Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Ludwig Turek - Ein Prolet erzählt (1930)
http://nemesis.marxists.org

Noch so jung und doch schon so verhungert

Am 28. August 1898, an einem Sonntagabend, erblickte ich zum ersten Mal das Licht. Es war das Licht einer alten Petroleumlampe. Ich glaube, meine Mutter hatte zu dieser Geburt an einem Werktage keine Zeit. Auch der Umstand, dass ich nicht, wie die meisten Menschen unserer Zone, in einem Bett, sondern auf kahlen Dielenbrettern neben einer uralten Kommode geboren wurde, spricht dafür, dass meine Mutter auf das Ereignis keinen großen Wert legte. Es ist auch nicht anzunehmen, sie habe mich aus Aberglauben an einem Sonntag auf diesen Planeten gesetzt, um mich den Glücksgöttern als Sonntagskind zu empfehlen; das wäre Gotteslästerung gewesen, ich hatte nämlich vor der Geburt schon riesiges Pech gehabt. Fünf Monate früher, am 31. März, war mein Vater gestorben, und das einzige, was er meiner Mutter hinterlassen hatte, war — ich. Herzlich wenig für die Tochter eines Bauarbeiters, der schon in seiner Jugend einen Hering mit sieben Geschwistern teilen musste. Lange wollte sich meine Mutter durch mich nicht von ihrer Arbeit abhalten lassen, und so strich sie am Ende meiner ersten Lebenswoche von der Frima „Bertram, Sämereien en gros" in Stendal doch noch den Lohn für einen Arbeitstag ein.
Mein Großvater soll damals zu meiner Mutter gesagt haben, seine Frau sei immer schon am dritten Tag nach einer Geburt wieder „ins Heu" gegangen. Das war natürlich geschwindelt, denn bei Bismarcks in Schönhausen, wo meine Urgroßeltern mütterlicherseits wohnten, ist der erste Schnitt im Juni und der zweite im August-September, und dann geht man bis zum nächsten Sommer nicht wieder ins Heu. Und ich weiß, dass ein Onkel von mir seinen Geburtstag mit furchtbarem Klamauk am 27. Januar feierte.
Ü berhaupt nahm es mein Großvater mit der Wahrheit nicht so genau. Das brachte ihm auch den Spitznamen: Pastor-Müller ein.
Er hatte aber noch einen anderen Namen bekommen: die letzten Jahre vor seinem Tode hieß er Rentier-Müller. 1916 ging es infolge der Kriegsschweinerei mit seiner Gesundheit schnell zu Ende. Er konnte wegen des ewigen Kohldampfs nicht mehr arbeiten. Die Leute fragten ihn, warum er nicht arbeite, und er schwindelte kräftig drauflos, „er habe es jetzt geschafft und wolle nun als Rentier leben". Und während ich in Magdeburg auf dem Anger mit einer 10,5 cm-Steilfeuerhaubitze durch den Sand ackerte und bei: „Kanoniere in die Räder!" den Schweiß literweise durch sämtliche achtzehn Flicken meiner Drillichhose schwitzte, verhungerte in Stendal, 60 km nördlicher, langsam aber sicher mein Großvater. Im Herbst wurde er begraben.
Von meinem Vater weiß ich sehr wenig zu sagen. Als Schlosser kam er aus dem Osten zugereist, arbeitete in Magdeburg bei „Gruson", lernte meine Mutter kennen, siedelte nach Stendal über und baute bei „L. C. Arnold" Eisenmöbel in Akkord. Er ist nach den Reden meiner Mutter ein fleißiger Mann gewesen. 10 Stunden und mehr Schufterei in dem Arnoldschen Sanatorium für Schwindsüchtige und solche, die es werden wollen; dann Gartenbau und Kleintierzucht; Schuhe besohlen für Kundschaft usw. Daraus musste todsicher etwas „herausspringen". Jawohl, es sprang etwas heraus; aber nicht der ersehnte Wohlstand, sondern eine Lungenschwindsucht.
Die Jahre bis zur Wiederverheiratung meiner Mutter müssen für mich sehr hart gewesen sein. Meine Mutter arbeitete; eine alte gichtkranke Frau war meine Wärterin. Unzählige Mal wurde ich der Polizei als vermisst gemeldet. Meinen neuen Vater lernte ich mit 3 Jahren kennen. Seiner ersten Versuche, mir verwildertem Lümmel einige Manieren beizubringen, kann ich mich noch dunkel entsinnen. Mein Stiefvater war Zigarrenmacher, und diese gehören zu den aufgeklärtesten Arbeitern. Der Kampf, den der Klassenbewusste Arbeiter damals gegen die verspießte Umwelt, gegen die fest verwurzelte Clique um Magistrat und Polizei führte, war unglaublich mühsam. Die Altmark gilt noch heute als schwarzer Winkel, und so mancher Tapfere hat hier für langwierige zähe Arbeit nur die geringsten Erfolge buchen können.
Wahrscheinlich verlangte es meinen Vater nach einer freieren Luft; er siedelte bald nach Hamburg über, wo er bei einer Zigarrenfabrik als Heimarbeiter eine Anstellung fand. Trotz meinen 7 Jahren hieß es hier fest zupacken. Das war für mich eine wahre Qual und lief meinem Plan, recht viel im Hafen herumzustrolchen, zuwider. Ein Grauen kroch mir den Rücken herauf, wenn mein Vater mit weitgespreizten Fingern in die Tabakkiste griff und gelassen sagte, als wolle er damit die Geringfügigkeit der Arbeit beweisen: „Wenn das fertig ist, hast du Feierabend." Aber aus Erfahrung wusste ich, erstens: dass dieser riesige Blätterhaufen, der zu „strippen" war („strippen" heißt die Mittelrippe aus jedem einzelnen Tabaksblatt herausziehen), bei sehr flotter Arbeit nur noch höchstens zwei Stunden Spielzeit bis zum Abendessen übrigließ, zweitens: dass mein neuer Vater in nichts unzuverlässiger war als im Halten seines Versprechens. Meist gab es, nach anfänglich erteiltem Pensum, noch etwas zu tun. Es war ein stetiger Kampf zwischen uns. War der Haufen zu groß und auch bei intensivster Arbeit keine Aussicht vorhanden, noch etwas freie Zeit herauszuschlagen, so brachte ich etliche Kniffe in Anwendung, um das ersehnte Ziel doch noch zu erreichen. Ging mein Vater für einen Moment aus dem Arbeitszimmer, so packte ich einen Teil wieder zurück in die Kiste, schüttelte den Haufen aber kräftig auf, damit er dieselbe Größe behielt. Eine Stunde oder mehr war für mich gewonnen. Oder ich pfuschte wild drauf los, wenn sich die Möglichkeit bot, die gestrippten Blätter unter die von meiner Mutter gestrippten zu mischen, um den Pfusch meiner Mutter anzuhängen.
Es scheint bei den schlechtbezahlten Heimarbeitern die Notwendigkeit vorzuliegen, von dem anvertrauten Material etwas zu verschieben. Je nachdem es gelang, bei der Abrechnung, das Gewichtsmanko zu decken, konnten in der Woche, bei 2500 bis 3000 Zigarren, 100 oder mehr verschoben werden. Eines Tages war der Krach da, der Fabrikant gab keinen neuen Tabak und meine Heimarbeit war vorläufig zu Ende.
Mein Vater und meine Mutter gingen nun beide außer Haus arbeiten. Das war für mich eine herrliche Zeit. An einem Bindfaden hing um meinen Hals der Wohnungsschlüssel, und nach der Schule stob ich ins Freie. Fast jeden Tag führte mein Weg zum Hafen. Unwiderstehlich zog es mich dorthin, das Schuhwerk ging dabei zum Teufel, denn von Wandsbek hin und zurück sind es etliche Kilometer, aber es lohnte sich doch, denn nicht selten gab es irgendwo irgendwas zu erwischen. Natürlich steckten es einem die guten Hamburger nicht selbst in die Taschen, man musste auch etwas dazu tun. Ich lernte von anderen ungeheuer viel hinzu. An den verbotenen Stellen war das meiste zu holen. Dieses Prinzip trug uns (wir arbeiteten selten allein in dieser Branche) den Neid aller möglichen Beamten zu.
Einmal saß unsere Kolonne oben am Bismarckdenkmal, wir verzehrten soeben gemeinsam eine Kiste „Ia prima Fettbücklinge" und ein Weißbrot. Durch den Geruch dieser Delikatessen angelockt, erschien bald ein Schutzmann. Trotzdem wir die Bücklingsschalen fein säuberlich in die Kiste zurücklegten, donnerte uns ein scharfes Kommando: „Mal sofort verduften mit der Schweinerei hier!" entgegen. Jeder Befehl ist heilig, wenigstens was das Verduften anbelangt. „Halt, die Kiste hierher", lautete der weitere Befehl. Dem Polizeimann war das Wasser im Munde zusammengelaufen beim Anblick unserer guten Fettbücklinge; er schluckte es deutlich hinunter und sagte kameradschaftlich: „Kinder, seid vernünftig und gebt die Bücklinge her." „Ne, de könnt Se nich äten, de sünt geklaut", war unsere Antwort, und ab ging es in Richtung Reeperbahn. Fast täglich stand ich Punkt 6 Uhr abends bei „Reichard, Schokoladenfabrik, Wandsbek". Der Weg bis zur Volksdorfer Straße reichte bequem aus, um die von meiner Mutter durch die Kontrolle geschmuggelte Schokolade zu verzehren.
In Hamburg war es nicht möglich, einen ausreichenden Verdienst zu erlangen, darum verzogen wir nach Geestemünde. Dort wohnte ein Bruder meiner Mutter. Arbeiter. Fünf Kinder: Karl, Heini, Sophie, Tilly, Hermann, in einer elenden, verräucherten Küche um einen Riesentopf mit Pellkartoffeln versammelt, in der Pfanne für 10 Pfennig Speck, nach dem lukullischen Mahle alle in 3 Betten verschwindend, damit das teuere Petroleum nicht unnütz verbrennt, — das ist die Familie Baake. Die ersten Tage wohnten wir dort, das war ein tolles Durcheinander. Kurz vor der Abreise von Hamburg war mein Bruder Hans geboren worden. Auch eins von den Baakes war noch sehr klein, also waren zwei Schreihälse da. Ich weiß noch heute, wie verhungert die ganze Familie war. Die Mahlzeiten bekamen oft einen dramatischen Anstrich. Unter den Kindern wachte eins streng aufs andere, dass jedes genau den gleichen Teil bekam. Um den Knochen, der selbstverständlich schon ohne Fleisch ins Haus gekommen war, kam es dann zu einer wütenden Schlägerei. Der Küchenschrank, fest verschlossen, war einmal gewaltsam erbrochen worden; da der Vater am Abend vergeblich nach dem Täter forschte, nahm er sich die drei ältesten über das Knie, mit dem Leibriemen gab es eine Tracht Prügel und als Zusatzstrafe kein Abendbrot.
In der Mainzer Straße hatte mein Vater eine 4-Zimmerwohnung gemietet, nicht zu groß zum Wohnen, wohl aber zum Bezahlen. Nach drei Monaten übersiedelten wir wegen Mietschulden in die Grüne Straße. Dort ging die Heimarbeit wieder los. Ich muss meinen Vater noch heute bewundern, wie er in diesen Verhältnissen die Energie aufbrachte zu solcher ausdauernden Arbeit. Nie ging er vor 12 Uhr nachts schlafen. Meine Mutter desgleichen, und für mich gab es keine Freizeit mehr. Der Arbeitsraum war entsetzlich eng. Mein kleiner Bruder Hans saß den ganzen Tag in dem dunstigen Raum. Es war wirklich kein Wunder, dass er kurze Zeit darauf diese schäbige Welt wieder verließ. Das war sehr schlau gehandelt, wie mein
Vater damals sagte.
Auch diese Stellung wurde bald wieder geräumt. Nun ging’s nach Leherheide, etwa 10 km nördlich von Geestemünde gelegen. Ein Dorf, längs einer Straße gebaut, mit vielen neuen Häusern. In einem von diesen hatten wir unser Quartier aufgeschlagen. Obgleich von hier bis zum Fischereihafen mindestens 3 Stunden zu laufen war, musste ich doch mit einem Korb dorthin, um für 10 Pfennig Abfallfische zu holen. Spät abends langte ich an solchen Tagen todmüde zu Hause an.
Eine Seltenheit ist mir von Leherheide noch in Erinnerung. Es gab dort einen riesenhaften Schuttabladeplatz. Als Spezialität lagen hier unzählige alte Stiefel umher, soviel, dass wir wochenlang jeden Tag einen großen Sack davon sammeln konnten. Die Stiefel gaben das Heizmaterial für die Küche ab. So ein Schutthaufen hat es in sich, darum muss man mit einer Hacke kräftig arbeiten, um die verborgenen Schätze zu heben. Wie beim Bergbau, so gibt es auch hier so etwas wie Flöze und Schichten, die mehr oder weniger wertvoll sind. Allmählich sammelt man Erfahrungen und weiß schon auf den ersten Blick, ob sich der Abbau lohnt oder nicht. Da gibt es zum Beispiel Haushaltungsschutt, aus dem sich günstigenfalls ein Knochen herausholen lässt. Besser ist schon der Schutt von Kleingewerbetreibenden. Je nach der Branche ist es hier möglich, Eisen, Zink, Messing, Kupferdraht (dieser ist meistens isoliert) oder Blei zu finden. Alles ist vielfach als solches kaum zu erkennen; es gehört ein scharfes, geübtes Auge dazu. Sogar der Geruch spielt eine Rolle. Schutt aus einer Schlosserei riecht anders als der aus einer Klempnerei. Hat man eine ergiebige Ader entdeckt, heißt es, sie gründlich ausbeuten; man muss darauf achten, dass beim Hacken und Kratzen der wertlose Schutt nicht mit dem wertvollen vermischt wird, — das erschwert die Arbeit wesentlich. Hinzu kommt noch bei starkbevölkerten Plätzen die Konkurrenz, der man standhalten muss. Ist eine günstige Stelle schon öfter durchwühlt, so ist es zwecklos, den Schutt, wenn er auch viel versprechend aussieht, nochmals vorzunehmen. Es gibt hier auch Spezialisten; manche lassen Lumpen und Knochen unbeachtet, viele wollen sich mit Eisen nicht beschweren; andere wieder nehmen alles, auch die wertlosesten Dinge, wie Fassreifen, Regenschirme, Konservenbüchsen, Draht, Sacklumpen, Restteile von Matratzen, verzinkte Eimer usw. mit. Zusammengenommen lässt sich trotz mühsamer Arbeit nicht viel herausschlagen.
Mein Vater hatte sein Handwerk einstweilen an den Nagel gehängt; er arbeitete beim Bau des neuen Kaiserhafens in Bremerhaven. Vielleicht war dies der Grund für einen abermaligen Umzug. Nach Lehe, Wursterstraße 4, einer uralten Baracke, ging diesmal die Reise. Der Umzug vollzog sich bei lausigem Schneewetter. Die wenigen „Möbel", die infolge des ewigen Umziehens ohnehin nicht mehr neu aussahen, bekamen hier den Rest.
An dem Hafen wurde mit Hochdruck gearbeitet, Tag- und Nachtschicht. Bei der Tagschicht musste ich meinem Vater das Essen bringen. Das bedeutete meine Einführung am Kaiserhafen in ähnliche Funktionen wie in Hamburg.
Inzwischen war ich 11 Jahre geworden. Zu meinen Obliegenheiten gehörte auch, den Haushalt mit Heizstoff zu versorgen. Dreimal in der Woche zog ich mit anderen Armeleutekindern los, um dem „Norddeutschen Lloyd" 1/4 Zentner Bunkerkohlen „abzukaufen". Zollbeamte und Hafenbeamte waren gegen diesen Handel. Die Kohlen wurden jedoch dringend benötigt, und so ging der Schmuggel los. Des Abends flitzten wir Knirpse unsichtbar über die Zollgrenze; den Sack sorgfältig um den Leib gewickelt, schlängelten wir uns vorsichtig vorwärts. Kam ein Feind in Sicht, galt es entschlossen zu handeln. Entweder wurde scheinbar der Rückzug angetreten, oder man brach — war das Gelände sonst sauber — einfach durch. Diese letzte Methode brachte den Ordnungshüter jedes Mal in große Wut. Er hopste nervös nach links und rechts, um einen von uns zu erwischen, aber das kam selten vor. Ich selber bin stets mit solcher Sicherheit an diese Situationen herangegangen, dass ich mir bald das größte Vertrauen bei meinen Kollegen erwarb. Überhaupt, unsere Kolonne war eine auserwählte: ausgeschwärmt, 6 bis 8 Mann, stürzten wir dem verblüfften „Putz" in scharfem Tempo entgegen. Die zwei Tüchtigsten und Verwegensten gerade auf den Kerl zu; im letzten Moment stoppten beide ab und jagten links und rechts an ihm vorbei. Hinterherlaufen war vergebens, wir waren die schnelleren. Nun wusste aber der „Putz" sehr wohl, um was es sich drehte, und hatte er noch Lust, folgte er langsam nach zu den Bunkern. Deren gab es an verschiedenen Orten mehrere. Wollte es der Zufall und entdeckte uns der Störenfried auf den großen Bunkern, so war ihm damit noch lange nicht geholfen, denn es wurden immer nur volle Bunker aufgesucht. Wir saßen dann oben auf den Kohlen. Heraufkrabbeln und den vergeblichen Versuch machen, jemand da oben zu erhaschen, ist niemals einem „Putz" eingefallen. Wir haben oftmals stundenlang oben auf den Kohlen gesessen, wenn wir die Genugtuung hatten, dass unten auch gewartet wurde.
Allerdings kann ich mich eines Falls entsinnen, wo uns von mehreren Schutzleuten unten am Bunker aufgelauert wurde. Wir rochen Lunte und berieten oben, was zu tun sei. Mit Kohlen abzukommen war ausgeschlossen, die schon gefüllten Säcke wurden ausgeschüttet. Ich rutschte Patrouille und stellte fest, dass mindestens 6 Schutzleute sich die Aufgabe gestellt hatten, uns endgültig zu erledigen. Nach der Hafenseite wegzukommen war sehr gewagt, denn die Beleuchtung ließ dies nicht zu. Unser Plan war fertig. Wir legten handfeste Brocken Kohle zurecht und eröffneten mit 5 Mann von oben ein mörderliches Feuer auf die dunkelste Seite, die Rückseite des Bunkers. Anfangs rührte sich nichts, aber sehr bald gab es Bewegung da unten. Uns war klar, die Seite war vorläufig frei. Wie verabredet, rutschten 2 Mann blitzschnell hinunter, während wir 5 an den Ecken des Bunkers die Kohlenstücke nur so prasseln ließen. Die zwei kamen durch, an der Zollgrenze leuchteten kurz hintereinander 2 Streichhölzer auf. Dasselbe Manöver wiederholte sich, diesmal kamen .3 Mann durch.
Jetzt erst merkten die Belagerer den Trick, und wir zwei Zurückgebliebenen hörten deutlich die Verfolger hinterhersetzen, laut fluchend über die Frechheit mit dem Schmeißen.
Zu unserem Erstaunen ging die Verfolgung lange Zeit fort. Unsere Kollegen mussten jedenfalls bald auf die Zollgrenze stoßen; dort hieß es, das Hindernis hemmungslos nehmen, oder man geriet, falls die Beamten nicht den genügenden Abstand hatten, in eine ganz verfängliche Lage. Die Zollgrenze bildete ein 3 Meter hoher Lattenzaun, der infolge seiner Dreieckslatten sehr schwer zu ersteigen war. Die drei aufflammenden Streichhölzer blieben aus.
Um den Bunker herum unheimliche Ruhe. Der „George Washington" lag gegenüber am Kai, von dort her jammerte ein Hund. Irgendwo pfiff ein Schlepper durch die Nacht. Wir zwei lagen platt auf den Kohlen, ohne ein Wort zu verlieren. Allmählich schlich sich ein Gefühl des Verlassenseins bei uns ein, wir stiegen hinunter von unserer schwarzen Burg. Auf halbem Wege machte mein Freund halt. „Wollt wi Kohle mit nahm?!" „Jeau Hein!" „Min Modder häd ken Stück mehr to Hus!" Geräuschlos füllten wir unsere Säcke. Links an der Straßenbahn hängend ging's aus dem Hafengebiet heraus. Der Führer musste uns entdeckt haben, er sah in unsere schwarzen Gesichter, wir sagten nichts und sagten doch viel. Vorsichtig fuhr er durch die Kurven. Zu Hause angekommen, konnten wir erfahren, dass alle entwischt waren. Das große Unternehmen der Polizei war also gründlich ins Wasser gefallen. Der Kampf ging noch lange weiter.
Vom Zementtragen kann man, wenn man die Arbeit nicht gewöhnt ist, wunde Schultern bekommen. Für meinen Vater war die Arbeit ungewohnt, daher bekam er sehr wunde Schultern. Nach dem Krankmelden folgte die Arbeitslosigkeit und in diese mitten hinein die Geburt meiner Schwester Lissi.
Unser „Ernährer" tippelte nach Bremen und fand dort als Zigarrenmacher Arbeit. Die Früchte dieser „Existenz" langten bei uns zu Hause in Gestalt von Postanweisungen auf 3, 4, höchstens 7 Mark an. Das langte nicht, die Betten von der Pfandleihe zurückzuholen, ohne gleichzeitig dafür den größten Kohldampf einzutauschen. Mit einer Handvoll Malzkaffee in der Tasche ist es eine Pein, zusehen zu müssen, wie andere Margarinebrote essen. In einer großen Tüte sammelte ich in der Schule während der Pause Brotrinden „für meine Karnickel". Jeder sein eigenes Karnickel. Trocken Brot macht Wangen rot (so stand's in unserem Lesebuch), gibt spitzen Arsch und frühen Tod (das stand bei mir).
In einer Turnstunde prügelte mich der Lehrer die Kletterstange hinauf, soweit er mit seinem langen Rohrstock reichte. Dies wurmte mich furchtbar. Er wusste übrigens, wie gut ich sonst turnte, und schalt mich niederträchtig, faul und widerspenstig. Ich hatte in der Nacht zuvor, in Ermangelung jeglicher Betten, schlecht geschlafen und gefroren und dazu kam ein entsetzlicher Heißhunger. Die paar erbettelten Brotkanten waren nicht dazu geschaffen, mich sonderlich zu stärken. Ich war aus diesen Gründen schlapp wie eine nasse Maus; die Prügel fraßen sich in mir fest. Meiner Mutter erzählte ich davon nichts, sie fragte mich ohnehin oft genug, ob ich Hunger hätte; das diente als Vorwand, mir ihren letzten Bissen abzutreten. Ich verzichtete energisch, obgleich ein Löwenhunger in meinem Magen alles zu zersägen schien.
Für einzelne Bettstücke lief in wenigen Tagen der Termin ab, Verlängerung war nicht mehr möglich; auf der Pfandleihe gab es nur Geschäftsregeln und keine menschlichen Erwägungen. Wann jemals durfte meine Mutter hoffen, die verlorenen Betten durch Neuanschaffungen ersetzen zu können? Für eine proletarische Hausfrau sind das Probleme, viel schwieriger und aufreibender als jene, über denen Generalstäbler oder Gelehrte zu brüten haben. Wer daran zweifelt, hätte meine Mutter sehen müssen, mit großen Tränen in den Augen. Ihr Kind konnte sich an der ausgesogenen Brust nicht mehr satt trinken. „Wenn Papa übermorgen Geld schickt, holen wir das große Oberbett, und zwei Mark bleiben ja bestimmt noch über, aber dann wollen wir uns mal was Schönes leisten!" 2 Mark Kostgeld für die ganze nächste Woche! Der Hauswirt bekommt noch für 2 Monate Miete, der Bäcker pumpt schon lange nicht mehr, der Kolonialkrämer desgleichen.
Bis übermorgen musste ich etwas unternehmen, ich , ich! Ich war dran — los! Meinen kleinsten Beutel rollte ich zusammen, den so genannten Kupfersack, und ohne Hacke zog ich ab. Meine Mutter schob mir nochmals den Teller mit Mehlsuppe hin, — „Junge iss doch!" „Öh, de olle Mehlsupp", erwiderte ich schroff; — wie gern hätte ich sie verschlungen. Straßenbahndepot, nach Speckenbuttel, hinaus aus der Stadt, ging mein Weg. Die Beine wenigstens schritten dorthin, meine Gedanken gingen nicht mit, sie gingen in entgegengesetzter Richtung, zur Hafenstraße, ins Stadtinnere, an den großen Läden vorbei. Beide, Gedanken und Beine, hatten noch kein bestimmtes Ziel. Die Entfernung wurde immer größer zwischen ihnen. Der Speckenbütteler Park war erreicht. Das Wetter war schlecht, fast kein Mensch ließ sich sehen.
Was wollte ich auf diesen aalglatten Wegen suchen? Diese gepflegten, mit rotem Kies bestreuten Wege ärgerten mich ungemein. Einmal drehte ich mich um, ging ein Stück zurück und erschrak über meine eigenen Fußtapfen. Die kleinen Absätze von den Schuhen meiner Mutter, die ich anhatte, zeichneten sich deutlich ab. Sofort schritt ich quer durch die Bäume, bis ich auf eine Wiese hinaustrat; es war die Pferderennbahn. Noch einmal zurückblickend ins Holz gewahrte ich an einem Baum eine Kette, an der ein großes Fangeisen befestigt war. Es steckte nichts darin, außer einem Heringsrest, welcher an beiden Seiten abgefressen war. Vorsichtig brachte ich das Eisen zum Schließen, um es von der Kette loszubekommen. Das war schwer, und erst nach halbstündiger Arbeit wanderte das Ding in meinen Sack und der mit mir zurück in die Stadt.
Aber, o Schreck, der Lumpenhändler wollte nur lausige 10 Pfennig dafür zahlen; meine Weigerung, es für diesen Preis herauszugeben, beantwortete der Gauner mit der Drohung, die Polizei zu rufen; er ahnte wohl die Herkunft der Falle und nutzte das aus. Was nun? Die Hoffnung, für die Beute 50 Pfennig zu bekommen, verschwand, ebenso verschwanden die schönen Dinge, die ich dafür kaufen wollte, wie Brot, Schmalz, Abfallkäse, 1/4 l Milch, die neue Kugelspitzfeder, und schließlich erinnerte mich der dreckige Kerl, dass ich selbst ebenfalls zu verschwinden hätte. Unverzüglich ging ich in den nächsten Bäckerladen, ergriff von einem Regal ein Brot und raste damit wie wild davon. Noch immer laufend stürzte ich in ein Delikatessengeschäft, fasste zwei Büchsen Ölsardinen, und wieder setzte ich durch das Menschengewühl auf der Straße die Flucht fort.
Diese kurzentschlossene Tat kam gerade noch zur rechten Zeit. Die Uhr zeigte 4 Uhr nachmittags; abgesehen von den wenigen Brotrinden, die ich am Morgen in der Schule gegessen, waren es seit der Mehlsuppe von gestern mittag 27 Stunden, dass mein Magen nichts mehr bekommen hatte. Bis zur Dionysiuskirche kam ich noch, dort sank mein Arm wie gelähmt am Körper hinunter, das Brot fiel auf die Erde. Mühsam hob ich es auf, torkelte hinüber an die Kirche, ließ mich dort auf die Türschwelle fallen und hieb auf das Brot ein, wie einer, der 27 Stunden nichts gegessen hat und vordem auf der Speisekarte an drei Tagen das trockene und doch so wässerige Wort „Mehlsuppe" lesen musste. Schon nach den ersten Bissen hob sich mein Befinden.
Den Rest Brot brachte ich heim. Meine Mutter schnitt mit einer wahren Andacht die Schnitten vom Brot, legte Ölsardinen darauf, und wir aßen.
Wir aßen das geklaute Brot. Herr Staatsanwalt, da hätten Sie mit festem Griff zupacken müssen, das war Ihre Pflicht. Jeder hat seine Pflichten! Die elementarste Pflicht eines jeden Menschen ist, seinem Körper Nahrung zu geben. Diese allerheiligste Pflicht bleibt ihm auch dann, wenn Gesetze und Paragraphen dies nicht gestatten.
Noch lange schuftete mein Vater in Bremen für ein paar lumpige Mark, und meine Mutter staunte noch oftmals über das Glück, das sich in den kritischsten Tagen gnädig zeigte und ihren Sohn einen großen „Fund" tun ließ. Meine Mutter nannte das Glück, sie hat nie den Glauben daran verloren. Sie hat wirklich viel für die Erziehung ihrer Kinder getan. Fast immer, wenn ich mit Sack und Hacke loszog, sagte sie: „Dass du dich aber nie an fremdem Eigentum vergreifst! Junge, Junge, mach mir keine Schande."
Unserem Hauswirt war endlich die Geduld gerissen. An eine Zahlung der Mietschulden war nicht zu denken. Ausziehen! Denselben Tanz noch einmal beginnen. Es fand sich für meinen Vater eine Arbeit in Geestemünde. Das bedeutete eine Besserung unserer wirtschaftlichen Lage.
Die Eisengießerei von Achilles, eine düstere, dreckige Bude, machte meinem Vater schwer zu schaffen. Auch ich kam gelegentlich dorthin, überall lag der Staub faustdick. Die Arbeiter schwarz wie die Neger. An den Gießtagen war jedes Mal der Deibel los. Überstunden bis zwei Uhr nachts waren keine Seltenheit. Trotzdem ging die Arbeit am anderen Tage pünktlich weiter. Jeder kann sich denken, wie brutal die Ausbeutung unter solchen Umständen ist. Ich habe später auch in ähnlichen Wühlbuden gearbeitet und weiß, dass das auf die Dauer für keine Natur auszuhalten ist. Mein Vater hielt lange Zeit tapfer durch, bis er infolge gewerkschaftlicher Tätigkeit das Missfallen eines Meisters erregte und dafür „den Sack einstecken" musste. („Sack einstecken" ist ein alter noch heute allgemein gebräuchlicher Zunftgesellenausdruck für Entlassenwerden.)
Nunmehr wurden die Bündel für eine größere Reise geschnürt, es ging zurück nach Stendal. Kurz vorher kam meine Mutter in die Wochen, — mein Bruder Artur gesellte sich zu uns.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur