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Ludwig Turek - Ein Prolet erzählt (1930)
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Mit der Roten Armee des Ruhrgebietes gegen Watter und Severing

Ich lungerte am 13. März, es war noch sehr frühmorgens, auf der Breiten Straße herum, als im Fenster des Tageblattes plötzlich, mit Blauschrift geschrieben, ein Extrablatt erschien, das in meine luderhafte Sorglosigkeit wie eine Handgranate schlug. Kapp hatte sich in Berlin niedergelassen.
Im Laufschritt flitzte ich in die Brüderstraße, wo sich die Büros der Gewerkschaften befanden. Nach etlichen verwunderten Glossen kam der Apparat in Bewegung. Binnen wenigen Stunden standen in Stendal sämtliche Betriebe still. In einer bewegten, stark überfüllten Versammlung wurde ein Exekutivausschuss gewählt, der sich paritätisch aus je drei Kommunisten, drei Unabhängigen, drei Sozialdemokraten, drei Vertretern der Gewerkschaften und drei bürgerlichen Beamtenvertretern, die der demokratischen Partei nahe standen, zusammensetzte. Den Vorsitz dieses Fünfzehner-Ausschusses übernahm der Sozialdemokrat Ernst Brandenburg.
Die ausgerissene Regierung erließ durch ihre sozialdemokratischen Mitglieder einen Generalstreikerlass: „Proletarier streikt, rettet die Situation!" Das war der Extrakt des Erlasses. Dass man von derselben Seite kurze Zeit vorher durch die starke Linke des Herrn Noske bei einem Streik der Eisenbahner unter Zuhilfenahme des Ausnahmezustandes Streikenden mit Gefängnis bis zu einem Jahr gedroht hatte, war von den sozialdemokratischen Verwandlungskünstlern vollkommen vergessen worden.
In Stendal war eine Garnison. Die Haltung derselben war äußerst zweifelhaft. Um vor Überraschungen sicher zu sein, wurde in einer Sitzung, der ersten nach der Konstituierung, die Bewaffnung der Arbeiterschaft gefordert und durchgesetzt. Brandenburg, dem ich natürlich nichts Gutes zutraute, musste sich der Entschließung fügen. Er war übrigens schlau genug, sein Bremsen für eine günstigere Zeit zurückzuhalten. Man konnte diesem alten Fuchs anmerken, wie er die große Erregung der übrigen Mitglieder des Ausschusses, die nicht befähigt waren, die Situation bis in ihre letzte Auswirkung zu überschauen, nur künstlich teilte. Für ihn war die Lage klar und darum lag das Ziel seiner Tätigkeit, wenn auch noch siebenfach verschleiert, bereits in einer ganz anderen Richtung, als die Männer des Ausschusses ahnten. Auch für uns drei Kommunisten, es waren die Genossen Georg Burig, Robert Dittmann, der Bruder des bekannten Dittmann von der Sozialdemokratie, und ich, war es kein Geheimnis, dass durch den musterhaft geführten Generalstreik, der besonders in Berlin das gesamte Wirtschaftsleben stilllegte, Kapp würde bald die Koffer packen müssen. Also was blieb der Sozialdemokratie zu tun übrig als die Rolle, die sie seit 1914 spielte, weiterzuspielen und die revolutionäre Energie der Massen, die impulsiv nach der Niederwerfung Kapps weitergehen würde, abzutöten. Die Tätigkeit des Sozialdemokraten Severing im Ruhrgebiet als Reichs- und Staatskommissar beleuchtet diese Aufgabe der sozialdemokratischen Führer am besten und eindringlichsten.
Langsam vollzog sich die Trennung der Geister im Ausschuss. Um seine Intrigen durchsetzen zu können, musste Brandenburg immer offener die Karten zeigen. Ich will hierbei bemerken, dass anlässlich einer Sitzung mit dem Tangermünder Exekutivausschuss die sozialdemokratischen Genossen aus Tangermünde in größter Wut vor Brandenburg ausspuckend mit den Worten: „Pfui Deibel!" die Sitzung sprengten. In einer anderen Sitzung kam ein Unteroffizier der Garnison, mit glaubhaften Ausweisen versehen (er war Sozialdemokrat), und bot in seiner Eigenschaft als Waffenmagazinverwalter dem Exekutivausschuss die Hand, den Waffenbestand der Garnison in den Besitz der Arbeiter überzuleiten. Er hatte dazu einen besonderen Plan entworfen, der mit Sicherheit die Übernahme gestattete. Es konnte zum Zorn reizen, mit wie viel verschlagenen Worten Brandenburg den Mann mit seinem Antrag abwies. Wir sind dem Jongleur in stürmischen Debatten entgegengetreten. Durch die drei Sitze der Gewerkschaften und die der Beamtenvertreter bekam seine ganze Hinterlist eine Stimmenmehrheit, und wir Kommunisten mit den Unabhängigen waren machtlos.
Natürlich verschafften wir uns andere Chancen. Bezeichnend ist, dass wir im Suchen nach solchen außerparlamentarischen Mitteln die Unterstützung der Tangermünder Sozialdemokraten fanden, die uns achtzig Infanteriegewehre, ein schweres Maschinengewehr und entsprechende Munition von ihrem Bestand abtraten. Mit einem Fuhrwerk holten wir das Geschenk ab.
In einer Sitzung bekamen wir telephonischen Bescheid, dass sich in der Villa des I. Staatsanwaltes vom Landgericht Stendal, die in der Gardelegener Straße gelegen ist, neun von der Bevölkerung verfolgte, bewaffnete Gymnasiasten geflüchtet hatten, deren Auslieferung der Staatsanwalt verweigerte. Dem Staatsanwalt die Bude durchzuschnüffeln, das war ein Spaß für mich. Darum bestand ich darauf, die Angelegenheit zu klären. Mit drei bewaffneten Genossen zog ich in die Gardelegener Straße. Niemand öffnete. Ich rief laut vom Hof der Villa hinauf: „Wenn innerhalb von drei Minuten nicht geöffnet wird, zerschlagen wir die Tür!" — Sofort wurde aufgemacht, und zwar vom Staatsanwalt selbst. Ich zeigte meine Karte vom Aktionsausschuss und fragte nach den neun Bengels, die sich in seinem Hause versteckt hielten. Er sagte, das sei nur ein Gerücht, es sei niemand Fremdes in seinem Hause. Ich erklärte ihm, einem Staatsanwalt könne man nichts glauben und darum müssten wir eine Haussuchung vornehmen. Erregt meinte er, zur Haussuchung hätte ich kein Recht. Ich sagte ihm lachend, dass ich zu bestimmen hätte, was Recht und nicht Recht sei. Er solle sich gefälligst um sämtliche Schlüssel seiner gesamten Türen bemühen, ich würde jetzt mit der Haussuchung beginnen.
Mit mühsam verhaltener Wut kam er in Begleitung eines Dienstmädchens zurück. Bald hatten wir die Lauselümmels auf dem Boden entdeckt. Sie zitterten am ganzen Körper vor Angst. Widerstandslos brachten sie Dolche und Pistolen (ohne Munition) zum Vorschein. Mit einem gehörigen Anschnauzer und einer schrecklichen Drohung für den Fall, dass sie noch einmal erwischt würden, jagte ich die Gesellschaft hinaus. Der Staatsanwalt wird sich gewiss nicht gern an diesen Vorfall erinnern. Von mir muss ich das Gegenteil behaupten.
Unsere Aufgabe lag vor allen Dingen darin, die immer noch nicht Farbe bekennende Garnison mit Waffengewalt in Schach zu halten. Brandenburg drängte im Ausschuss auf Verhandlungen mit der Garnisonsleitung. Der Schlauberger kalkulierte: Kapp ist morgen, spätestens übermorgen erledigt, die Garnison stellt sich dann auf die Seite der „rechtmäßigen" Regierung, darum muss unbedingt verhindert werden, dass die bewaffneten Arbeiter etwas in dieser Sache unternehmen. — Als eine Abstimmung ergab, dass Verhandlungen mit der Garnison stattfinden sollten, spielte Brandenburg den tapferen Mann und erklärte sich (natürlich) bereit, mit in die Kaserne zu gehen, was er als etwas Gefährliches hinzustellen versuchte. Meine Genossen und auch die Unabhängigen wollten nicht hingehen, aber den Brandenburg allein zu lassen, war nach meinem Dafürhalten ein großer taktischer Fehler. Deshalb ging ich mit. Nach längerem Zureden gelang es uns auch, einen Unabhängigen umzustimmen. Brandenburg hatte bestimmt gehofft, mit seinen Absichten allein zu bleiben und war speziell von meiner Mitwirkung nicht besonders erbaut. Er faselte, dass ich mit meinen zweiundzwanzig Jahren zu jung sei und durch unüberlegte Worte nicht nur die Verhandlungen in einem für, die Arbeiter günstigen Stand stören, sondern die Delegation in eine recht verfängliche Situation hineinreiten würde. Es sei nicht das erste Mal, dass Arbeiter von der Reaktion bei solchen Gelegenheiten erledigt würden. Ich bestand trotzdem auf meiner Teilnahme.
Der Kaserne etwas näher gekommen, ließen sich deutlich die Vorkehrungen feststellen, die man gegen einen Sturm der bewaffneten Arbeiter getroffen hatte. In die Dächer waren Löcher gemacht, durch die die Läufe schwerer Maschinengewehre ragten, über die Mauer ragten ebenfalls Maschinengewehrläufe. An den Toren standen starke Wachen, alles machte den Eindruck einer Festung, die einer Belagerung entgegenging.
Am Tor, von wo aus man uns drei Mann schon lange erspäht hatte, wurden wir barsch nach unserem Begehr gefragt. — „Den Major sprechen", erklärten wir. Mehrere Mann begleiteten uns in die Wachtstube, wo man uns nochmals ausfragte. Darauf geleitete man uns in ein Zimmer, wo wir warten sollten. Wir warteten unverschämt lange. Endlich kam der Major in Begleitung mehrerer Offiziere angerasselt. Brandenburg stellte sich mit sämtlichen Titeln vor. Der Major hielt eine Vorstellung seinerseits für überflüssig. Er fragte kurz, was ich für ein junger Mann sei. Ich erwiderte beleidigt, dass ich als gewählter Vertreter der Stendaler Arbeiterschaft zu erfahren wünschte, welchen Standpunkt die Garnison bezüglich des Putsches der Kapp und Lüttwitz einzunehmen gedenke. Meine Worte waren laut und schroff gewesen, so dass sich Brandenburg veranlasst fühlte, mit ruhigen höflichen Worten die Aufmerksamkeit des Majors auf sich zu lenken. Der wich der Kernfrage des Problems geschickt aus und forderte plötzlich, die Arbeiter sollten die Waffen abliefern. Das empörte mich dermaßen, dass ich, bevor sich jemand äußern konnte, ein knallendes „Nein" dem Major ins Gesicht schrie und gleich laut die Antwort gab: „Nein, das werden die Arbeiter nicht tun." Verärgert über meine laute Antwort zog er sich in ein Vorzimmer zurück zwecks Beratung mit seinen Offizieren. Erst nach langer Zeit kehrte er zurück, und mit etlichen nichts sagenden Worten wurden wir entlassen.
In die Sitzung zurückgekehrt, saß Brandenburg so ziemlich auf dem Trocknen. Draußen herrschte Leben. Auf einen telephonischen Anruf bei den Tangermündern erklärten sie sich bereit, in zwei Stunden 500 Mann mit Waffen nach Stendal in Marsch zu setzen. Auf dem Ünglinger Tor, einem von der Kaserne etwa 700 Meter entfernten, 30 Meter hohen Turm, wurden Maschinengewehre in Stellung gebracht. Handgranaten wurden verteilt. Alles war zum Sturm bereit. 900 gut bewaffnete Arbeiter in glänzender Kampfstimmung standen 400—500 Söldnern, die alle vor dem Sturm die größte Angst hatten, gegenüber. Seit zwei Tagen die Wasserleitung abgesperrt, ohne Licht, und was wichtiger war, ohne Brot und Heizmaterial, war die Stimmung der Mannschaft keine gute.
Etliche Arbeiter holten mich mitten aus der Kolonne heraus; ich solle mal nachsehen, was das für ein Vogel sei, der vor einer halben Stunde im Hotel zum „Schwarzen Adler" abgestiegen sei, er trage die Uniform eines Offiziers und sei mit einem Auto gekommen. Ich gab meinen Karabiner einem Kameraden zur Aufbewahrung und ging, die Armeepistole umgeschnallt, zum „Schwarzen Adler". Der Ober zeigte sich hochmütig, er erklärte frech, er sei mir keine Antwort schuldig über die hier abgestiegenen Gäste. Ich zeigte ihm meine Karte, wodurch ich mich als Mitglied des Exekutivausschusses vorstellte und ihm eröffnete, dass er unverzüglich verhaftet wäre, falls er sich weiter weigere, die erwünschte Auskunft zu erteilen. Das verfehlte seine Wirkung nicht. Er wusste plötzlich genau, dass ein höherer Offizier abgestiegen sei, nur die Zimmernummer war ihm entfallen. Ich merkte deutlich, wie er mich betreffs der Auffindung des Zimmers in den Gängen des Hotels verklapsen wollte, um Zeit zu gewinnen. Er tat immer noch hochmütig und stolzierte in seinem Frack von Zimmer zu Zimmer, ohne das richtige zu finden; — dabei warf er ziemlich herablassende Blicke auf meine einfache abgetragene Militärjacke. Mit einem plötzlichen kräftigen Tritt in seinen befrackten Hintern bekundete ich ihm eindeutig, dass ich endlich den fraglichen Offizier zu sprechen wünsche. Schnurstracks ging's jetzt auf die Bude los. Ich fand den Kerl ziemlich erschrocken über mein Eindringen vor. Ich fragte nach Herkunft und Zweck seiner Reise. Er gab bereitwilligst Auskunft, und auf eine junge Frauensperson zeigend, erklärte er, lediglich auf einer Vergnügungsreise mit seiner Frau begriffen zu sein. Ohne Umstände sagte ich ihm, dass das nicht seine Frau sei, er solle solchen Kohl jemand erzählen, der seine Hose mit der Kneifzange anzieht, aber nicht mir. Die Vergnügungsreise erschien mir in den bewegten Tagen ebenfalls eine allzu dumme Ausrede, kurzerhand nahm ich meinen Revolver aus der Tasche und hieß die beiden vorausgehen; ich hatte die Absicht, sie dem Ausschuss vorzuführen. Denn die Möglichkeit, dass es ein Kappist sei, der Verbindung mit der hiesigen Garnison suche, schien mir gegeben. Da erschien auf einmal wie vom Himmel gefallen Brandenburg; wahrscheinlich hatte man ihn von der Hoteldirektion telephonisch um Hilfe gebeten. Nach einer kurzen scharfen Auseinandersetzung überließ ich dem Retter das Feld, in der richtigen Meinung, dass es jetzt wichtigere Dinge zu tun gäbe als zu streiten.
Durch diesen kleinen Zwischenfall war ich um einen interessanten Akt gekommen: Die unblutige Eroberung der Kaserne und Inhaftierung der Offiziere durch die teilweise Mithilfe der Soldaten selbst. Eine kleine Gruppe Arbeiter unter Führung des Kommunisten Georg Burig war zur Kaserne gegangen und von der Wache eingelassen worden in der Meinung, dass es sich um eine Delegation handele. Genosse Burig hatte dann kurz entschlossen einen Wagen erstiegen und eine zündende Rede an die Soldaten gehalten, die von allen Seiten herbeiströmten. Ein Bravourstückchen sondergleichen, dessen Ergebnis bei den ohnehin unzufriedenen Soldaten eine offene Meuterei gegen die Offiziere war, die bald darauf im Kittchen saßen.
Jetzt trat Brandenburg offen in Funktion. Er bewirkte: erstens, dass die Offiziere, um deren Wohlergehen er sich sehr besorgte, von Stendal nach Magdeburg transportiert wurden (wo man sie dann in Freiheit setzte); zweitens: dass am anderen Tag das Rathaus, der Marktplatz und die Marienkirche, die „City" von Stendal, von den Soldaten (auf jeden zweiten Meter ein Mann) unter dem Kommando Brandenburgs besetzt wurde. Mit entsichertem Karabiner stand das Militär gegen die gesamte proletarische Bevölkerung, die zusammengelaufen war. Eine ungeheure Verwirrung entstand. Die bewaffneten Arbeiter, die durch diese Schurkerei Brandenburgs verärgert waren, kamen teilweise zu uns, um ihre Waffen bei den Kommunisten abzuliefern; sie erklärten, dass sie sich von Brandenburg nicht wieder verkackeiern ließen. Die Soldaten, gegen die Brandenburg gestern noch das Proletariat in den Kampf geschickt hätte, für den Fall, dass der Major seine Leute für einen Kampf gegen die Arbeiter gebrauchen wollte, standen nun unter Führung Brandenburgs gegen die Arbeiter. Die Empörung war grenzenlos.
Im Ruhrgebiet kämpfte das Proletariat gegen den General Watter. Wir Kommunisten beschlossen, gleich am anderen Morgen mit dem Zug 6,03 Uhr nach Dortmund zu fahren. Leider stand ich zur festgesetzten Zeit allein auf dem Bahnhof. In Dortmund angekommen, hatte ich zuerst für einen dort anwesenden Stendaler mit Namen Barfeld ein Paket abzugeben, das seine Mutter mitschickte. Ich traf ihn zu Hause an. Er war begeistert von meiner Absicht, in die Rote Armee eintreten zu wollen und ging mit mir zur Werbestelle. Leider wurde er nicht angeworben, weil er kein Kriegsfrontsoldat gewesen war.
Gerade ging ein Bataillon an die Front ab, ich meldete mich freiwillig dazu und mein Landsmann begleitete mich bis zum Bahnhof. Revolutionäre Lieder singend fuhren wir im Transportzug bis Mülheim. Dort wurde in einer Kaserne eine bessere Bewaffnung durchgeführt; andere Formationen kamen hinzu, und am Morgen bewegte sich ein großer roter Heerwurm in Richtung Hamborn, wo Watter Widerstand leistete. Ein erhebender Anblick. Rau und wuchtig klingt der Gesang der roten Bataillone durch das Gebiet der Arbeit. Wie Feuer grüßen von den Fördertürmen die roten Fahnen. Jubelnd schwenken Frauen und Kinder aus Fenstern ihre Tücher. Obwohl die Not an den eigenen Vorräten zehrt, bringen sie uns Butterbrote, Kaffee, Tee und anderes mehr. 50 000 Proletarier in Waffen! Alles kriegsgeübte Männer, die darauf brennen, dem Freiherrn von Watter den entscheidenden Schlag zu versetzen. Eine endlose Kolonne Artillerie schließt sich bei Sterkrade an. Maschinengewehrwagen und schwere Minenwerfer kommen hinzu. Immer wieder steigt brausend die Internationale über die Schlote, über Hochöfen, Fördertürme, durch die kalte Starre der Eisen- und Stahlwerke, über die der große Verbündete, der Generalstreik, seinen riesenstarken Arm legt.
In Dinslaken, einem Städtchen in der Nähe von Hamborn, wird übernachtet. Noch einen Tag Ruhe und am Abend geht unsere Formation in Stellung. Die Chaussee von Dinslaken nach Wesel zeigt deutlich die Spuren erbitterter Kämpfe. Auf einem Bahndamm steht vor uns ein Panzerzug; seine Maschinengewehre hämmern in die Nacht. Aufheulend zeigen Raketen die Stellung der Sipo. Dort steht der Feind. Um zehn Uhr wird gestürmt. Noch vor 10 Uhr wälzt sich eine dunkle Linie gegen die feuernde Sipo. Unregelmäßig aufspringend und niederwerfend, aber zähe trotz größter Verluste kommen die Rotarmisten näher und näher. Wir liegen 25 bis 30 Meter in einer Bodensenkung vor dem feindlichen Graben. Durch das wilde Knattern der Sipo klingt hundertstimmig der Ruf: „Handgranaten, Hand—gra—na—ten." Donnernd, als berste die Erde, fallen sie in die Reihen der Sipo. Sturm, Sturm. Die Sipo verlässt den Graben. Unsere Kugeln folgen nach. Sanitäter lesen Tote und Verwundete auf. Milchkannen mit Essen werden durch den Graben gereicht. Fern, irgendwo rechts, erklingt durch die Nacht Minenfeuer. Dazwischen auf der Chaussee singen anmarschierende Rotgardisten: „Auf, auf, zum Kampf, zum Kampf sind wir geboren"; Stroh wird verteilt, jeder Mann bekommt ein Bund. Wachtposten lugen scharf aus. Nein, die Sipo kommt nicht wieder. Bald schnarcht es unter den Decken im Stroh. Einzeln fallen noch Schüsse, doch sonst bleibt es still.
Sonnig steigt der Morgen aus den Nebeln. Wieder gehen Milchkannen durch den Graben, diesmal ist Kakao drin. Brot und Speck wird verteilt, ebenso Zigaretten und Zigarren und echter holländischer Rauchtabak. Unsere Truppe ist international. Von den Belgiern jenseits des Rheins, die dort als Besatzung sitzen, kommen Soldaten zu uns herüber, bleiben einen Tag und kehren dann zurück. Einer dieser Belgier ist verwundet. Russen sind viele bei der Armee, es sind ehemalige Kriegsgefangene. Die Belgier, d. h. die drüben unter dem Kommando ihrer Offiziere, leisten sich ein Extravergnügen, sie schießen mit Artillerie über den Rhein, einfach wahllos in die Gegend. Amerikanische Filmleute kommen mit Rote-Kreuz-Binden in die Stellung und filmen. Befragen in schlechtem Deutsch unsere Leute, für wen sie kämpfen. „Warlike airs have your soldiers!" (Kriegerische Gesichter haben Ihre Soldaten); das stimmte allerdings. Der bloße Anblick dieser Jungens mit den verwegenen Mienen konnte den Bourgeois schon einen Schreck einjagen. An die Front wurden vorwiegend nur jüngere Leute geschickt, die älteren Arbeiter der Armee fanden Verwendung zum Ordnungsdienst in den Städten u. a. Noch eine Nacht im Graben und wir werden abgelöst.
In der Märzsonne liegen, Pfeife rauchend, wenn man weiß, diese Nacht geht's wieder los (ein Gehöft muss gestürmt werden), das ist ein Vergnügen. Das Essen ist sehr gut und reichlich, mittags und abends in Ruhe gibt's warmes Essen. Schokolade und Keks, alles aus Holland, ist ebenfalls reichlich vorhanden. Unser Küchenbulle verschiebt eine halbe Seite Speck, er wird von der Mannschaft krumm und lahm gehauen und weggejagt. In Hemdärmeln muss er sich humpelnd und blutend auf die Chaussee machen. Wieder geht es in Stellung, es ist ein Waldrand, an dem wir liegen. Das Gehöft, das gestürmt werden soll, ist noch ein Stück entfernt. Da man auf diesem Fleck nicht ein ganzes Bataillon einsetzen kann, heißt es „Freiwillige vor". Die Hälfte und noch mehr der sich Meldenden müssen zurückgewiesen werden. Erst sollte in der Nacht gestürmt werden. Aus praktischen Gründen aber wird die erste Morgendämmerung gewählt.
Frühzeitig lege ich mich schlafen. Es ist noch stockfinster, als ich geweckt werde. Eine Kolonne von vielleicht fünfzig Mann zieht im Gänsemarsch los. Fast geräuschlos geht's über Äcker und Wiesen. Nichts ahnend passieren wir einen kleinen Busch, fast 100 Meter sind wir bereits vorüber, als plötzlich ein Maschinengewehr aus dem Busch herausfunkt. Da wir ja alle ehemalige Frontkämpfer sind und sich sofort jeder platt auf den Bauch wirft, kommen wir ohne Verluste davon. Langsam krochen wir auf den Busch wieder zu, das Maschinengewehr fanden wir, aber die Bedienung war getürmt. Da sich die Geschichte in ziemlicher Nähe des Gehöftes zugetragen hatte, waren wir also bereits gemeldet. Das zeigte sich auch bald, denn die Sipo schoss sozusagen aus sämtlichen Knopplöchern. Das Gelände ist dort flach, nach der Knallerei zu urteilen steckten allerlei Grüne in dem Hause, also es war bestimmt keine leichte Aufgabe, die wir uns da gestellt hatten. Ein Glück, dass wir schon so früh aufgebrochen waren, denn noch zeigte sich keine Spur vom neuen Tage. Wir umzingelten das Haus, und um eine größere Anzahl Angreifer vorzutäuschen, wurde verabredet, nach jedem Schuss einige Meter abwechselnd nach rechts und links zu laufen, um dort wieder zu feuern. Etwa zehn Minuten knallten wir in diesem Sinne fort. Das Feuer der Sipo lässt nach. Nun wird in Richtung Wesel ein Drittel der Umzingelung scheinbar geöffnet, die verbleibenden zwei Drittel feuern weiter. Wir hatten uns nicht verrechnet. Die Sipo, die den Angriffsgeist der Rotgardisten zur Genüge schon kennen gelernt hatte, traute sich offenbar nicht zu, die Festung bei einem Sturm halten zu können und benutzte richtig die vermeintliche Lücke, um zu entkommen. In dem Moment, als die ersten der türmenden Sipo auf die auf der Lauer liegenden Rotgardisten stießen, stürmte die entgegengesetzte Seite von uns. Alles, was noch drinnen war, stürzte schnellstens den ersten nach. Der Tag zeigte sein erstes Licht. Wie beim Spießrutenlaufen musste die Sipo an den Gewehren unserer Leute vorbei. Drei Tote und wenige Verwundete kostete uns der Handstreich; die Sipo dagegen musste schwer bezahlen.
Bei der Artillerie mangelte es an Richtkanonieren; — es wurde danach gefragt. Ich war Richtkanonier und meldete mich. Die Stimmung bei Noskes und der Sipo war mehr als mies, darum brauchte man künstliche Mittel, sie wieder aufzufrischen. An einem warmen Nachmittag, an der Front war es verhältnismäßig ruhig, vernahmen wir ganz in der Ferne Blasmusik. Durch das Scherenfernrohr gewahrte ich vom Beobachtungsstand aus, wie ein Trupp von etwa 200 Mann, voran eine Kapelle, aus Wesel herausmarschiert. Der Weg ging in Richtung auf die Front. Man geleitete also die Kolonne ein Stück des Weges mit Musik. Bald musste ein Kreuzweg kommen, den ich auf der Karte schnell gefunden hatte. Unsere Batterie stand hinter einem Bahndamm in der Nähe einer Unterführung. Die Entfernung bis zum Kreuzweg war genau an Hand der Karte festzustellen. Mit dem Richtkreis waren schnell alle drei Geschütze gerichtet. Nur noch eine kurze Strecke und die Kapelle sollte durch uns eine kleine Verstärkung erfahren. — „Die ganze Batterie, erste Salve — Feuer!" — Obgleich die Salve nicht richtig gesessen hatte, vielleicht dreißig bis vierzig Meter zu weit nach links ging, stob die Gesellschaft auseinander, als ob ein Riese mit seinem Knüppel dazwischen gehauen hätte. Gegen Abend wurden wir mit Maschinengewehrfeuer beharkt. Eine telephonische Meldung nach vorn zur Infanterie, und nach einer Stunde kam die Meldung zurück: „Feindliches MG in unserer Hand". — Eine Minenwerferabteilung wurde zugedeckt. Schwere Geschütze, vermutlich 21er Kaliber, wurden in Stellung gebracht. Der endgültige Sieg der Roten Armee war auf der ganzen fünfzig Kilometer langen Front so gut wie sicher, als sich ein neuer Feind zeigte. Es war ein gefährlicher Feind: der Sozialdemokrat Severing, der mit einem Aufruf in den Zeitungen, worin es hieß: „Liefert den Behörden die Waffen ab! — Nur Polizei und Wehren haben das Recht, Waffen zu tragen!" eine Ära des Verrates, der Unterminierung der bisher einig und ohne Parteistreit geschlossen kämpfenden Roten Armee einleitete und so gerade jetzt der in allerhöchster Not befindlichen Armee des Freiherrn v. Watter die allerbeste Stütze bot. Als Reichs- und Staatskommissar von der ausgerissenen Reichsregierung in das Ruhrgebiet entsandt, stand er an der Seite des Generals v. Watter und damit im schärfsten Widerspruch zu den Arbeitern. Watter fand sich, wie alle diese Reaktionäre, erst sehr spät auf den Boden der alten Regierung zurück, nachdem nämlich der Generalstreik Kapp in Berlin endgültig das Genick gebrochen hatte und etliche Unterführer, wie in Wetter a. d. Ruhr der Hauptmann Hasenklever, der zum Freikorps Lichtschlag gehörte, in Herdecke der Hauptmann Lange, in Remscheid der Major Lützow, in Mülheim der Major Schulz und andere mehr, sich bei offenem Einsetzen ihrer Truppe für Kapp von den Arbeitern gehörige Schlappen geholt hatten, die teilweise zur völligen Vernichtung ihrer Formationen führten.
Selbst Sozialdemokraten forderten, wie eine Besprechung der Funktionäre in Duisburg am Niederrhein ergab, die Erringung der politischen Macht mit dem Endziel der Sozialisierung des Grund und Bodens, des Bergbaues und der Schwerindustrie. Den sozialdemokratischen Arbeitern schien die Zeit, angesichts der starken Roten Armee, die zum allergrößten Teil aus Sozialdemokraten bestand, äußerst günstig für die Erreichung dieser alten sozialdemokratischen Forderungen. Und in der Tat, nie vorher und auch nicht später hat die Arbeiterschaft solche hervorragenden Positionen innegehabt wie damals, jedoch dem Reichskommissar Severing lag nichts am Sozialismus, sondern er war bei der Geburt der Nationalversammlung, die ja allen „ehemaligen" Feinden der Arbeiterschaft die Mitwirkung in Parlament und Regierung der Republik gebracht hatte, beteiligt. Ein Sieg der Roten Armee in ganz Deutschland hätte einen Sieg der Arbeiterschaft über das gesamte Bürgertum bedeutet, über alle Generäle, Freiherren von, Hauptleute, Deutschnationale, Volksparteiler, kurz: über alle die, die noch vor zwei Jahren, 1918, den Krieg bis aufs Messer forderten und denen der Krieg wie ein „Stahlbad" bekam, die unter diesen Parolen Millionen von Proleten abgeschlachtet hatten. Man lasse alle theoretischen Überlegungen fort und bedenke ganz einfach, dass diese Rote Armee mit ihren 50 000 Mann Frontsoldaten, mit ihrer schweren und zahlreichen leichten Artillerie, mit ihren Minenwerferabteilungen, mit den Tausenden von Maschinengewehren, mit dem ungeheuren Kraftwagenpark, der es ermöglichte, die ganze Armee in wenigen Tagen durch ganz Deutschland zu transportieren, mit allem Kriegszeug einer modernen Armee überhaupt ausgerüstet und von der begeisterten Kampfstimmung, der Sympathie der gesamten deutschen Arbeiterschaft unterstützt, für die Gegner der sozialistischen Weltanschauung eine ungeheuer riesenhafte Gefahr darstellte, vor der man zitterte. Das Kabinett Ebert-Bauer (derselbe Bauer, den man sieben Jahre später aus der sozialdemokratischen Partei wegen umfangreicher Schiebungen, begangen gerade in den Jahren 1919—20, mit den allergrößten Schiebern unserer Zeit, den Gebrüdern Barmat, als der Korruption überführt entfernen wollte) hatte selbst die Hosen voll vor dieser Roten Armee. Um nicht von der Arbeiterschaft fortgejagt zu werden, war er um seiner selbst willen gezwungen, den „Dolchstoß von hinten" bei der Roten Armee praktisch zu erproben. Ich glaube, heute, wo diese Begebenheiten bereits historischen Charakter tragen, wird es auch unter den sozialdemokratischen Arbeitern keinen ehrlichen Genossen geben, der die schweren Fehler seiner Führer von damals ableugnen wollte.
Die Sozialdemokratische Partei, Ortsgruppe Münster, war ebenfalls von der unehrlichen Arbeit Severings überzeugt. Man hielt es für zwecklos, eine Anklageschrift gegen den General Watter erst an den Reichskommissar Severing zu richten; man schickte sie gleich nach Stuttgart zur Regierung. In der Anklageschrift wurde die Entfernung Watters gefordert; daraus kann man ersehen, wie vertrauensselig die sozialdemokratischen Arbeiter noch an Ebert-Bauer glaubten. Auch auf einer Konferenz in Bielefeld wurde die Abberufung "Watters gefordert. Nichts wurde daraus. Severing pfiff auf alle Anträge und Beschwerden, und Watter erklärte, Severing nicht entbehren zu können. (Hört! Hört! Wer's nicht glaubt, lese Severings eigene Worte nach in „1919—20 im Wetter- und Watterwinkel", Aufzeichnungen und Erinnerungen des Staatsministers a. D. Karl Severing, ehemaliger Staatskommissar im Befehlsreiche des VI. Armeekorps. Buchhandlung Volkswacht, Bielefeld 1927, auf Seite 139.) Generalleutnant Freiherr v. Watter kann den Sozialdemokraten Severing im Kampfe gegen das Ruhrproletariat nicht entbehren.
General Watter sind die überall gebildeten Arbeiterräte oder Aktionsausschüsse ein Dorn im Auge, aber seine Macht reicht nicht aus, die weitere Bildung solcher Räte zu verhindern oder die Tätigkeit der schon gebildeten zu unterbinden. Die Arbeiter ohne Unterschied der Partei kümmern sich in ihren Ausschüssen nicht um den General v. Watter. Aber der Freiherr hat einen Helfer, er haut eine Verordnung raus und lässt sie von seinem Helfer unterschreiben. Sie lautet:
„ Im Einverständnis mit dem Herrn Regierungskommissar Severing verordne ich auf Grund der Verfügung des Reichspräsidenten vom 13. I. 1920 wie folgt: Arbeiterräte oder Vollzugsausschüsse, die eine Mitwirkung bei den Behörden bezwecken, bedürfen der Bestätigung des Wehrkreiskommandos und des Regierungskommissars. Wo sich schon Arbeiterräte und Vollzugsausschüsse gebildet haben, ist das durch die Räte selbst unter Angabe der Namen und der politischen Parteizugehörigkeit der Mitglieder dem Wehrkreiskommando, dem Regierungskommissar und dem Oberpräsidenten zu melden.(Anm.: Es folgen noch drei saftige Abschnitte; einer ist kurz, er lautet: „Die Tätigkeit der Räte ist ehrenamtlich.")
Der Reichskommissar: gez. Severing.
Der Befehlshaber des Wehrkreises VI: gez. Freiherr v. Watter, Generalleutnant."
Also, meine Herren Arbeiter, falls Ihnen eine politische Situation, wie zum Beispiel die von Kapp und Lüttwitz geschaffene (Behüt euch Gott, es war so schön gewesen, behüt euch Gott, es hat nicht sollen sein), nicht ganz nach Ihrem Geschmack geht, so wenden Sie sich bei der Bildung von Arbeiterräten vertrauensvoll an mich. Ich, Generalleutnant v. Watter, werde Ihnen in Ihren Wünschen entgegenkommen. Ehrenamtlich, von Watters Gnaden, genehmigt durch den Reichs- und Staatskommissar Severing, mit solchen hohen Protektoren können die deutschen Arbeiterräte bei der Erfüllung ihrer schwierigen Aufgaben, die sie als Träger einer revolutionären Epoche zu erfüllen haben, nicht versagen.
Nachdem man nun mit vereinten Kräften dermaßen Verwirrung unter die Arbeiter getragen hatte und viele örtliche Institutionen bereits den Parolen ihres „Genossen" Severing gefolgt waren, wurde fieberhaft daran gearbeitet, der nunmehr geschwächten, aber immer noch gefürchteten Roten Armee durch Heranziehung großer Truppenkörper aus allen Teilen des Reiches, speziell aus dem reaktionären Bayern, ein militärisches Übergewicht entgegenzusetzen. Darüber sagt Severing in seinem Buche auf Seite 168: „Derweil waren der Befehlshaber und ich ständig bemüht, Truppen heranzuziehen und sie für den Fall bereit zu machen, dass die Wiederherstellung der Ordnung nur durch den Einmarsch überlegener militärischer Kräfte möglich sein würde."
Bald fühlte man sich infolge dieser Vorarbeit stark genug, um durch die Reichsregierung einen Aufruf loszulassen, worin in Absatz 4 die Durchführung gewisser Bedingungen verlangt wurde: „Völlige Entwaffnung der gesamten Bevölkerung einschließlich der Einwohnerwehren unter Aufsicht der rechtmäßigen staatlichen Organe. — Die Art und Zeit der Durchführung der Entwaffnung wird durch den Inhaber der vollziehenden Gewalt näher bestimmt werden." Watter bestimmte näher folgendes:
„ Zusätze des Befehlshabers. 1. Waffen und Munition sind an die Polizeiverwaltungen abzugeben und von diesen per Bahn dem Wehrkreiskommando in Münster zuzuführen; die Polizeiverwaltungen haben bis 30. III. elf Uhr vormittags dem Wehrkreiskommando die Zahl und Art der zur Abgabe gelangten Waffen und Munition zu melden. Sind bis 31. III. zwölf Uhr nachmittags nicht schon vier schwere Geschütze, 10 leichte Geschütze, 200 Maschinengewehre, 16 Minenwerfer, 20 000 Gewehre, 400 Schuss Artilleriemunition, 300 Schuss Minenwerfermunition abgeliefert worden, so gilt die Bedingung der Waffenabgabe nicht als erfüllt. Werden die geforderten Mengen abgeliefert, so wird weitere Bestimmung über die restliche Waffenabgabe erfolgen... (Anm.: Es folgen noch drei Abschnitte.)
Freiherr v. Watter, Generalleutnant."
Immer noch wagte man nicht gegen die Rote Armee im offenen Kampfe vorzugehen. -Die leeren Reden des Generals Watter von der „Verhinderung eines weiteren Blutvergießens" wird niemand ernst nehmen. Schlotternde Angst vor der noch starken Roten Armee hielt ihn zurück, den Kampf zu wagen; — erst sollten noch andere Einflüsse die Kampfkraft der Arbeiter schwächen. Die Waffenabgabe war nur dort, wo die Reichswehr das Gebiet besetzt hielt, von ihr mit Gewalt durchgeführt worden. Das Ruhrproletariat antwortete auf die Frechheiten Watters mit erneutem Generalstreik. Der Termin für die Waffenabgabe wurde verlängert.
Große Teile der Roten Armee waren durch die Zersplitterung und Unterwühlungsarbeit der Severing und Genossen verärgert, der Spaltpilz wucherte fort und fort, weniger organisationsfähige, politisch nicht taktfeste Männer bemühten sich um die Kommandostellen mit dem Erfolg weiterer Desorganisation der Armee. Endlich glaubten der tapfere Watter und der noch tapferere Severing den Tag gekommen, um mit der ganzen zusammengezogenen Truppenmacht losschlagen zu können. Das Übergewicht der Reichswehr war ungeheuer. So wurde zum Beispiel, nachdem im Frontabschnitt Dinslaken alle Formationen der Roten Armee abgerückt waren, der Bahndamm, der links vom Bahnhof nach Wesel führt, auf einer Strecke von 300 Meter von unserer Gruppe von 16 Mann gegen eine zehn -bis zwanzigfache Übermacht eine volle Stunde gehalten. Die Feiglinge vermuteten größere Kräfte hinter dem Bahndamm und wagten erst den Sturm, als von uns 16 Genossen nur noch fünf unverwundet oder leicht verwundet, die anderen tot oder schwerverwundet übrig geblieben waren. Zwei der fünf Kameraden, mit denen ich durch Dinslaken zurückging, wurden durch das Sperrfeuer, das die Ausgänge von Dinslaken in Richtung Hamborn abriegelte, getötet. Wir drei Mann schritten über Wiesen und Felder müde und abgekämpft dahin. Von Dinslaken her trommelte die Reichswehr herüber, mörderischer als manchmal an der Front in Frankreich. Wütend, wie wir waren, mussten wir doch lachen bei dem Blick auf Dinslaken zurück und bei dem Gedanken: „Jetzt stürmt die ganze Meute Dinslaken und kein einziger Rotgardist ist mehr drin." Was werden sie mit den schwerverwundeten Kameraden machen? Schweigend, allmählich in eine melancholische Stimmung verfallend, ziehen wir auf einem Feldwege weiter. Mehrere Schüsse gleichzeitig reißen uns wach, acht oder zehn Kavalleristen, eine Erkundungspatrouille jedenfalls, stehen auf demselben Feldweg 500—600 Meter entfernt. Ohne Kommando, aber fast gleichzeitig liegen wir im Dreck, und schon funken wir hinüber. Lumpenpack verfluchtes! Pferde gehen hoch, werden wild herumgerissen und stürzen davon; zwei bis vier Mann haben ihren Denkzettel, die Feiglinge sind verschwunden. Doch in zehn Minuten kommen zwanzig oder mehr im Exerziergalopp angejagt. Verdammt. Ein Wäldchen liegt halblinks 300 Meter vor uns; mit langen Sätzen geht's hinüber. Die Lumpen knallen und einer von uns, ein zweiundzwanzigjähriger Bergmann, bekommt einen Schuss in die Wirbelsäule. Er fällt wie ein Baum mit lautem Schrei, erhebt sich noch zweimal und bricht zusammen. Die Feiglinge getrauen sich nicht, in den Wald zu reiten. Schnell sind wir hindurch; — da steht wie bestellt eine Straßenbahn vor uns; die Straßenbahner lassen sich nicht lange bitten und fahren, was das Zeug hält, durch alle Haltestellen. Wir sind in Sicherheit. Wir steigen aus und beschießen einen Noskeflieger. In einer Kneipe trinken wir ein Glas Bier.
Ich schlafe in der weichen Sofaecke ein; zu groß war die Anstrengung der letzten Tage. Mein Kamerad weckt mich, der Wirt hätte gesagt: Noske sei im Anmarsch, wir sollten uns dünne machen, das fällt aber schwer; wie mit einem Zentnergewicht auf dem Herzen erhebe ich mich. Eine Knallerei an einer nicht sehr entfernten Stelle, wahrscheinlich wieder gegen nichtanwesende Rotgardisten, besagt uns, dass wir verduften müssen. Mein Kamerad rät zum Dauerlauf. Es geht nicht. Ohne die Halunken direkt auf den Fersen zu haben, kann ich nicht laufen; ginge es in der entgegengesetzten Richtung nach Wesel, ich könnte laufen bis dahin. Mein Kamerad verlässt mich nicht, wir gehen, die Knarre im Arm, langsam die Straßen hinunter.
Ich glaube, wir waren nun schon in Oberhausen, aber ich kann es nicht behaupten. Begebenheiten, die an den Rückzug erinnern, sind mir infolge des deprimierenden Eindruckes dieser Tage vielfach entfallen. An einem Restaurant hielten mehrere Lastautos, schon besetzt mit Rotgardisten. — „Wohin?" — „Nach Essen." Wir zwei krabbelten hinauf. In Essen wurde uns ein begeisterter Empfang zuteil. Flugblätter in Massen, die zum Weiterkämpfen aufforderten, wurden verteilt. Ich wusste besser, wie es aussah. Warum jubelten die Kameraden in Essen auf den Lastautos so laut, warum waren sie schon vor dem Angriff der „Noskes" getürmt? Warum waren die Herausgeber dieser Flugblätter nicht mit der Armee an der Front geblieben? Es war ein Strohfeuer der Begeisterung ohne untere feste Nahrung. Durch alle Städte, besonders in Bochum, begleitete uns der nicht endenwollende Jubel der Bevölkerung. — „Haut de Noskejungs." — „Hoch de Rote Armee."
In Dortmund waren wir nur noch wenige. Wo jeder einzelne wohnte, war er zwischen Oberhausen und Dortmund abgestiegen, um seine Angehörigen mit seiner gesunden Heimkehr zu überraschen. — Noch ahnte niemand die Schreckenstage, die beim Einmarsch der Wattertruppen, der Württemberger und Bayern, in die Städte des Ruhrgebietes kamen. Mit schwarzweißroten Fahnen, nicht mit schwarzrotgoldenen, mit der Fahne der Kapp und Lüttwitz, nicht mit der Fahne der Republik, zogen die Henker ein. Severing, — das war der dankbare Faustschlag deiner Freunde von gestern! „Deutschland, Deutschland über alles", stieg immer wieder. Erschossen wurde, was gerade vor die Flinte kam. Die Standgerichte wüteten an allen Orten. Jeder Offizier fühlte sich wohl in der Tätigkeit eines Standrichters; es begann der weiße Terror mit allen seinen Scheußlichkeiten. Gefangene Arbeiter, ohne Parteiunterschied, wurden gezwungen, patriotische Lieder zu singen, sie mussten dann ihr Grab schaufeln und wurden erschossen. Arbeiter, die im offenen Kampfe gegen Noske vor Tagen oder sogar Wochen verwundet wurden, holte man von ihrer Familie fort; da sie infolge ihrer Verwundung sehr geschwächt waren, setzte man sie auf einen Stuhl und schoss sie kaltblütig über den Haufen. Fünfzig Mann oder noch mehr stellte man an eine Mauer und knallte sie weg. In einem einzigen Grab in Pelkum bei Hamm liegen neunzig Mann. Misshandlungen, die schwere körperliche Schädigungen hinterließen, waren in Dutzenden von Fällen eine tägliche Erscheinung. Die Bayern taten sich selbstverständlich besonders hervor. Der weiße Terror ging bluttriefend und mordend durch das Land, über Berge von wehrlos hingeschlachteten Arbeitern. In den Hirnen aller Proleten flammte nur ein Gedanke, in allen Herzen brannte nur eine Sehnsucht: „Oh, wäre noch die Rote Armee da, hätten wir nicht auf die Lügen gehört von der verfassungstreuen Truppe, die nur die Herstellung von Ruhe und Ordnung will."
In Unna wurde ich verhaftet. Vierzehn Mann saßen wir in einem Zimmer, das streng bewacht wurde. Man beliebte, uns alle Stunden zu erzählen, dass wir erschossen werden sollten. Am Abend gegen neun Uhr kommt ein Offizier und erklärt nochmals ausdrücklich: „Morgen früh fünf Uhr wird geweckt und um sechs Uhr erfolgt die standrechtliche Erschießung." Unter den Leuten waren etliche, die mit der Roten Armee absolut nichts zu tun hatten. Sie brachen in lautes Weinen aus und beteuerten ihre Unschuld. In eine Ecke legte ich mich schlafen; ich war nicht davon überzeugt, dass man uns alle vierzehn erschießen wollte.
Um vier Uhr morgens, es war noch finster, erwachte ich. In einem Flaschenhals brannte eine Kerze. Leises Wimmern und Stöhnen bezeugte den Kummer der Leute, die da vermeinten, unschuldig sterben zu müssen. Beim Licht der Kerze sah ich meine Brieftasche durch. Darin war noch der Ausweis des Aktionsausschusses Stendal. Ein Entwurf zum Sturm auf die Stendaler Kaserne. Mein Mitgliedsausweis der Kommunistischen Partei, ein Schriftstück von der Roten Armee u. a. Die verdächtigen Papiere steckte ich gesondert ein. Dann schrieb ich eine Ansichtspostkarte mit dem Dortmunder Bahnhof an meine Eltern: „Liebe Eltern, ich bin schon wieder auf dem Wege zu euch. Hier bin ich gerade in einer sehr schlimmen Zeit eingetroffen; wenn ich das vorher gewusst hätte, wäre ich nicht hergefahren. Arbeit gibt es hier nicht. Es grüßt... Ludwig." Jetzt trommelte ich an die Tür. Der Posten meldete sich, erklärte aber auf meine Bitte, austreten zu dürfen, das sei nicht mehr notwendig, es ginge gleich los. Ich trommelte weiter. Er öffnete, mit vorgehaltenem Revolver führte er mich zum Abort. Die Tür des Abortes blieb offen. Der Posten stand seitlich davor. Es gelang mir trotzdem, die verdächtigen Papiere in den Abort zu drücken.
Noch keine halbe Stunde war ich wieder in der Zelle, als die Tür sich öffnete und wir alle vierzehn Mann auf einem Flur antreten mussten. Ein Offizier nahm eine gründliche Durchsuchung der Papiere aller Gefangenen vor. Ich stand am linken Flügel, drei Mann hatten verdächtige Papiere, der eine einen Mitgliedsschein der Roten Armee. Sie mussten rechts heraustreten. Drei andere hatten überhaupt keine Papiere. Bei mir angelangt, fragte er, zu welchem Zweck ich von Stendal nach Westfalen gekommen sei. — „Um Arbeit zu finden." — „Sie mussten doch wissen, was hier los ist." — „Ich hatte keine blasse Ahnung." — „Machen Sie doch keinen Kohl, Sie sind extra nach Westfalen gekommen, um der Roten Armee beizutreten." Laut lachte ich aus mir heraus, es musste ziemlich natürlich geklungen haben. Der Leutnant sah mich scharf an, er erprobte seine Menschenkenntnis an mir und erklärte: „Sie sind doch mit der Waffe in der Hand getroffen worden." Das war nicht der Fall gewesen, denn ich hatte mein Gewehr an der Post in Dortmund beim Einmarsch der Truppen auf einer Steintreppe zerschlagen. Nochmals lachte ich laut und sagte: „Seit meiner Verwundung am Chemin des Dames im Oktober 1918 habe ich kein Gewehr mehr in der Hand gehalten." — „Wo sind Sie denn verwundet worden?" — „Am linken Schienbein." — „Zeigen!" Jetzt hielt er die Karte an meine Eltern in der Hand, er las sie durch. Ich durfte links herausgehen. Die drei, welche rechts herausgetreten waren, blieben zurück. Zu uns links gewandt: „Machen Sie, dass Sie schleunigst hier aus Unna verschwinden; wen wir hier nochmals erwischen, der wird ohne weiteres an die Wand gestellt." Sind die drei Mann erschossen worden? Ich habe es nicht erfahren.
Mit dem Triebwagen fuhr ich nach Soest. Dort war Ruhe, aber sicher war ich dort auch noch nicht, denn es liefen auch in Soest genügend Häscher umher. Abends fuhr ich nach Hamm, da waren die „Noskes" noch mit der Massakrierung der Arbeiter beschäftigt. Trotzdem man im Wartesaal des Bahnhofes die Arbeiter nicht wenig belästigte, habe ich bei dreifacher Kontrolle wirklich gut abgeschnitten.
Um zwei Uhr nachts fuhr ich im D-Zug nach Stendal. Eine interessante Unterhaltung hatte ich im Zuge. Gleich kurz hinter Hamm konnte sich ein Fatzke mit seinen kritischen Bemerkungen nicht zurückhalten, die auf meine Person als einen ehemaligen Rotgardisten anspielten. Er verstieg sich soweit, den Mitfahrenden des besetzten Abteils zu erklären, dass man mir den Spartakisten doch an der Nasenspitze ablesen könne. Das war für mich allerdings nur eine Ehre, aber ich wollte mich dem Pinsel gegenüber nicht äußern, zumal der Zug noch in der Reichswehrzone fuhr. Seine Sticheleien nahmen kein Ende. Fast alle Insassen nahmen in Worten Partei gegen mich. Nun verspürte ich zwar nicht die geringste Angst vor der wildgewordenen Meute, aber es war meine einzige Waffe, zu schweigen, das tat ich so ausgiebig, als wüsste ich überhaupt nicht, dass man über mich spektakelte. Der Fatzke rauchte eine Zigarette nach der anderen, er wurde immer nervöser. Ich zündete meine Pfeife an und dampfte in dicken Wolken. Ein Mann, der sich als einziger auffallend neutral verhalten hatte, nahm ebenfalls seine Pfeife zur Hand, um sie zu stopfen. Laut und deutlich sagte ich in holländischer Sprache folgende Worte, die ich mir vorher mühsam zurechtlegte: Wilt U mischien en betje Tabak van myn, Mynheer, het is heel goede hollandsche Tabak (mein Herr, darf ich Ihnen von meinem guten holländischen Tabak anbieten?). Damit reichte ich ihm eine Tabakpackung mit holländischer Aufschrift, die noch von der Roten Armee stammte. Höflich dankend reichte er mir, nachdem er seine Pfeife gestopft hatte, das Paket zurück. Der Tabak war wirklich gut, behaglich zog er an seiner Pfeife. Er wollte sich gern mit mir unterhalten, es ging aber nicht, ich war Holländer und er sprach nur deutsch. Die Gesellschaft geriet über die Verwandlung des Spartakisten in einen Holländer in ziemliche Verlegenheit.
Der Zug rollte immer weiter heraus aus den Fangarmen der Henker. Ich schlief ein. Als ich erwachte, stand der Zug bereits in Hannover. Dort ging ich auf dem Bahnsteig spazieren, bis das „Einsteigen" des Schaffners ertönte. Noch am Fenster im Gang stehend, wurde ich von einem Mann angesprochen. Der reinste Typ des Kriminalen stand vor mir. Die Mitreisenden, die mich als Holländer kennen gelernt hatten, waren nicht vom Bahnsteig fortgewesen, hatten auch mit niemand gesprochen, also war dieser Greifer von meiner neuen Nationalflagge noch nicht unterrichtet. Es bestand immerhin die Gefahr, dass er mir, wenn ich mich als Holländer vorstellte, meine Papiere abverlangte. Diese Gedanken durchzuckten in Sekunden mein Gehirn.
Mit harmlosen Dingen, so als spräche er mehr für sich selbst, versucht er, mich in ein Gespräch zu ziehen. — „Ist eigentlich für die Jahreszeit noch recht frisch so am Fenster, wenn der Zug fährt.
Ich glaube, wir kriegen überhaupt noch Regen heute, der wird wohl dann so ein paar Tage dauern." Ich erwidere mit demselben Phlegma: „Na, et kann ooch ruhig mal wieder rejnen, war doch janz jut det Wetter die letzten Dage." „Hier in Hannover war's nicht so hervorragend; aber Sie kommen wohl schon weit her? Das Wetter ist ja nicht überall gleich." Ihm zuvorkommend sage ich: „Aus 'n Ruhrjebiet, da is jetz wat los, det müssen Se doch schon jehört ham." — „Na eben! Da geht's wohl drunter und drüber?" Ich fürchtete, dass jemand aus meinem Abteil mich beobachten und uns in der deutschen Unterhaltung überraschen könnte, darum sagte ich: „Na und frachen Se nich wie, mir brummt der Schädel jetz noch; ick habe schon in Hannover een Kognak jetrunken; aber ick muss noch mal 'ne Flasche Selterwasser trinken." Langsam trolle ich zum Speisewagen, den Greifer in der Unterhaltung mitziehend. „Wat meinen Sie, wie da det Blut über die Straßen fließt." „Na nu, so schlimm?" „Ick weeß nich, wie Sie politisch stehn, aber ick sache Ihn', dagegen war die Spartakuswoche vorijet Jahr in'n Januar bei uns janischt." „Ach, Sie sind wohl Berliner? Ich höre es schon an der Sprache." „Wat mein'n Sie woll, wie viel Mann da mit Waffen rumjeloofen sind? Sind, — jetz is et natürlich aus. Schade, ick war extra von Berlin hinjefahren, um mitzukloppen." Ein leises zufriedenes Aufatmen bezeugte mir sehr deutlich, dass ihm mein Geständnis sehr wohl tat. — „Es ist aber manchmal wirklich auch zu stark, wie man mit den Arbeitern umspringt; — verdenken kann man es den Leuten nicht, wenn sie sich mal aufraffen." Im Speisewagen bei einer Flasche Seiter erzählte ich die ganze Geschichte der Roten Armee, man merkte, wie er interessiert staunte. Dass die Greifer sich in den Zügen aus dem Ruhrgebiet betätigen würden, war mir klar. Zwischen Gardelegen und Stendal bestellte ich zwei delikate Frühstücke, indem ich mit der letzten Löhnung von der Armee, ganz neuen Fünfmarkscheinen, fürchterlich prahlte.
Wie feixte der Klapsmann innerlich, dass ich mein Inkognito so ausgiebig lüftete. Er mag sich schon in Berlin auf dem Lehrter Bahnhof gesehen haben, wie er mich dort hinter Schloss und Riegel setzen würde. Das Frühstück war noch nicht halb verzehrt, als der Zug bremste. Stendal, Stendal. „Hier hält a doch en Ojenblick, wat?" Ich springe ans Fenster und rufe einen Vorübergehenden an: „Hallo, hält der Zug hier en Monement? Kann man mal raus, wat?" Zum Greifer: „Ick hole mal schnell ene Pulle Kognak, die werd'n wa nachher int Abteil valöten." Ihm ganz dicht ins Ohr flüsternd: „Hier drin is er viel zu deuer, in'n Wartesaal is er ville billjer." Damit verlasse ich den Speisewagen, gehe in mein Abteil, hole mein Gepäck und meine Mütze und laufe dicht unter den Fenstern des Zuges nach vorn etwa 300 Meter vor die Lokomotive, in den Schienen entlang, so dass man mich auch jetzt vom Zug aus nicht sehen kann. Mit meinem Jackett unter dem Arm, in Hemdsärmeln, vermutet man einen Bahnarbeiter. Der D-Zug rattert vorbei. Mein Gönner guckt mit langem Hals nach dem Bahnhof zurück. — „Hallo, hä, hier", rufe ich aus vollem Halse, „bezahl einstweilen das Frühstück und dann grüß den Polizeipräsidenten von mir, du Greifer, dämlicher, ick komm mit dem nächsten Zug nach." Vorbei saust der Zug. Ob er das Frühstück bezahlt hat?
Während ich in der Nacht im D-Zug saß, war auch mein lieber Freund, der Sozialdemokrat Brandenburg, auf Reisen gegangen. Allerdings etwas unfreiwillig. Das ist wohl anzunehmen, wenn jemand eine Autofahrt in eine andere Stadt macht und dabei nur mit Unterhose und Hemd bekleidet ist. Die Tangermünder Genossen wollten ihn dringend sprechen und hatten ihn in der Nacht um drei Uhr im Auto aus seiner Wohnung in Stendal abgeholt. Böse Zungen behaupten, sie wollten ihn in die Elbe schmeißen. Die zehn Kilometer Autofahrt dauerte keine Viertelstunde, das genügte dem Gast der Tangermünder Genossen nicht, um über sämtliche Sünden nachzudenken. Um ihm aber eine Gelegenheit zum Nachdenken zu geben, setzte man ihn noch ein paar Tage in einen Keller; ein Keller ist für alte hartgesottene Sünder der beste Platz, um über vollbrachte Großtaten kritisch nachzudenken. Um die Haut des geliebten Führers möglichst teuer zu verkaufen, verhaftete man in Stendal mehrere Kommunisten. Wenn ich nicht irre, verspürte man große Lust, auch mich für die Sicherheit Brandenburgs in Fesseln zu legen, aber ich glaube, diese Absicht wäre bei mir total ins Wasser gefallen. Ich hätte sie vielleicht mit dem Karabiner verjagt, das wird die Gesellschaft wohl herausgefühlt haben.
Ein Herr konnte sich die nächtliche Reise Brandenburgs ohne meine Mitwirkung nicht vorstellen, und das war der Polizeikommissar Treptow. Er bestellte mich aufs Büro. Es gibt keinen größeren Spaß, als einem neugierigen Polizeimann gegenüberzusitzen.
— „Guten Tag, Herr Turek!" — „Guten Tag, Herr Treptow!" — „Herr Turek, Sie wissen doch, was bei uns in Stendal heute nacht passiert ist? Die dumme Geschichte mit Herrn Brandenburg!" — „Ich habe davon erfahren." — „Was halten Sie von dieser Sache, Herr Turek? Das entspricht doch hoffentlich nicht Ihrer ehrlichen politischen Gesinnung." — „Ich habe mich ehrlich darüber gefreut."
— „Das ist mir immerhin etwas unverständlich; ich denke, eine derartige Methode einem politischen Gegner gegenüber ist nicht gerade als eine taktvolle zu bezeichnen." — „Eine Taktlosigkeit zieht die andere nach sich, Herr Kommissar." — „Es wird natürlich allgemein angenommen, Herr Turek, dass Sie bei der Geschichte die Hand mit im Spiele haben, ohne dass ich damit etwas Bestimmtes gesagt haben will." — „Leider nein, Herr Kommissar, ich bin gänzlich unbeteiligt, ich bin erst heute vormittag von Westfalen gekommen. Sie werden sich denken können, in welcher Mission ich dort tätig war; aber ich muss gleich bei der Gelegenheit einen Eid ablegen, dass mein Verhalten dort bereits durch die Regierungserklärung, wonach Straffreiheit dem zugesichert wird, der die Waffe bis zu dem in der Erklärung festgesetzten Datum niedergelegt hat, amnestiert ist." — „In dieser Angelegenheit habe ich Sie nicht rufen lassen, ich will nun fragen, ob Sie gewillt sind, Ihren Einfluss geltend zu machen, diesen bedauerlichen Zwischenfall abstellen zu helfen, damit Herr Brandenburg unversehrt nach Stendal zurückkehrt." — „Bedaure sehr, Herr Kommissar, ich habe bezüglich Herrn Brandenburg gar keine Hand frei." — „So, — dann ist unsere Besprechung erledigt."
Die bösen Zungen, die Brandenburg schon in der Elbe schwimmen ließen, sollten unrecht behalten. Wie so mancher Vater sein Kind nicht mehr schlagen kann, wenn es alle Untaten bereut und heilig und teuer verspricht, es nicht wieder zu tun, so waren auch die Tangermünder Genossen nachsichtig geworden und hatten Milde walten lassen. Brandenburg kehrte zurück, heil und unbeschädigt. Unkraut vergeht nicht.
Ich wollte meinen Handel nicht wieder beginnen; das Schachern lag mir nicht. Eintönig flossen die Tage dahin. Meinen Unterhalt verdiente ich bei meinem Vater in der Zigarrenfabrikation. Er war auf einen grünen Zweig gekommen, wie man zu sagen pflegt, hatte aus der Zeit vor dem Kriege einen Fabrikationsschein und daher die
Berechtigung zur Fabrikation während des Krieges. Rohtabak war damals knapp; wer den Fabrikationsschein nicht hatte, ging pleite, die anderen machten gute Geschäfte. Er hatte ein Grundstück gekauft, dazu gehörten zwei Morgen Ackerland. Auch sein Werkzeug hatte er vermehrt, so dass er Gesellen beschäftigen konnte. (Um dem Proleten die Illusion zu rauben, ein gewöhnlicher Sterblicher könnte von seiner Hände Arbeit reich werden, will ich an dieser Stelle anfügen, dass mein Vater heute arm ist wie eine Kirchenmaus, alles hat die Steuer gefressen. Die Inflation hat ihm sein Grundstück geraubt. Und weil er dem Staate 140,75 Mark Banderolensteuer nicht bezahlen konnte, musste er vom 20. Juli bis 3. August 1929 eine Haftstrafe abbüßen. Die namhaften großen Zigarettenfabriken schulden dem Staate Hunderte Millionen Steuern. Noch kein Direktor dieser Firmen hat brummen müssen. Ein 61jähriger ehrsamer Handwerker, der nur mühsam sein Gewerbe aufrechterhält, muss, so erfordert es in diesem Falle das Staatsinteresse, vierzehn Tage eingesperrt werden wegen 140,75 Mark. Das nennt man Gerechtigkeit.) Als nun etliche Wochen verflossen waren, hielt ich es in der Enge der Werkstube nicht mehr aus. Es zog mich sehr nach dem Ruhrgebiet; die gewaltigen Industrieanlagen, das wogende Heer der Proletarier, das ist Leben, Bewegung. Mit einem Jugend- und Parteigenossen, namens Otto Basel, fuhr ich Anfang Juni nach Dortmund. Wir hatten so wenig Geld, dass wir ohne Arbeit keine drei Tage leben konnten. Wie fleißige Bienen summten und brummten wir in der Stadt umher nach Arbeit. Überall vergebens. Einen ganzen Tag, von morgens bis abends, immer abgewiesen, an manchen Stellen wegen „Unbefugten Betretens der Werksanlagen" barsch hinausgeworfen, angeschnauzt, vertröstet auf morgen, übermorgen, nächste Woche. Alles, jede nur denkbare Möglichkeit zur Arbeit wird untersucht, nachgefragt, vergebens. Todmüde wird noch ein Weg gemacht, zum Eisen- und Stahlwerk Hösch. Der Portier verspricht uns, wenn wir morgen sehr früh zur Stelle wären, könnten wir Glück haben, die Abteilung Steinfabrik hat Leute angefordert, sehr schwere Arbeit, Quarz abladen. Wir fragten, wann wir denn morgen erscheinen müssten. „So früh wie möglich, sehr lange vor Arbeitsanfang." Wir sind wirklich lange vor Arbeitsanfang dort und man stellt uns ein. Am anderen Tag können wir anfangen. Halbtot infolge der durchwachten Nacht auf dem Bahnhof, beginnt nun ein zweites Rennen, nicht leichter als das erste. Wenn auch ein Misserfolg nicht so deprimierend wirkt, so kann er doch zum Verhängnis werden, denn eine richtige Nachtruhe ist unbedingt erforderlich, um auf die Dauer schwere Arbeit zu leisten. Straßenweise, ohne einen sonstigen Anhalt, klopfen wir die Häuser ab. Unsere immer wiederkehrende Frage lautet: „Wissen Sie vielleicht zufällig, ob hier im Hause jemand vermietet?" Viele Hinweise bekommt man, doch letzten Endes verläuft alles ins Nichts. Fünf bis sechs Stunden dauert das Rennen, mein Genosse will den Kampf aufgeben. „Noch eine Stunde, Otto, es hilft doch nichts, wir sind geplatzt ohne Bleibe." Da stehen wir in der Enscheder Straße Nr. 5, aus einem anderen Hause hat man uns hingewiesen: „Wischnowski", so lautet das Türschild, wo wir unser Glück probieren wollen. Frau Wischnowski ist eine alte Polin mit sehr schlechten deutschen Sprachkenntnissen.
Wer das Ruhrgebiet nicht aus eigener Anschauung kennt, wird vielleicht noch nicht wissen, dass dort sehr viel Polen wohnen. Und zwar soviel, dass mehrere polnische Zeitungen existieren können. Es gibt in allen großen Städten des Ruhrgebietes ganze Straßen, wo vorwiegend Polen wohnen.
Bei Tante Wischnowski zogen wir ein. Wie atmeten wir auf: Arbeit und Wohnung! Gleich ging's zum Bahnhof, um die wenigen Habseligkeiten zu holen. Aus zwei Räumen besteht die Wohnung der Frau Wischnowski, der Küche mit einem Bett und einer Schlafstube mit drei Betten. Ein Enkel von siebzehn Jahren, Stanislaus, schläft im dritten Bett. Den Wandschmuck der Wohnung bilden achtzehn Heiligenbilder. Auf welche Wand man auch blickt, überall hängt der gekreuzigte Jesus. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die alte Frau täglich von morgens bis abends in der Kirche saß. Ein ewiger gehässiger Streit wurde zwischen ihr und Stanislaus geführt. Die Alte versuchte, ihre katholische Lebensweise auch dem Stach (Abkürzung für Stanislaus) aufzuzwingen, dieser jedoch kämpfte mit Lug und Trug und Frechheit dagegen an. Die Formen, die dieser Kampf manchmal annahm, steigerten sich bis zum Drama; mit dem Beil drohte man sich gegenseitig. Jede, auch die kleinste Handlung des Stach bedachte die Alte mit einer äußerst stachligen Kritik. Frühmorgens lief sie schon in die Kirche, dann wieder nach dem Frühstück bis kurz vor Mittag. Richtiges Essen zu kochen, hatte sie keine Zeit. Mehlsuppe, Pellkartoffeln, Kartoffelsalat, oder vielfach überhaupt nur grüner Salat bildeten die Hauptmahlzeiten. Des Nachmittags ging sie wieder in die Kirche und abends noch mal. Ich habe sie einmal gefragt, was sie dort mache? Da wurde sie hundsgemein. Sie schickte uns einen Pfaffen auf den Hals, der sich einen gehörigen Schnupfen bei uns holte, worüber sich der Stach unbändig freute, die Alte sich aber grün und blau ärgerte. Sie hatte Stunden, wo sie sich über uns gottlose Kerle fast selber verzehrte, vor Ärger. Nie habe ich die Frau lachen sehen, nicht einmal lächeln, stets lief sie mit einer griesgrämigen Miene einher. Die Pfaffen hatten ihr den Auftrag erteilt, auf uns und insbesondere auf Stach im Sinne eines frommen Katholiken einzuwirken, darum ihr fürchterlicher Zorn, dass sie auf diesem Gebiete überhaupt keine Erfolge hatte. Es war nicht möglich, auch nur zehn Worte an sie zu richten, ohne dabei als gottloser Mensch, Teufel oder sonst irgendein unkatholisches Wesen hingestellt zu werden. Die Alte gab Spaß.
Die Arbeit auf dem Stahlwerk war ungemein schwer. Aus Waggons wurde Quarz auf große Halden geladen. Von den Waggons bis zum Stapelplatz wurde eine schwere Bohle gelegt und darauf die Quarzblöcke transportiert. Quarz kommt aus den Steinbrüchen in Stücken von zwei Zentnern abwärts bis zur Pflastersteingröße. Als Rest eines leeren Waggons bleibt noch kleiner Schutt übrig. Die Steine sind scharf und eckig. Wenn man den ganzen Tag mit den schweren, kantigen Steinen auf der Bohle herumgeturnt hat, weiß man am Abend, was man tagsüber gemacht hat.
Das Eisen- und Stahlwerk Hösch ist eine gewaltige Industrieanlage. Etwa dreißig große Schornsteine atmen ihren Rauch aus. Aus der Abteilung „Martinswerk" speien Spezialschmelzöfen ihren Funkenregen zum Himmel. In mehreren modernst eingerichteten Hochöfen, ich glaube, es sind sieben, kocht das Eisen, mischt sich ein dicker Strom glühendflüssiger Schlacke mit Wasser und dort brodelt's, zischt's, gurgelt's, dort sprühen Dämpfe mit donnerartigem Getöse, dass der ängstliche Neuling, dem es meistens zum Ausreißen zumute ist, nicht begreift, Woher die Männer mit den schwarzen Augen, die nicht mehr von dieser Welt zu sein scheinen, mit den klobigen, mit Sackleinen umwickelten Beinen, die Kraft nehmen, in diesem dauernden Vulkanausbruch auszuhalten. Giftige Dämpfe durchziehen das gigantische Werk. Vom Portier bis zu meiner Arbeitsstelle habe ich fünfzehn Minuten über Schienen hinweg und unter Drahtseilbahnen hindurch zu gehen, und das ist noch nicht die ganze Länge des Werkes. Eine Kokerei mit Hunderten von Retorten liegt meinem Arbeitsplatze gegenüber. Kommt der Wind von dort, müssen wir im Qualm fast ersticken. Berge weißglühenden Kokses werden von halbnackten Männern mit Wasser bespritzt. Du gehst in respektabler Entfernung vorbei und wendest dein Gesicht ab, weil du das Gefühl hast, als verschmore deine Haut. Wie ist es möglich, dass diese Menschen dort unten nicht bei lebendigem Leibe verbrennen?
Drüben tanzt auf hohem eisernen Gerüst ein großes Rad, darauf führt ein dünner Faden, der geht in einen schwarzen Schlund viele hundert Meter tief in die Erde. Es ist die Förderanlage „Kaiserstuhl", zum Werk gehörig. Kaiserstuhl, — schlechter Name. Zu jedem Schichtwechsel hängt dort an diesem Faden das Leben der Kumpel. Einige Zeit später, 1921, riss dieser Zwirnsfaden, zwanzig Mann sausten in die Tiefe, um unten mit zerschmetterten Knochen zu landen. Tot! — „Seilbruch!" berichtet die Direktion.
Dort am Schacht sah ich an einem Morgen eine Frau sitzen, ich weiß heute noch nicht, in welcher Absicht sie dort saß. Als wollte sie hinunter, dort, wo kalte Grabesluft herausströmte. Ihr Gesicht war der Gram und Schmerz selber. Ich stand höchstens drei Meter von ihr entfernt, sie musste mich bemerkt haben; unverwandt senkten sich ihre Augen in den Schacht. Diese Frau, sitzend auf einem Holzklotz, strahlte einen Heiligenschein von sich, denn niemand wagte sie anzusprechen.
Unsere Arbeit auf dem Platz war zu Ende, und wir wurden bei der Röhrenfabrikation aller Kaliber beschäftigt. Wenn der Quarz gebrannt ist, wird er gemahlen und mit Ton vermischt. Das gibt eine klebrige, zähe Masse, die es gestattet, alle Steine, Röhren, Halbröhren usw. daraus zu formen. An unserer Röhrenpresse hieß es arbeiten, dass der Schweiß in Strömen floss. Wir wechselten ab, einmal legte der eine die Masse in die Maschine, während ein anderer die Röhren abhob, die wie bei einer Wurstmaschine herausgepresst wurden. Der dritte hatte den schwersten Posten. Er legte die Röhre in die Form und hatte, ähnlich einem Rammer bei den Straßenpflasterern, mit mehreren wuchtigen Schlägen die halbfertige Röhre in die endgültige Form zu rammen. Mit einer Mischung von Benzol und Öl schmierte man die Form aus, was sehr häufig geschehen musste, da der Rammer sonst die Röhre aus der Form wieder herauszog. Den beizenden Geruch von Benzol und Öl, das bei der Temperatur, die im Ofenhaus meist über dreißig Grad betrug, sehr schnell verdunstete, in Augen und Nase aushalten und mit dem schweren Rammklotz in gebückter Haltung eine Stunde arbeiten, bis der Röhrenabnehmer ablöst, das will etwas heißen. Hose und Hemd sind nass wie ein Waschlappen, das Herz und die Lunge gehen wie ein Zweitaktmotor. Ton- und Steinstaub machen die Luft fast undurchsichtig, dabei ist der Steinstaub für die Lunge sehr gefährlich.
Die Abteilung „Steinfabrik" beschäftigte 350 Arbeiter. Über hundert Arten Steine und Röhren wurden hergestellt. Wir arbeiteten nur für den Bedarf des Werkes selbst. In den Ofenkammern setzte man die Steine oder Röhren, nachdem sie vorher einige Zeit an der Luft getrocknet waren, hoch geschichtet auf. Dann wurde Heizmaterial hineingeschafft, entzündet und der Eingang zur Kammer zugemauert. Durch eine Röhre von nur wenigen Zentimetern Durchmesser blickt man in den Ofen hinein, gerade auf einen Porzellanstab. Erst wenn dieser Stab, der mit dem Feuer nicht unmittelbar in Berührung kommt, abgeschmolzen ist, sind die Steine oder Röhren richtig durchgebrannt. Der vermauerte Eingang wird geöffnet und die Kammer glüht langsam aus. Dieser Vorgang dauert mehrere Tage. Bei vierzig bis fünfzig Grad wird der Ofen geleert. Man kommt sich dabei vor wie in einer Bratpfanne. Natürlich sind die gebrannten Stücke noch so heiß, dass man sie nur mit Handschutz anfassen kann. Heraus kommt man mit triefendnassem Körper, hämmernden Schläfen, voller Verwünschungen und mordsmäßiger Flüche. Warum immer wieder in diesen Backofen hineinkriechen? Mein Freund Bäsel ist in den zwei Monaten schon fast fertig. Ich selber habe verdammt wenig Lust, das Eisen- und Stahlwerk Hösch noch länger mit meinem Schweiß zu tränken.
Wie sie sich hierin alle gleichen! Fragt alle Höschproleten, die den wirklichen Produktionsprozess besorgen, ob sie Lust haben zur Arbeit, ob sie nicht einen Wunsch verborgen tragen, der Erlösung ist, Erlösung aus der unendlich schweren Fron!? — „Gottverdammte Scheiße" — jeden Tag zwölfdutzendmal sagt Jupp diese zwei ehrlichgemeinten Worte zu seiner Drehscheibe, die nicht funktioniert, wo der Steintransport die Kraft eines Ochsen erfordert, um über diesen toten Punkt hinwegzukommen. — „Hundemist, verfluchter!" — wettert Hannes, wenn sich beim Heben eines großen Quarzblockes seine Sehnen bis zum Zerreißen spannen. Sie alle fühlen das Unerträgliche ihres Proletendaseins, aber es ist unabwendbar, solange sie sich nicht neben dem Schimpfen und Fluchen eine wirksamere Art Kritik zulegen, eine revolutionäre Weltanschauung, mit dem festen Willen zur Tat! In der höchsten Not und Bedrängnis, wenn ihn der Senf packt und kein Ausweg mehr zu finden ist, haut der Prolet „in den Sack". Das nützt nichts!
Tünnes und Jupp, de arbeiten beide bi Krupp. Bi Krupp, da war es beschissen, Da gingen sie beide nach Thyssen. Bi Thyssen, da hörten se upp Und gingen wieder nach Krupp!
Es gibt Schlaue, die versuchen es, mit Nebenbeschäftigung eine bestimmte Summe Geld zusammenzukratzen, damit sie „etwas anfangen können." Wo es gelingt, dient es Hunderten zum Ansporn, um Bekanntschaft mit dem Pleitegeier zu machen. (In Gelsenkirchen kannte ich einen Bergmann, der hatte durch Nebenbeschäftigung soviel erschuftet, dass er sich ein Grundstück mit etwas Acker kaufen konnte. Als er diesen Segen ein Jahr genossen hatte, starb er an Schwindsucht als Folge von Überarbeitung. Seine Frau und Kinder gerieten in Not und Schulden.) — Viele spielen Lotterie und „leben" von der Hoffnung. Mir kommt das vor, als wenn ihnen der Wind das Geld vom Fenster geblasen hat und sie warten, bis er es wiederbringt. Andere wetten auf Pferderennen und gewinnen auch manchmal, d. h. nachdem sie genügend verspielt haben. Andere wieder züchten Kanarienvögel, Brieftauben oder Karnickel. Manche wieder vermieten an Kostgänger und lassen die Kinder in der Küche schlafen. Geschäftstüchtige handeln nach Feierabend in Kneipen und Bahnhöfen mit Heftpflaster, Schnürsenkeln, Kragenknöpfen und wer weiß was noch. Talentierte, die sich berufen fühlen, den Unterschied zwischen arm und reich auf ihre Art auszugleichen, trainieren sich im Langefingermachen, doch meistens langt's nur für die schwedische Gardinenspannerei. Ganz Verwegene trinken Helles und, wenn „das" immer noch nicht hilft, Kognak oder Nordhäuser.

 

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