt mir nun  noch übrig?" 
    Diese Worte klangen wie ein freundlich einladender Gong. Ermunternd,  mit ihrer eigenartig klangvollen Stimme, in Begleitung eines  verheißungsvollen Lächelns, sprach sie weiter. „Da habe ich mich  zwangsläufig zu einem etwas eigenartigen Standpunkt durchgerungen."  Eine kurze Verlegenheitspause entstand, in deren Verlauf sie mit einem  breiten Lächeln, wiegendem Kopf und allerliebst rollenden Augen ihren  Spazierstock kühn durch die Luft schwenkte. Mit ernsthaften Worten  ermunterte ich sie zum Weiterreden. Alsbald sprach sie ohne Hemmungen.  „Ich halte solche Männer für die aufrichtigsten, die, nachdem sie mit  mir einen Flirt begonnen haben, auch meinen Körper wirklich nehmen.  Bitte, denken Sie nicht schlecht von mir, es ist gewiss kein  alltägliches Bekenntnis, was ich Ihnen da beichte, aber bedenken Sie  doch meine besondere Lage, die ich hier als Farbige einzunehmen  gezwungen bin. Ich habe doch nicht zu erwarten, dass man mich heiratet.  Soll ich also mein ganzes Leben vertrauern?" 
    Selten habe ich eine Frau so offen reden hören. — Wir schritten nun  bedeutend langsamer, in die Betrachtung der dämmergrauen Fluren  verloren, nebeneinander. Gegen meine bisherige Art fasste ich  zartfühlend ihre Hand. Zu sentimentalen Anwandlungen ließ es Alfreda  nicht kommen, ihr afrikanisches Temperament zerschlug blitzartig die  letzten Schleier spröder Rücksichtnahme. Vielleicht war diese Frau  verehrungswürdiger als manche ihrer weißen Schwestern. Zum mindesten  hatte ihre absonderliche Stellung sehr zum Nachdenken angeregt und  somit einen geläuterten philosophischen Charakter geschaffen. Ein  Briefwechsel, der noch weit über meine Thüringer Tage hinausreichte,  hat mir noch manchmal den Wert dieses Menschenkindes aus den heißen  Gefilden Afrikas bestätigt. 
    Meine militärische Tätigkeit bei der Truppe war gleich Null. Über Halle  ging die Fahrt nach Magdeburg. Niemals hätte ich geglaubt, noch einmal  mit einer Kanone in derselben Kaserne herumkutschen zu müssen, in der  ich als Rekrut schon eine gehörige Anzahl Schweißtropfen verloren  hatte. Freilich, vieles war anders geworden, an Schwitzen war nicht  mehr zu denken, und doch bekam ich Zweifel, ob meine Anwesenheit im  Kreise dieser Söldner noch gerechtfertigt war. Übrigens erlebte ich auf  einem Besuchsweg nach Magdeburg-Neustadt eine unliebsame, für mich  beinahe verhängnisvolle Auseinandersetzung mit etlichen Arbeitern. Ein  bekanntes Mädel aus der Tangermünder Jugendgruppe, Lotte N., wohnte in  der Neustadt bei einer Verwandten in der Mittagstraße. Dort wollte ich  einen Patronengurt und mehrere Handgranaten hinterlegen, um sie später,  wenn ich nicht mehr Soldat des Freikorps sei, abzuholen. Aus  Blankenhain hatte ich einen Karabiner nach Stendal geschickt, jedoch  bot sich keine Gelegenheit, die nötigen Patronen dazu zu ergattern. Auf  dem Transport nach Magdeburg war mir das geglückt. Alles war schön  verpackt, und die alte Dame war bereit, ohne zu wissen, was sie in  Verwahrung nahm, mir meinen Pappkarton aufzubewahren. Lotte war leider  nicht anwesend und kehrte aller Wahrscheinlichkeit nach sehr spät  zurück. 
    Nach kurzen Worten verabschiedete ich mich. Kaum war ich auf die Straße  hinausgetreten, als ich sah, wie im Dunkel einer Hausecke, von den  spärlichen Straßenlaternen nur wenig erhellt, mehrere Männer eine  erregte Debatte plötzlich abbrachen und ihre Gesichter finster gegen  mich wandten. Ich legte meine Hand auf die Revolvertasche und zog,  unmerklich, indem ich mich langsam den Männern näherte, die Pistole  heraus. Hinter dem Rücken nahm ich sie von der linken in die rechte  Hand, entsicherte sie mit dem Daumen und ging etwas weiter von der  Hauslinie ab dem Bordstein zu. Noch keine zwei Schritt weit war ich an  dem Haufen vorüber, als ich gerade noch Zeit hatte, eine schnelle  Kehrtwendung zu machen und zwei Schüsse über die Köpfe der Angreifer,  die sofort zurückwichen, in die Luft zu jagen. Dann steckte ich den  Revolver in die Tasche, ging auf die Leute zu und bat um eine  Unterredung. Mein Mitgliedsbuch der USPD, Ortsgruppe Blankenhain,  vorzeigend, erzählte ich den misstrauisch dreinschauenden Proleten, aus  welchen Motiven ich bei der Truppe war. Nur meine genaue Kenntnis der  gegenwärtigen politischen Lage, meine Personenkenntnis und die  Bereitschaft, den Karton mit der geschmuggelten Munition in Begleitung  etlicher Kollegen aus dem Hause vorzeigen zu wollen, brachte sie aus  ihrem berechtigtem Misstrauen. Sie waren mir schon von der Straßenbahn  aus gefolgt, um mir in dem Hause einen dauerhaften Denkzettel zu geben.  Durch das frühzeitige Heraustreten seien sie in ihrem Vorhaben gestört  worden. Infolge der zwei Schüsse sammelten sich schnell eine Menge  Neugierige an und deshalb trennten wir uns mit kräftigem Händedruck. 
    Bei einem ähnlichen Vorfall, wo ich ein Mädel nach Buckau begleitete,  entwickelte sich in einem Treppenhaus eine wüste Schießerei, aufs  gleiche artete ein Tanzvergnügen aus. Mit Handgranaten am Koppel wurde  getanzt. Vielfach wurden Kameraden mörderlich verhauen, oder, wenn sie  sich zu weit in die Vorstädte wagten, verschwanden sie auf  Nimmerwiedersehen. Die Kameraden waren an diesen Vergewaltigungen  zumeist ganz schuldlos. Ihre politische Orientierung fehlte überhaupt,  es waren eben Söldner, dabei sonst keine üblen Kerle. Trotz alledem ist  die feindliche Haltung der proletarischen Bevölkerung gegenüber solchen  Truppen durchaus richtig, wenn es zu ernsten Verlusten für die Truppe  führt. Das zermürbt die Mannschaft, stellt sie schneller und deutlicher  in Gegensatz zu ihren Offizieren, und nicht nebensächlich ist der  Umstand, dass man einer Militärformation nur mit Gewaltmitteln  beikommen kann. 
    Ich wollte in den nächsten Tagen meine Kündigung einreichen, als die  Arbeiterschaft Braunschweigs aufstand und unser Korps zum  Niederschlagen dieses Aufstandes nach dort abging. Es war eine  eigentümliche, vom militärischen Standpunkt aus mir unverständliche  Taktik Maerkers, die schwere Artillerie immer, wie in Weimar, so auch  hier wieder, in geringer Entfernung von der Stadt auffahren zu lassen.  In Geitelde, ganz nahe an Braunschweig, gingen wir in Stellung. Wieder  hoffte ich vergebens auf einen Angriff der Arbeiter. Auch hier konnte  man, nach nüchterner Einschätzung der Lage, den angreifenden Arbeitern  einen Sieg voraussagen. Durch einen nächtlichen Handstreich unsere  Geschütze zu erobern, gänzlich unblutig, während wir Vertrauten Wache  standen, wäre wahrhaftig keine große Heldentat gewesen. Zwei Tage  bemühte ich mich in Braunschweig, nirgends gelang es, Verbindung zu  bekommen. Wieder nach Geitelde zurückgekehrt, erstickte ich meinen Gram  mit Braunschweiger Honigkuchen, den meine Wirtin gebacken hatte. 
    Eines Tages wurde beim Antreten ein Unteroffizier gesucht, der mit  mehreren Mann in einem verdächtigen Hause an der Chaussee nach  Braunschweig, wo Arbeiter wohnten, eine Durchsuchung nach Waffen  vorzunehmen hatte. Schon lange vorher war mein Freund Wilhelm von mir  unterrichtet worden, bei solchen Gelegenheiten, die meistens immer den  Unteroffizieren freigestellt wurden, gleich zuzusagen.  Selbstverständlich gingen ich und noch zwei gute Kameraden mit. Ebenso  selbstverständlich fanden wir keine Waffen dort. 
    Inzwischen hatte ich wieder eine Postsendung Munition an die Adresse  meiner Eltern geschickt. Das bedeutete mein Ende bei Maerker. Die  Umhüllung des schweren Paketes hatte sich auf einem Postamt gelöst und  die Infanteriemunition war herausgefallen. Eine Rückfrage bei dem  Empfänger seitens der Post führte dazu, dass die Geschichte meiner  Batterie bekannt wurde. Ein kurzer Satz in meinem Müitärpaß: „Für  freiwilligen Dienst nicht brauchbar." — Die restliche Löhnung und gute  Worte meines Batterieführers, dass er mich als Soldat sehr geschätzt  habe, aber dass sich meine in letzter Zeit an den Tag gelegte Gesinnung  nicht mit dem Beruf eines deutschen Soldaten vertrüge und noch anderen  Kohl dazu, waren das letzte, was mir Maerker zu geben hatte. Ein Paar  neue Reithosen mit Ledersitz nahm ich mir noch selber, dann dampfte ich  der Heimat zu. 
    Als ich kaum ein paar Tage in Stendal war, gab es wieder etwas zu tun.  Das große Proviantlager sollte gestürmt werden. Kein Prolet in Stendal  hatte etwas Vernünftiges zu beißen, im Proviantlager war alles zu  haben, das gab zu denken. Seit der Mittagsstunde lungerten rebellische  Haufen, vorwiegend jüngere Leute, in der Nähe des Lagers herum.  „Noskes" (eine allgemein bekannte Bezeichnung für die Soldaten des  Sozialdemokraten Noske) standen mit dem Gewehr im Arm recht zahlreich  davor. Am Nachmittag rüttelte eine Meute von vielleicht 300 Mann sehr  energisch an dem Tor zum Lager. Viel Volk, die so genannten Raben,  denen es weniger auf den gefährlichen Sturm als auf eine Kiste Nudeln  oder Fleischbüchsen ankommt, hielten sich weiter hinten in den Straßen  für den „ergreifenden" Moment bereit. Lautes Gejohle leitete den  Angriff ein. 
    Krachend gab das Tor dem Druck der Masse nach. Den „Noskes" wurde bange  und sie türmten nach hinten durch die Gärten. Von dort schossen sie  durch die Bretterwand des angebauten Schuppens zwischen die räubernde  Menge. — Nur wer schon einmal etwas Ähnliches gesehen hat, kann sich  ungefähr ein Bild machen. Es scheint, als ob jeder einzelne in dem  Augenblick, wo er die Halle mit den begehrenswerten Dingen betritt,  einen Klaps kriegt. Eine Kiste ergreifen, mit ihr an einem anderen  Stapel Kisten vorübersausen, die erste Kiste mit den Nudeln fallen  lassen und eine andere mit Fleischbüchsen ergreifen, — da, was ist denn  das? Was hat denn der? Was? Zigaretten?! Weg mit den Fleischbüchsen,  mit Zigaretten beladen, soviel Hände greifen können, Pakete mit 1000  Stück, dass kaum noch der Kerl zu sehen ist, Donnerwetter — Schnaps!!  25-Liter-Ballons, weg mit den Zigaretten, die vom rechten Arm gehalten  werden. Einen Ballon Schnaps drangehängt. Über Scherben zertrümmerter  Flaschen, mit jedem Schritt hunderte von Zigaretten zertretend,  stolpernd, fallend, immer neue Räuber nachdrängend. Schreien der  Verwundeten, die, alles fallen lassend, sich die Schussstelle haltend,  hinausstürmen, oder wie ein halbzertretener Regenwurm sich am Boden  wälzen. Oder noch komischer, mit der Grimasse eines verprügelten Affen,  humpelnd den Ausgang suchen, — dass ist die Szene einer Plünderung! 
    Was soll ich nehmen? Zigaretten?! Ich rauche nur Pfeife. Rum?  Fleischbüchsen? Das Fleisch ist nicht viel wert. Nudeln? Gut. Noch  einmal werfe ich einen Blick auf die wühlende Menge. Ist das Hunger?!  Vor dem Sturm war es Hunger, jetzt ist es Habgier. Eigentlich ein  widerliches Bild und doch menschlich verständlich. Würden die „Noskes"  nicht durch die Bretterwand ihre Kugeln schicken, sondern offen vor  diesen Wühlratten stehen, würden sie sich in alle Winde zerstreuen wie  eine Schar verjagter Sperlinge. Ich setze meine Kiste Nudeln auf die  Schultern und gehe nach Hause. Nudeln mit Backobst ist noch heute mein  Leibgericht. 
    Zwei Tote und viele Verwundete kostete das Unternehmen. 
    Eintönig schlichen die Tage dahin. Es war nichts mehr los in der Wüste  der deutschen Revolution. Arbeit als Buchdrucker zu finden war  schwieriger als dem lieben Gott im Mondschein zu begegnen. Disteln  stechen für Mutters Ziege ist eine stachlige Arbeit, die wohl die  Ziege, aber nicht den Mann ernährt. Ich ging unter die Bierkutscher,  ein feuchter Beruf. Ein Buchdrucker kann Minister, Reichstagspräsident  oder Bürgermeister werden, aber Bierkutscher kann er nicht werden, das  kann er nur für eine kurze Zeitspanne markieren. Ich markierte auf der  Hansabrauerei in Stendal etliche Wochen Bierkutscher. Morgens um fünf  Uhr Pferdefüttern, dann putzen, dann am Ausstoß die Wagen beladen und  dann — dann geht's los. Jeder hat seine bestimmte Tour. Ein Pfuscher  wie ich war, kann nur Landtouren oder für größere Etablissements  Aufträge erledigen. Stadtkutscher zu sein, erfordert eine  Berufsroutine, die man nur durch jahrelange Tätigkeit erwerben kann.  Bierkutscher sind tadellose Kerle. In den Dingen, wo ich versagte,  wurde mir jederzeit kameradschaftliche Hilfe zuteil. Dass sie etwas  mehr trinken als andere Menschen, ist eine Berufskrankheit. 
    Fritze Arndt war das Original des Betriebes. Vull wie 'ne Strandkanone,  grau wie 'ne Haubitze, sterndudeldicke und so, kam er jeden Abend mit  seinem Fuhrwerk nach Hause. Die Backen hatte er voller Zigarrenstummel.  Fünf bis sieben Stück war normale Füllung. Kerzengerade, als hätte er  einen Pfahl im Kreuze, saß er auf dem Kutscherbock, wenn er auf den  Brauereihof fuhr. Mit der Linken dreht er seinen mächtigen Schnurrbart,  mit der Rechten hält er die Leine. Seine Pferde kennen ihn, sie gehen  ihren Weg. Bedenklich torkelt Fritze in die Kutscherstube, um den  Kupferkrug noch einmal zu einem langen Zug an die Lippen zu setzen.  Ruhig schaukelt er dann in seiner blauen Kutscherbluse heimwärts. 
    Wegen der geklauten Munition muss ich drei Tage ins Gefängnis, das  bedeutete den Sack bei der Hansa, Im Gefängnis soll ich Holz hacken,  und zwar große Wurzelstümpfe mit Axt und Keil zerspalten. Mit dem  großen Holzhammer treibe ich den Keil fest in den Stamm, nehme die Axt  und schlage absichtlich mit größter Wucht etwa zehn Zentimeter  unterhalb des Eisens den Stiel auf den Keil, genau an derselben Stelle  bricht der Stiel ab. Nach einer halben Stunde habe ich auf diese Weise  eine zweite Axt erledigt. Ich werde euch euer Holz schon hacken, denke  ich, ihr sollt eure Freude an mir haben in den drei Tagen. Aber die  Gesellschaft verdirbt mir den Spaß, man schickt mich auf die Zelle. Ich  schlafe mich gründlich aus und bald sehe ich das Kittchen von draußen. 
    Mit meinem Vetter, Franz Gorajski, einem Drucker, tippele ich eines  Tages nach Osterburg, 22 Kilometer nördlich von Stendal, um einem fast  allen älteren Buchdruckern — durch seine verwahrloste Bruchbude, seine  Lehrlingssauwirtschaft — als Prinzipalkuriosum bekannte Krauter Theodor  Schulz einen Besuch zu machen. In der Gewerkschaftszeitung der  Buchdrucker, dem „Korrespondent", ist dieser Murkser schon oftmals zum  Gaudium der deutschen Kollegenschaft beleuchtet worden. Wenn  durchreisende Buchdrucker nach Osterburg kamen (und sollten sie vom  Bodensee her bei allen Buden vergebens nach „Kunst" gefragt haben), bei  Schulz, da gibt es Kunst. Bei Schulz gibt es noch mehr, bei Schulz in  Osterburg gibt es auch noch Kost und Logis und einen „feinen" Lohn  dazu. Wir treten ein in den heiligen Kunsttempel. Der Oberpriester ist  nicht da, aber das kleine Ladenmädel kann uns das feste Versprechen  geben, dass wir Arbeit bekommen werden. Theodor macht neben der edlen  Schwarzkunst auch noch Geschäfte mit Siegellack, Bleistiften,  Reißzwecken, Abziehbildern, Klosettpapier und anderen lebenswichtigen  Dingen. Wir versprechen, nachdem uns ein Viatikum (Zehrpfennig)  ausgehändigt worden ist, in einer Stunde wiederzukommen, wenn der Herr  Schulz selbst anwesend sein wird. 
    Nach einer Stunde: „Guten Tag, meine Herren — ja ja, ich weiß schon  alles; — das ist ja einfach fabelhaft. Den ganzen Tag zerbreche ich mir  schon den Kopf, wie ich's anfangen soll; — ich stecke nämlich bis über  die Ohren in der Arbeit. So ein Glück! Sie sind Setzer und Sie Drucker.  Darf ich Sie bitten, meine Herren, den Betrieb und Ihre Zimmer zu  besichtigen? Wir halten es der Einfachheit halber so, dass Kost und  Logis gleich im Hause gegeben wird. Es ist von den Herren immer als  sehr bequem empfunden worden. So, hier haben wir die Stätte Ihres  künftigen Wirkens." Mit vornehmer Manier wurden wir den zwei  vorhandenen Gehilfen vorgestellt. Obwohl wir die Verhältnisse kannten,  bekamen wir doch keinen gelinden Schreck. Wie Fliegen auf dem Käse, so  krochen in der kleinen Bude die Lehrlinge herum. Zwei halbe Gesellen  und neun Lehrlinge! Nun ging's auf die Zimmer. „Hier schlafen meine  Lehrlinge, und hier, Ihr Interieur." Im ersten Bunker, wie beim  Militär, übereinander die Betten, viel zu klein das Zimmer für neun  Personen. Im zweiten Stall vier Betten. Um unsere unangenehme  Überraschung, die wir natürlich nicht ganz verbergen konnten, in eine  günstige umzustimmen, machte er uns mit den lukullischen Genüssen, die  aus seiner Küche kommen sollten, bekannt. Er sagte uns, wie viel  Schweine er jährlich schlachte. — Wie viel Tonnen Heringe bei ihm  konsumiert wurden, das sagte er uns aber nicht. 
    Nun war sein Gesprächsstoff einigermaßen erschöpft, aber über den Lohn  war noch kein Wort gefallen. Ich hakte vorsichtig an. — „Sie kommen  doch heute abend zum Essen? Wir essen pünktlich sieben Uhr und dann  werden wir uns schon darüber einigen. Holen Sie einstweilen Ihren  Rucksack von der Herberge." — Was der Krauter auspacken wollte, wenn  wir tüchtige Gehilfen seien, spottete jeder Beschreibung. Niemals  hatten wir daran gedacht, in der Quetsche Arbeit zu nehmen. Wir sagten  ihm alles, was man einem solchen Ausputzer sagt, und zogen unsere  Straße. (Bedauerlich ist, dass sich die Handwerkskammer um diese  Lehrlingsausbeutung nicht besser kümmert! Was so ein armer Knirps in  dem Saustall nach vier Jahren Lehrzeit für einen Begriff vom  Buchdruckerhandwerk kriegt, reicht höchstens dazu, einen Pfuscher  abzugeben, der so wenig Buchdrucker ist, wie ein Kistenmacher ein  Holzbildhauer.) Als wir von Osterburg zurückkehrten, kamen wir gerade  noch zur rechten Zeit in eine Versammlung, wo die Gründung der  Ortsgruppe Stendal der Kommunistischen Partei vollzogen wurde. 
    Mein Vater machte gute Geschäfte, er war selbständig und beschäftigte  ein oder zwei Gesellen. Da ich eine kleine Vorahnung der  Zigarrenherstellung hatte, half ich meinem Vater. Lange dauerte diese  Tätigkeit nicht, ich bekam Streit und verließ die elterliche Wohnung,  um nunmehr in einem nahe gelegenen Dorfe, mit Namen Wahrburg, bei einem  Bäckermeister als Brotkutscher eine Stellung anzunehmen. Zwei hübsche  kleine Pferdchen und einen Brotwagen steuerte ich jeden Tag nach  Stendal und besuchte die Kundschaft. Die Brotmarken, welche es damals  noch gab, erschwerten die Arbeit wesentlich. Hervorzuheben wäre das  gute Essen, wovon ich reichlich bekam. Viel Geld erhielt ich nicht  gerade, doch der Bäcker und seine Gattin waren vernünftige Leute; an  eine Ausbeutung meiner Arbeitskraft über die Grenzen des Anstandes  hinaus dachten sie nicht. Ich zeigte mich dankbar und habe — entgegen  den Gewohnheiten meiner Vorgänger — keinerlei Schiebungen gemacht. Die  hatten einfach mehr Brote in den Wagen geladen als dem Meister bekannt  war und das Geld dafür in die eigene Tasche gesteckt. 
    Bald hatte ich ein paar Pfennige erspart und ging an die Verwirklichung  meines Planes, einen Handel anzufangen. Nachdem ich darin einige  Erfolge zu verzeichnen hatte, konnte ich gar nicht mehr begreifen, wie  es möglich ist, dass ein Proletarier für solch einen geringfügigen Lohn  sich in die Sklavenketten spannen lässt. Immer wieder während meiner  mehrmonatigen Tätigkeit kam mir dieser Gedanke. Ich kaufte Roggen,  Gerste, Hafer und auch Weizen bei den Bauern und setzte sie in Stendal  bei Privaten ab. Da das Getreide noch der Beschlagnahme unterlag, war  ich also ein Schieber geworden. Die Gesetzwidrigkeit meiner  Beschäftigung kümmerte mich wenig. Wohl aber plagte mich mein Gewissen,  dass ich damit den Brotgetreidepreis höher hinaufschrauben half. 
    Ich beschloss, einen anderen Artikel zu handeln. Meinem ehemaligen  Lehrmeister, dem Buchdruckereibesitzer Dannemann, kaufte ich mehrere  Fuhren Altpapier und eine alte Maschine ab. Etliche Leute aus der  Herberge, die ich gut bezahlte, pressten das Papier in Ballen,  zerschlugen die alte Maschine und luden alles auf ein vom Grossisten  geborgtes Fuhrwerk. Meine ganze Arbeit an dem Geschäft war ein kurzer  Kaufabschluss mit dem Verkäufer, die Beaufsichtigung des Wiegens und  das Einstreichen des Geldes. 
    Mühelos hatte ich einen Reingewinn von dem Achtfachen eines tariflichen  Buchdruckerwochenlohnes. Acht Wochen musst du dafür schuften, Prolet,  was ein Spekulant an den Abfällen deiner Produktion in wenigen Stunden  verdient. Natürlich hatte ich meinen ehemaligen Chef dabei gehörig über  das Ohr gehauen. Er hatte keine Ahnung von den Preisen und erkundigte  sich telephonisch bei der Firma Mattischak, Rohprodukten en gros. Aber  das war ein noch größerer Gauner als ich, der bot noch weniger. 
    Durch Inserate in den Berliner Zeitungen merkte ich, wie sich die  Aufkäufer von Tuchresten, Neutuchabfällen usw. in ihren Preisen von Tag  zu Tag überboten. Auf eine Probe hin machte ich die Entdeckung, dass  damit heilloses Geld zu machen sei. Ich reiste in der Provinz herum und  kaufte bei den Schneidermeistern solche Reste auf. Über den Preis, den  ich zahlte, waren die Kleinbürger riesig erstaunt. Sie hielten es kaum  für möglich, dass man soviel Geld dafür zahlen konnte. Dass ich  trotzdem noch mit 100—150 Prozent Verdienst arbeitete, sagte ich  natürlich nicht. Zwei- bis dreimal schloss ich mit einem Großhändler in  Berlin in jeder Woche ab. Ein wöchentlicher Verdienst von 1000—1500  Mark, ungefähr das Zehn- bis Fünfzehnfache des Wochenlohnes eines  Arbeiters, war das Ergebnis dieser Schiebereien. 
    Obgleich ich mehrfach in der Lokalpresse Inserate laufen ließ, besaß  ich doch keinen Gewerbeschein, war also gesetzmäßig nicht zum  Handeltreiben berechtigt. Steuern bezahlte ich überhaupt keine. Ich  hatte immer viel Geld. Wenn sich nebenbei noch Geschäfte boten, fasste  ich zu. Es bestand eine Hochkonjunktur im Handel mit Pianos. Da ließen  sich bei guter Spekulation ganz mühelos Hunderte verdienen. Wenn ich  sage „mühelos", so bezieht sich das natürlich nicht auf die Leute, die  die Dinger zu transportieren hatten. Aber ich bezahlte sie gut, denn im  Grunde meiner Seele war ich kein Geschäftsmann. Ich lebte in den Tag  hinein wie ein richtiger Nichtsnutz. Hatte ich an manchen Tagen keine  Lust, machte ich keinen Handschlag. 
    Wie wenig ernst ich mein Geschäft nahm, zeigte sich, als die Leipziger  Frühjahrsmesse kam. Alles stehen und liegen lassend, nahm ich mein Geld  und fuhr nach Leipzig zur Messe. In einem sehr feudal eingerichteten  Zimmer in der Elsterstraße bei einem Musiklehrer stieg ich ab. In allen  Ausstellungen, in allen Messhäusern schaukelte ich umher. Wahllos, wie  ein Schmetterling von Blume zu Blume, flatterte ich von einem  Speisehaus in das andere, veräppelte Prostituierte und stieg hübschen  Mädchen nach. Besuchte Kinos, Theater und Tingeltangels, rutschte im  Varieté bei einer Rummsti-Bummsti-Clown-Nummer vor Lachen vom Stuhl  unter den Tisch, bekam bei einer Schlägerei in der Zeitzer Straße eine  unverschämte Tracht Prügel und fuhr wieder nach Stendal zurück.  | 
  
    
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