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Ludwig Turek - Ein Prolet erzählt (1930)
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In Litauen gefangen

Endlich werden wir entlassen, d. h. man führt uns in ein provisorisches Gefängnis. Hier packt uns der Senf; wütend fordern wir unsere Freilassung, niemand kann uns verstehen, alle machen die Handbewegung des Bedauerns, kein Häuptling lässt sich sehen. In einem großen Zimmer, in dem bettähnliche Gestelle und Tisch und Stühle vorhanden sind, langweilen wir uns oder rennen fluchend umher. Die Bewachung ist sehr höflich gegen uns, frech und gewalttätig gegen die anderen Gefangenen. Ob sich hier aus diesem Stall nicht auskneifen lässt? Dieser Gedanke wühlt uns auf, bis wir ihn ernsthaft diskutieren. So ein Mist, elender; schon beinah am Ziel und diese Kerle schnappen uns hier weg. Genosse Bäsel kann seinen Mut kaum noch zügeln. „Wenn jetzt eener die Dür uffmacht, hau ick ihm eens uff de Fresse und türme." — „Denn schießt dich der nächste Posten übern Haufen!", sagt sein Leidensgenosse aus seiner Flohkapsel heraus. „Leg dich man ganz ruhig mit'n Arsch in de Klappe, weiter kannst du vorläufig gar nichts machen."
„ Vielleicht kommen die Bolschewiken nach Suwalki und machen uns frei." Nach dieser Richtung hin strecken wir einen Fühler aus. Ein dreckiger Kerl, der etwas polnisch kann, verspricht uns, am Ort die Kommunisten mit unserer Lage bekannt zu machen. Vergebens warten wir auf die Stunde, die uns aus diesem Bau wieder herausbringen soll. Die Heuchelei der Banditen ist nicht zu übertreffen. Wir dürfen auf den Hof und sogar auf die Straße gehen, natürlich nur soweit das Gebäude reicht. Der Kommandant hat es uns ausnahmsweise gestattet. Türmen!? Ausgeschlossen! Nicht einen Moment sind wir unbeobachtet, denn gleichzeitig mit den Augen des Postens sehen andere Augen auf uns: die Augen der Gewehrläufe.
Diese Soldaten fühlen sich wichtig; auch wenn sie keinen Dienst haben, legen sie die Knarre nicht aus der Hand. Allerdings: ohne Gewehr würde man in ihnen keinen Soldaten erkennen. Die Kleidung ist miserabel, mehr Zivil als Uniform. Die Uniformen, die sie tragen, sind anscheinend aus allen Armeen der Welt zusammengeschleppt. Nur die Chargierten sind einigermaßen soldatisch gekleidet. Das wäre auch alles nur halb so schlimm, wenn sie nicht gerade das Bestreben zeigten, möglichst viel militärischen Bluff zu veranstalten. Eine Truppe kann auch ohne glatte Uniformierung gut sein. Soldaten der Roten Armee waren auch nicht besser gekleidet als die hier, wie wir später im Gefangenenlager sehen konnten. Rotarmisten ohne Schuhe gab es dort. Napoleon hat mit Soldaten in Lumpen Italien erobert.
Selten hat mich die Sehnsucht nach Freiheit so geplagt, wie in dem Gefängnis zu Suwalki. Soldat spielen war nicht mein Fall, aber der Gedanke, als Soldat der Roten Armee, inmitten von Millionen Proletariern den Aufbau des Sozialismus zu erkämpfen, allen Feinden zu trotzen, zupfte Tag und Nacht an den klangvollsten Saiten meines Innern. Nur wenige Kilometer, ein paar Stunden Marsch entfernt: die Brüder.
Nach etwa einer Woche, an einem Morgen kam eine Wendung. Auf dem Flur vor unserer Bude sammelten sich mehrere Posten. Vor dem Haustor hielten drei kleine Panjewagen. Bauern, als Besitzer und Kutscher, fluchten wild durcheinander. Wir werden herausgeführt. Auf meine Frage, was los sei, antwortet der Dolmetsch, es erfolge eine Versetzung, das Wohin könne er noch nicht sagen. „Warum schimpfen denn die Bauern so wütend?" — „Sie haben schon vier- oder sechsmal gefahren und noch immer keine Bezahlung erhalten." — Auf zwei Wagen sitzen zehn Soldaten, auf dem dritten sitzen wir sechs Gefangenen. Vor und hinter uns ein Wagen mit fünf Posten. Alle halten das Gewehr schussbereit im Arm. Wahrscheinlich macht ihnen die Fahrt Spaß. Sie sind alle guter Laune, rauchen fortwährend selbstgedrehte Zigaretten, singen und versuchen mit uns zu sprechen. Suwalki ist kaum außer Sicht, als sie anfangen, nach allem, was nur einigermaßen ein Ziel für ein Gewehr abgibt, zu schießen. Hundsmiserabel schießen sie. Wenn es angängig wäre, würde ich mich in zweihundert Meter Entfernung im Laufschritt aus dem Staube machen. Da könnte so ein Scheißkerl dreimal fünf Patronen nach mir verschießen, ich wüsste, dass sie nicht treffen würden.
Durch einen großen Wald kraucht langsam die Karawane vorwärts. Ein Bild, abenteuerlich und romantisch zugleich. Ein Panjewagen ist, auch ohne dass sich eine solche wilde Bande auf ihm herumräkelt, schon ein seltenes Fuhrwerk. Die kleinen Räder mahlen sich mühsam durch den Sand. Wir liegen im Stroh und können trotz unserer misslichen Lage kein böses Gesicht machen. Zudem ahnen wir ja nichts von den Schikanen, die uns erwarten. Zwar nicht alle sind mit solch schnuppiger Gleichgültigkeit geladen. Die Sonne lacht, der Wald singt sein uraltes Lied. Wenn die Litauer Witze machen, muss man lachen oder weinen. Sehr derb war der Witz, den sich ein junger Frechdachs mit dem alten Bauern auf dem ersten Wagen erlaubte. Der Kutscher saß auf einem schmalen Brett, worauf er sich der Bequemlichkeit halber einen kleinen Strohsack gelegt hatte. Dieser Strohsack hatte viele Löcher, daher mochte er dem übermütigen Strolch im Wagen so wertlos erscheinen, dass er sich vornahm, ihn aus der Welt zu schaffen ohne Rücksicht darauf, ob der Be- und Draufsitzer damit einverstanden war. Vielleicht hätte diesen das Ausderweltschaffen weniger gekränkt, aber die Methode, mit der es bewerkstelligt wurde, musste wirklich einen flammenden Protest hervorrufen.
Jeder wird verstehen, mit welcher Wut der gute alte Erdensohn ohnehin schon auf seinem Strohsack saß. Es gab daheim zu tun, alle Hände voll zu tun, dieser barfüßige, in Lumpen gehüllte Bauer war nicht gut zu sprechen auf die neugegründete Armee seines Vaterlandes, mit deren Söldlingen er hier in der Welt herumkutschen musste, während er schon im voraus wusste, dass zu den anderen glorreichen Taten dieses Militärs nun noch eine neue sich gesellte, und das war, ihn abermals um seinen Fuhrlohn zu beschummeln. Die ganze Bande schrie wie eine Schar wilder Affen, als der Bauer, wie aus der Kanone geschossen, plötzlich vom Wagen sprang, während dort, wo er eben gesessen hatte, sein Strohsack in hellen Flammen stand.
Der Frechdachs hatte ihm unter seinem Hintern den Strohsack in Brand gesteckt. Krebsrot vor Wut vollführte der Bauer, während er neben seinem Wagen einherschritt, einen wahren Indianertanz. Er hatte sich sicherlich nicht unerheblich verbrannt. Den Militärs war dabei sehr wohl zumute. Es war ja nur eine kleine Zerstreuung in ihrem langweiligen Leben!
Ein Dorf kam in Sicht. Sie requirierten für uns und gleichzeitig für sich Lebensmittel. Der Dolmetsch sagte uns, der Schwarze, der mit dem Studentenschmiss über der Backe, hätte vor etlichen Tagen in diesem Dorf einen guten schwarzen Anzug requiriert, wobei er dem Besitzer des Anzuges einen Zettel als vorzulegende Quittung auf der Kommandantur in Suwalki aushändigte; auf den hatte er geschrieben: „Wenn der alte Geizhals kommt, haut ihm den Buckel voll." — Der alte Mann war drei Stunden nach Suwalki gepilgert mit dem Zettel. Unter Lachen und Johlen sei er von den Schreibstubengehilfen abgeblitzt worden. Der Dolmetsch sah als Jude alle Dinge, die sich bei der Bande ereigneten, mit anderen Augen als die übrigen Banditen. Diese waren gewissenlos gegen ihre eigenen Landsleute, gerade wie im Mittelalter die Landsknechte. Einem Bauern, dem sie die wenigen Äpfel vor seinen Augen vom Baum stahlen, drohten sie ernsthaft mit Erschießen, weil er sich in wütenden Redensarten gegen den Diebstahl verwahrte. Die Äpfel waren noch nicht einmal reif, denn eine halbe Stunde später lagen alle angebissen über die Landstraße verstreut.
In einem Ort mit Namen Syni oder Sayni wurden wir dem Ortskommandanten übergeben. Hier merkten wir, wie scheinheilig die Gesellschaft in Suwalki gewesen war. Über den Genossen Bäsel und mich hatten sie ausdrücklich in einem Protokoll unsere politische Gesinnung, verbunden mit allerlei Verleumdungen, niedergelegt. Frech, mit gehässigen, beleidigenden Worten wurden wir auf der Kommandantur traktiert. Die Unwahrheiten, welche im Protokoll verzeichnet waren, wiesen wir strikte zurück. Jedoch bald ließ sich feststellen, dass es nur der Hass gegen uns als Kommunisten war, welcher der Bande die Gemeinheiten in den Mund legte. Man sperrte uns in ein entsetzlich stinkendes Gefängnis ein. Wie selbst die Feinde der Litauer, Polen, besser behandelt wurden als wir, konnten wir des öfteren erleben. Eine große Überraschung wurde uns dort zuteil, so einschlagend in ihrer Größe, dass sie uns geradezu zu Boden schlug. Nach drei Tagen wurde an uns kein Krümel Nahrung verteilt, dafür bekamen wir aber sehr reichlich Grobheiten und Prügel angeboten. Auf unsere dringenden Vorstellungen zuckte der Wärter mit der Achsel und machte eine Gebärde, die besagen sollte, er verstehe uns nicht. Solche Naivität ging über alles Dagewesene. Satte Menschen können nicht verstehen, dass die anderen auch essen müssen, um 220
leben zu können! Das Gefängnis steht am Markt. Es ist ein einfaches Gebäude, die Zellen liegen zu ebener Erde. Durch die Gitter sahen wir mit brennenden Augen auf die Verkaufsstände des Marktplatzes. Mit Mühe gelang es, etliche Vorübergehende von unserer üblen Lage in Kenntnis zu setzen. Nach einer Weile wurden uns von einer jungen Frau, die Fische verkaufte, etwas Brot und zwei Fische zugesteckt. Über eine Woche dauerte der Aufenthalt in diesem Ort. Sehr selten haben wir von Beamten des Gefängnisses zu essen bekommen. Immer waren es Mitleidige, die eine kleine Gabe für uns bereit hielten. Aasgeier umkreisten das Gefängnis. Vom Hosenknopf bis zur Taschenuhr, alles kauften Juden für einen lächerlich geringen Preis.
Eines Abends wurden Zigeuner eingeliefert. Mit Kind und Kegel, mit Sack und Pack zogen sie ein. Es waren sehr arme Zigeuner. Die kleinen Kinder, die noch nicht laufen konnten, transportierten sie in einem altersschwachen Kinderwagen. Der hatte trotz seiner vielfachen Mängel doch einen Vorzug, nämlich eine enorme Größe. Obgleich die Räder die eines normalen Kinderwagens waren, hatten ihn die Zigeuner nach ihrem Bedarf vergrößert. Sechs Kinder hatten bequem Platz darin. Die sechs Insassen, Sprösslinge mehrerer Familien, vollführten des Nachts einen Höllenlärm. Nach zwei Tagen hatten es die Wärter satt. Unter vielem Spektakel ließ man die braune Gesellschaft laufen.
Auch einzelne Frauen waren eingesperrt. Diese machten den schlechtesten Eindruck. Ungewaschen liefen sie im Gefängnis herum, obgleich ein großes Wassergefäß zu gemeinsamer Benutzung auf dem Hofe stand. Einzelnen Wärtern waren die Frauen immer noch gut genug, um einen Liebesladen mit ihnen aufzumachen.
Endlich holte man uns sechs Mann heraus, um mit uns abermals eine Reise ins dunkelste Litauen anzutreten. Beinahe unerträglich waren die Bewachungsleute. Mit dem Revolver in der Hand setzten sie sich neben uns auf die Wagen. Ihre Redensarten, die wir zwar nicht verstanden, waren uns dem Tonfall nach sehr geläufig. Jede, auch die geringste Bewegung unsererseits war ihnen Veranlassung, den Revolver auf uns anzulegen. Wer weiß, was man den Strolchen für eine Ansicht über uns eingeimpft hatte! Vielleicht meinten sie, die gefährlichsten Raubmörder oder gar menschenfressende Bolschewiki vor sich zu haben, die imstande sind, auch ohne Waffe, nur mit den Zähnen, einen Menschen umzubringen. An Verpflegung während der Fahrt dachte kein Mensch. Wir lebten von der schönen sonnigen Luft, vom Anblick unserer lieben Mitmenschen und so nebenbei von etlichen unreifen Äpfeln, die wir von Syni her noch in der Tasche hatten. Ebenso brutal wie uns behandelte man auch den Kutscher. Gebieterisch wurde ihm befohlen, im Schritt, im Trab, im Galopp zu fahren. Es war ein alter schüchterner Kerl, der vor den Waffen der Soldaten zitterte, sobald sie versehentlich damit in seine Nähe kamen.
Durch ein Dorf ging die Fahrt. An der Straße stehende Bewohner staunten uns an, als seien wir nicht von dieser Welt. Mit ungemein interessierten Blicken musterten sie uns. Als handle es sich bei dem Wort „Bolschewik" um die gefährlichste Sorte Verbrecher, so geheimnisvoll, so mit Grauen durchsetzt, sagte es einer dem anderen. „Bolschewik, schreckliches, grauenvolles, giftiges Reptil, du Bolschewik, du Menschenfresser!" — Wie muss hier die Hetze gegen die Kommunisten die Hirne der harmlosen unpolitischen Bauern erfasst haben!
Die Fahrt dauerte bis spät in die Wacht. In einer verfallenen Scheune mussten wir übernachten. Vom Hunger fast tot, konnten wir uns am Morgen kaum erheben. Aber unsere neue Bewachung war großmütig, denn sie gestattete uns, aus einem Garten Äpfel zu pflücken. Die Leute, die uns nun transportierten, waren das Gegenteil von denen des vorigen Tages. Warum? Entweder hatten die Schinder in der Eile vergessen, ihren Nachfolgern von unseren kannibalischen Eigenschaften zu berichten, oder es war ein Mann unter den Posten, der schon wusste, dass Kommunisten auch Menschen sind. Die letztere Annahme wurde durch einen Vorfall bestärkt, von dem ich jetzt erzählen will.
Wir klagten den ganzen Vormittag während der Fahrt über Hunger. Eine Verständigung war ganz ausgeschlossen. Trotzdem wussten die Leute sehr gut, wie es um uns stand. Mit Gesten und Gebärden bedeuteten sie uns, dass wir noch etwas warten sollten, bald würden sie Essen schaffen. An einem größeren Gut hielt die Kolonne an. Mit lachenden Gesichtern machte man uns klar, dass jetzt die Mahlzeit beginne. Drei Mann gingen auf den Gutshof. Nach wenigen Minuten kehrten sie zurück, mit leeren Händen. Nun geschah aber etwas, was am Vortage niemand für möglich gehalten hätte: man gab uns zu verstehen, wir sollten uns selbst das Nötige auf dem Gutshof holen. In einem großen Zimmer saßen an einem gedeckten Tisch etwa zehn Personen, denen es geschmeckt haben mag bis zu dem Augenblick, wo wir unsere Hungergesichter im Türrahmen zur Schau stellten. Für einen unverdorbenen Menschen ist es unmöglich, angesichts eines solchen Bildes ungestört seine Mahlzeit fortzusetzen. Ebenso unmöglich war es uns, noch länger im Türrahmen zu verweilen. Ohne viel Gezeter räumten die Leute ihre Plätze und ohne einen Versuch der sprachlichen Verständigung nahmen wir Platz. Kartoffeln mit Käsequark, Brot, Milch und Eier waren da. Hei, wie die Holzlöffel schnatterten. Wie schwere Baggerschaufeln segelten sie durch die Luft, immer voll und fest in den Mund und leicht und schnell in die Schüsseln. Immer noch und noch, und gleich noch einmal. Aus den dunklen Ecken des Zimmers trafen uns ängstliche, neugierige Blicke, man schien auf den Moment zu spitzen, wo wir alles verzehrt und mehr verlangen würden. Ihre Augen waren voll Spannung, als sähen sie eine Flamme, die an einer Zündschnur frisst. Man wollte sich den Knall ersparen, deshalb gab man noch im letzten Augenblick einen großen Krug Milch und ein Brot heraus. Dann ging die Fahrt weiter, an Massengräbern des Weltkrieges vorbei. Ihre einfachen Holzkreuze, einst als Schmuck gedacht, standen nun als Symbole des Grauens auf der sonnenversengten Flur. Wessen Knochen liegen dort?! Wer kümmert sich um diese verwahrlosten Erdenflecke?! Nachdem die Phrase vom Heldentum längst vor die Hunde gegangen ist, geht nur noch dann und wann leises Mitleid scheu vorüber.

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