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Ludwig Turek - Ein Prolet erzählt (1930)
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Kampf mit Krieg, Hunger und Liebe

In der Zeitung entdeckte mein Vater ein Inserat, in dem ein Schriftsetzerlehrling gesucht wurde. Diese Stellung trat ich am 1. April 1912 an. Das war eine der wenigen bezahlten Lehrlingsstellen. Vielfach bestand noch die Sitte aus den Zeiten der Zünfte, dass der Lehrling dafür, dass er sich dem Meister auf Gedeih und Verderb für Jahre verschreiben durfte, eine ansehnliche Summe Geldes zu zahlen hatte. Der Buchdruckertarif für Lehrlingsentlohnung betrug damals im ersten Jahre 3 Mark wöchentlich, im zweiten 4 Mark, im dritten 5 Mark und im vierten 6 Mark.
Mit ungeheurem Interesse ging ich an die Arbeit, die anfänglich nur im Beobachten der einzelnen Schriften und Maschinen bestand. Die Pausen kamen mir jedes Mal sehr ungelegen. Diese Arbeitswut dauerte aber nur solange, wie ich noch keine direkte Arbeit zu leisten hatte. Als mir dann schon diese und jene Arbeit aufgetragen wurde, fand ich oftmals, dass ich keine rechte Lust hatte. Manchmal, meistens wenn es sich um eine kleine selbständig zu setzende Drucksache handelte, kehrte der alte Eifer zurück. Niemals aber habe ich, wie in den ersten Wochen, bedauert, dass es Feierabend war. Denn mit dieser Feierabendglocke schlug gleichzeitig ein Puls in mir, der im vorangegangenen Jahre nicht geschlagen hatte.
Ich war eingetreten in die „Sozialistische Arbeiterjugend". So wenig verlockend diese Bewegung, gemessen an der heutigen proletarischen Jugendbewegung, auch damals war, so zog es mich doch ungestüm in den Kreis dieses Dutzends Freunde, die sich jeden Sonntag und Mittwoch in einer Kneipe zusammenfanden und — jeder ein Glas abgestandenes Bier vor sich — den Erzählungen des Jugendleiters lauschten. Drei oder vier Lieder, ein Mühlespiel, ein Gesellschaftsspiel, das war damals der Abend bei der AJ.
Gleichzeitig turnten wir fast alle bei den „Freien Turnern" in einem Saal, wo der Bier- und Tabaksgestank einfach nicht rauszulüften war. Auch Wanderungen wurden gemacht, aber, obgleich der Geldbeutel mehr als klein war, saßen wir unvermeidlich allesamt nach wenigen Stunden in irgendeiner Dorfkneipe bei einem Glas Bier. Diese Wanderungen waren meistens Halbtagsfahrten, denn ohne das übliche Mittagessen hätten uns unsere Eltern wohl kaum laufen lassen. Dann hieß es natürlich, im „guten" Anzug erscheinen, Kragen, Chemisett, Schlips, sonst hätte man uns bestimmt als Strolche bezeichnet.
Unter uns befanden sich ein paar Rowdies, was weiter nicht verwunderlich war, da der Jugendleiter selber mit allen Hunden gehetzt war. Unsere Bierreisen, genannt Wanderungen, sollten allerdings doch bald ein Ende haben. Eines Sonntags trafen wir uns mit den Genossen aus Rathenow. Die sahen nun schon einen Schein heller aus, da sahen wir zum ersten Mal kurze Hosen, Kochgeschirre, Klampfen und, was uns am meisten begeisterte, riesenhaft gepackte Rucksäcke (Entfernung Stendal—Rathenow etwa 36 km).
Bei den nächsten Abenden gärte es gewaltig, aber unser Jugendleiter zeigte sich konservativ, und als ich am anderen Sonntag mit abgeschnittenen Hosen erschien, wurde ich von ihm zurückgewiesen mit der Begründung, die AJ sei doch kein Maskenball. Meine dicksten Freunde nahmen Partei für mich, und infolge der rasch an Zahl anwachsenden abgeschnittenen Hosen demissionierte der alte Genosse, wahrscheinlich in der Meinung, dass die Ortsgruppe nicht ohne ihn bestehen könne. Bald darauf zogen wir eines Sonntags nach Brandenburg, dort war ein großes Treffen angesetzt. Das war für uns im Hansjochenwinkel ungemein fruchtbar, wir lernten viel. Eine Feier in einem Saal brachte gute Rezitationen und anderes, kurz, uns entrollte sich ein Bild der proletarischen Jugendbewegung mit jenem starken Einschlag von Wandervogelromantik, in der die sozialistische Arbeiterjugend nach dem Kriege vielfach stecken geblieben ist. Immerhin: ein großer Fortschritt in der Jugendbewegung, und wir stürzten uns mit Feuereifer in die Arbeit.
Wollte sich unsere Mitgliederzahl lange Zeit nicht über zwanzig Mann erheben, gelang es nun, eine doppelt so starke Gruppe zu errichten. Dabei war deutlich zu merken, dass sich unter uns kein Jugendleiter mehr so recht wohl fühlte. Eine Musikgruppe erstand, ja sogar eine Mädchengruppe wurde ins Leben gerufen; das brachte zwar den unvermeidlichen Stank, aber mit der Parole „Liebe ist Privatsache", die wir energisch in alle Köpfe hämmerten, kamen wir sehr gut aus. Entgegen allen Anschuldigungen, die so oft von älteren Genossen erhoben wurden, muss ich doch sagen, dass sich bei uns in der Gruppe, in der nur Jugendliche bis zu achtzehn Jahren (bis zum Kriegsanfang) waren, obwohl wir oft in Nächten mit den Mädeln unterwegs waren, absolut keinerlei Verstöße gegen die Sittlichkeit zugetragen haben, — falls man es als eine Unsittlichkeit betrachten sollte, wenn ein gut entwickeltes siebzehnjähriges Mädchen sich mit einem achtzehnjährigen Burschen in blühender Heide oder im dichten Tann zu einem Geschlechtsakt findet.
Alles war in unserer Gruppe in schönster Ordnung, als sich plötzlich alle Schufte dieser Erde darin einig wurden, der Menschheit vorzumachen: das Allernotwendigste, was sie brauche, ohne das sie keine glückliche Stunde mehr zu erwarten habe, sei ein Krieg.
Am ersten Abend nach dem 4. August 1914 hielt unser Jugendleiter eine Ansprache, die von der gefährlichen Lage handelte, in die die AJ durch den Kriegszustand geraten sei. Nach Schluss blieben etliche, die älteren Genossen, beisammen, und es wurde beschlossen, beim Heimweg die Internationale zu singen. Der Jugendleiter musste etwas erlauscht haben, denn kaum war die erste Strophe verklungen, als er plötzlich an uns herantrat und uns so graulich machte, dass wir die schweren Ketten an unseren Gliedern schon fühlten. Er sagte, dass wir ihn und seine Familie damit unglücklich machen würden und entlockte uns das Versprechen, jetzt und auch später auf der Straße nicht wieder zu singen.
Nach der anfänglichen großen Enttäuschung, die uns Jugendliche, die wir Karl Marx gelesen hatten, ob der allgemeinen Kriegsbegeisterung der werktätigen Massen beschlich, tauchte im Sommer 1915 eine leise Hoffnung auf, als aus der Schweiz Flugblätter, mit der Schreibmaschine geschrieben, in unsere Hände gelangten. In diesen stand in flammenden Worten, dass jeder ehrliche Arbeiter ein Gegner des Krieges sein müsse! Das wirkte in uns Wunder, wir sagten nun jedem älteren Proleten, der es hören wollte, dass die Führer Verräter seien, die den Krieg unterstützten. Wir brachten das auch dem Parteisekretär Ernst Brandenburg gegenüber zum Ausdruck, der auf einer Feier der AJ, an der unsere Eltern teilnahmen, wörtlich sagte: „Wer
sein Bestes, was er hat, sein Leben, für das Vaterland nicht in die Schanze schlagen kann, der ist in meinen Augen ein Lump." — Mit dem Eisernen Kreuz auf der Brust brachte er das mit großem Pathos hervor. Aus einer Ecke des Saales donnerten wir Jugendlichen ihm ein mehrfaches Pfui, Pfui entgegen. Es war der Schluss seiner Rede gewesen. Die alten Genossen erstickten unsere sonstigen ablehnenden Bemerkungen durch prasselndes Händeklatschen und lautes Bravorufen. Die in unserer Nähe Stehenden drohten uns zu schlagen.
Später, 1923 im Herbst, als derselbe Brandenburg, nunmehr als sozialdemokratischer Abgeordneter, in den Tagen höchster Inflation, einmal in einer Massenversammlung den Arbeitern ein Klagelied über die Ursachen der Inflation vorsang, konnte er nicht weinerlich genug den Krieg und die Monarchie als Stammväter dieses Elends hinstellen.
Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei wurde gegründet, und nun bekamen auch wir von der Jugend organisatorischen Anschluss. Eine Konferenz der SAJ in Magdeburg brachte einige Klärung. Der Jugendgenosse Hüttenrauch hielt ein Referat, das uns wie aus der Seele gesprochen war. Wieder zu Hause, folgte ein erbitterter Kampf mit den Genossen der Partei, die in ihrem blinden Vertrauen auf ihre schurkenhaften Führer zu nichts zu bewegen waren.
Was sollten wir gegen den Krieg tun? Diese Frage beschäftigte uns dauernd. Wir verkannten unsere Schwäche nicht, unsere Tätigkeit beschränkte sich deshalb auf Diskussionen mit älteren Arbeitern, Soldaten, Urlaubern und Frauen.
Die Jugendwehr wurde gegründet. Das war eine Sache, wo es etwas zu tun gab. Es sollte eine Zwangsjugendwehr der Fortbildungsschule gebildet werden. Jetzt ging's los. Wir wühlten und hetzten in Betrieb und Schule gegen die Absicht des Schulleiters Sorgenfrei, diese Jugendwehr auch in Stendal einzuführen. An einem Mittwochabend: Antreten der Schüler auf dem Viehmarkt. Lange vor Beginn waren wir zur Stelle. Nicht nur die Jugend war bearbeitet, sondern in allen Betrieben hatten wir die Arbeiter von unserem Vorhaben, diesen Appell unbedingt zu verhindern, unterrichtet. Die Warnungen der Brandenburg und Genossen wiesen wir mit Verachtung zurück. Der Bruch mit diesen Elementen war bereits, wenn auch noch nicht offiziell, so doch in unserm Innern vollzogen. Eine geringe Anzahl Flugblätter war verteilt. Als die Uhr auf sieben ging, hatte sich eine große Menge versammelt, darunter, entsprechend unseren Weisungen, fast die gesamten Fortbildungsschüler, auch die jüngeren Jahrgänge.
Schulleiter Sorgenfrei, ein Leutnant und etliche Unteroffiziere schauten etwas unsicher auf die Menge. Endlich ließ Sorgenfrei sich vernehmen: „Die Fortbildungsschüler, die zur Jugendwehr kommandiert sind, hier sofort antreten!" Tausendstimmig, von allen Seiten, ein brüllendes Hohngelächter. In der Mitte des Platzes, bei den Militärs, sichtliche Verlegenheit. — „Einpacken, abbauen! — Ha ha ha!" Polizei erscheint und wird von allen Seiten veräppelt. Der Leutnant: „Wer nicht sofort-----------" Ein Mordsgebrüll verschlingt alles weitere. — „Abgesägt, nach Hause gehen, einpacken!" es schlägt wie Steinwürfe gegen die Mitte zu. Blass wie eine Kalkwand steht der Feldgraue mit den Achselstücken. Man sieht es ihm an, das passiert ihm zum ersten Mal.
Es lag auf der Hand, in den nächsten Minuten musste die Entscheidung fallen. Die Polizei suchte jemanden, aber wen von den Vielen herausgreifen? „Turek, wo ist der, hier hier, nee hier, nee da drüben! Gorajski? Wo ist Gorajski? Hoffmann? Verdammte Bande. Von wem haben Sie das Flugblatt? Mit, Sie gehen mit — Halt, Haaalt —" Ein Gedränge entsteht, wird künstlich gesteigert, der Schutzmann ist umringt, er denkt mehr an seine Sicherheit als an die zu Verhaftenden, er türmt, wie ein feiger Köter kläfft die Polizei umher, ohne einen ernsthaften Griff zu wagen. — „Auf! Sozialisten! schließt die Reihen -------—" Im eiligen Schritt ziehen sich die Kommandeure ohne
Truppe zurück. — „Mit uns das Volk, mit uns der Sieg------------"
Die Menge brüllt.
Wischt war's mit der Jugendwehr.
Drei Wochen Pause.
Gorajski, Hoffmann, Sanftleben, Turek erhalten die Mitteilung, sich am Mittwoch, den soundsovielten, mittags 1 Uhr, beim Polizeikommissar Treptow zu melden. Wir trafen uns jeden Abend, Franz, Tedsche, Rieke, Andreas (Andreas war ich, — meinen Freunden gefiel wohl mein Vorname Ludwig nicht, deshalb riefen und rufen sie mich bei meinem zweiten Vornamen). — „Mensch, det Ding muss schnaffte jedreht werden? — Ick zieh Holzpantoffeln an und alle die roten Schärpen von de Turner als Bauchbinde, richtig breit jewickelt wie die jefangenen Franzosen, keene Hosenträger un ooch keene Weste. Mensch, det jibt een Feez! Barfuss, in Holzpantoffeln klappern wir dem uff de Bude, der soll kieken. Wat wolln wa sagen? Det is wejen de Flugblätter — wir wissen nischt, wir wissen überhaupt nischt, keener weeß wat." —
„ Gorajski?" „Hier!" „Hoffmann?" „Hier!" „Sanftleben?" „Hier!" „Turek?" „Hier!"
„ Was sind Sie?" „Buchdrucker!" „Haben Sie denn schon ausgelernt?" „Nein." — „Na, — dann sind Sie doch erst Buchdruckerlehrling. — Und was sind Sie?" „Tapezierer und Dekorateur." „Lehrling, nicht wahr?" „Ja." „Sanftleben, was sind Sie?" „Schlosser." „Ausgelernt?" „Nein." „Warum sagen Sie denn das nicht gleich? Und Sie? Haben Sie ausgelernt?" „Nein." „Was sind Sie also?" „Lehriing." „Was Sie lernen, will ich wissen!? Stellen Sie sich nicht so dumm an, Sie sind hier bei der Polizei, merken Sie sich das gefälligst." „Jawohl." „Was haben Sie für einen Beruf?" „Buchdruckerlehrling."
„ Sie sind alle Mitglied der AJ?" „Jawohl." „Was machen Sie denn dort in der AJ? Hoff mann, ich frage Sie,-was dort in der Arbeiterjugend gemacht wird?" — „Ach weiter nischt besonderes. — „Weiter nichts besonderes, was heißt das? Sie müssen doch dort irgend etwas machen? Donnerwetter, reden Sie bitte, ja, etwas plötzlich, Sie scheinen noch nicht zu wissen, dass Sie bestraft werden! Was machen Sie also, z. B. des Sonntagsabends in der AJ?" — „Manchmal spielen wa Schach." — „So, was machen Sie noch da?"
— „Oder ooch Mühle.""— „Sie spielen doch nicht nur Schach und Mühle?" — „Nee, manchmal spielen wir ooch Dame." — „Quatsch,
— was singen Sie denn für Lieder? Sanftleben, ich frage Sie jetzt!"
— „Allerlei Wanderlieder." — „Was für welche singen Sie außer den Wanderliedern?" — „Freut euch det Lebens. — Und, es kann ja nicht immer so bleiben!" — „Und was noch?" „Der Mai ist gekommen... " „Sagen Sie mal, warum haben Sie sich denn solche unverschämten Binden um den Bauch gewickelt? Und warum kommen Sie ausgerechnet alle vier in Holzpantinen hierher?" — „In Berlin loofen doch die Studenten och so." — „Die tun das natürlich im Interesse des Vaterlandes, um für die Front Leder zu sparen. Aber Sie wollen damit hier etwas rausstecken. Und alle Binden müssen gerade rot sein? Wickeln Sie mal sofort die Dinger ab und stecken Sie sie in die Tasche. — Abwickeln die Binden, hab ich gesagt." — „Det jeht nich." — „Warum nicht?" — „Denn fallen die Hosen runter."
„Sagen Sie mal, was kümmern Sie sich denn so lebhaft um die Jugendwehrgeschichte? Bilden Sie sich etwa ein, Sie könnten etwas gegen die Gesetze des Staates unternehmen? Diese Unternehmungslust wird Ihnen teuer zu stehen kommen. Woher haben Sie die Flugblätter bezogen, die Sie damals verteilt haben? Gorajski, bei Ihnen, und auch für Turek trifft das zu, besteht der Verdacht, dass Sie sich dieselben verschafft haben. Also heraus mit der Sprache!" „Ick kenne keene Flugblätter." „Machen Sie nicht solche Flausen hier, ich sage das zum letzten Mal, Sie sind verpflichtet, unverzüglich Rede und Antwort zu stehen, wenn Sie gefragt werden. Sie sind von einem Beamten beim Verteilen von Flugblättern gesehen und notiert worden, alle böswilligen Ausreden sind doch ganz überflüssig. Sind Sie nicht so dumm und verschlimmern Sie Ihre Lage nicht durch zweckloses Ableugnen der schon feststehenden Tatsachen. Wir wollen nur noch erfahren, von wem die Flugblätter hergestellt sind. Es besteht absolut nicht der Verdacht, dass Sie als Buchdrucker selbst der Hersteller sind! Falls Sie aber uns unsere Arbeit unnötig erschweren und die Bezugsquelle nicht nennen wollen, müssen wir doch annehmen, dass Sie die Dinger in Ihrem Geschäft in einer unbewachten Stunde hergestellt haben. Die Herstellung und der Vertrieb zieht natürlich eine doppelte Strafe nach sich, das müsste doch auch Ihnen einleuchten!...
Also, meine Herren, wir haben hier ganz gewiss keinerlei Absichten, Ihnen große Scherereien zu machen, ich persönlich bedauere es sogar gerade für Sie, der Sie mir von Herrn Sorgenfrei als sehr tüchtige, aufmerksame Schüler geschildert wurden. Einer ist wohl, wenn ich mich recht entsinne, sogar mit einem ersten Diplom ausgezeichnet, nicht wahr? Wer ist denn das? Ach so, Gorajski, ja, wie gesagt, ich muss mich wirklich wundern, warum Sie sich mit so etwas befassen. Na, zurück zum Eigentlichen. Ich habe hier einige Exemplare vor mir. Der Druck ist ganz abscheulich, ich glaube keinesfalls, dass Sie so etwas zusammengepfuscht haben, sehen Sie, der ganze Rand hier rechts ist total verschmutzt. Sie arbeiten doch für den Magistrat auch, nicht wahr? Diese Arbeiten sind doch immer ganz sauber hergestellt; also könnte man annehmen, dass Sie diese Flugblätter auch besser herausgebracht hätten. Nun, meine Herren, will sich niemand zum Reden bequemen? Wo die Flugblätter herbezogen sind? Nicht? Wir müssten Sie dann allerdings mit für die Blätter verantwortlich machen. Sie haben also nicht den Mut, zu sprechen; ich sage Ihnen, dass das eine große Dummheit ist. Sie können gehen, bis ich Sie wieder verlange."
Klipp klapp, klipp klapp, die Holzpantoffeln sangen auf den Steinfliesen im Rathaus ihre eigene Melodie. Klipp klapp, klipp klapp, die roten Binden schwebten wie frische Blutstropfen durch die aktenverstaubte Luft, das Klappern und die Blutstropfen flossen hinaus in die heiße Luft des Augustmittags. Drüben beim Zigarrenhändler Gramm stehen viele Menschen um ein Extrablatt, Bürger, Proleten, Schüler. — „Tedsche, komm, — Franz, mal sehn, wat wieder los ist." Wir recken den Hals: 12 000 Russen gefangen, 5 schwere, 14 leichte Geschütze erbeutet. Riesenverluste der Russen, eigene Verluste gering. „Schwindel, elender, Schluss mit'n Krieg, det Volk wird vakohlt, und die anderen fressen sich den Wanst voll." — „Strolche, Skandal, was sich die Bengels erlauben, sollte man glatt einsperren, diese Lümmels!" — „Halt die Fresse, du Pomadenhengst." Wir müssen an die Arbeit und trennen uns mit dem Versprechen, nach Feierabend zusammenzukommen.
Im Betrieb immer wieder dasselbe Theater, die Gehilfen sind wie vernagelt, der Buchbinder ist beim Landsturm und in Garnison am Orte. Kommt er in die Bude, wird er allgemein bewundert. Als seine Vertretung arbeitet ein kriegsgefangener Russe. Dieser jedoch wird nicht als vollwertig angesehen. Ich mache eine Ausnahme und muss dafür von den Gehilfen gewisse Spitzen einstecken. Meine ewige, immer wiederkehrende Rede ist: „Schluss mit dem Krieg, ein Ende dem verbrecherischen Menschenmord, die Revolution ist unvermeidlich. — Alles ist Schwindel, alles ist Betrug."
Die Meinung der Gehilfen ist eine andere. Sie nennen mich einen Grünschnabel, vorlaut, Naseweis, manchmal drohen sie auch tätlich zu werden. Überall werde ich als unreif, phantastisch oder einfach für verrückt erklärt. Wer von Revolution spricht, ist ein Mensch ohne Verstand. Verstand haben nur die Menschen, die sich in tadellosen Uniformen, mit silbernen Achselstücken darauf, bewegen, deren Tritt in Ia lang- und engschäftigen Stiefeln, sporenbeschlagen eins-zwei-drei-vier, zack-zuck-knack-ruck-zuck, äh äh, erklirrt. Diese Menschen stellen doch etwas vor.
Ich armseliger Lump, in Holzpantoffeln, zerschlissenem Hemd und roter Binde, mit meinem Gefasel von der Revolution, man müsste sich schämen, dass man mit mir bekannt war. Wer sollte mich ernst nehmen?
Ein Vorfall ist mir noch deutlich in Erinnerung. Der Setzer Grantz, ein älterer Gehilfe, hatte einen Sohn an der Front, der war Unteroffizier bei den Pionieren, die Engländer hatten sich wieder mal 20 000 Gefangene abnehmen lassen, bei Ypern war der große Wurf gelungen, und Grantzens Sohn war auch dabei gewesen. Genau wusste das zwar der Heldenvater nicht, aber aus Ypern lauteten die letzten Briefe und daraus ließ sich ja vermuten, dass der Pionier diese große Schlacht mit geschlagen und gewonnen hatte. Nicht wenig stolz auf den Ruhm der deutschen Waffen, kaufte sich Vater Grantz eine schwarzweißrote Fahne und noch am selben Abend flatterte sie vor seinem Fenster. Das veranlasste mich, am nächsten Tage die bescheidene Bemerkung zu machen, ob Herr Grantz denn nicht mal daran gedacht habe, dass an Stelle der schwarzweißroten Fahne eventuell eine schwarze hängen müsste? — „Ach, Quakerei, mach deine Arbeit und halt's Maul!" war die Erwiderung. Etliche Tage später kam die Nachricht: Pionier-Unteroffizier Grantz beim Sturm auf----------gefallen!
Immer mehr Genossen aus unserer Mitte wurden eingezogen, wie durch einen großen gigantischen Sauger wurde alles herausgesogen, was um die Menschen und an den Menschen war. Lebensmittel gab es nur noch durch Anstehen in langen Schlangen. Diese Hungerschlangen waren zum typischen Straßenbild geworden. Melancholisch lagen sie da, in Stumpfheit verfallen, fast wie ohnmächtige Ungeheuer. Sie lagen in Krümmungen um Straßenecken herum oder auch an Wände gequetscht. Es gab Momente, wo sie lebendig wurden, zeitweilig wild, zusammengerollt zum unentwirrbaren Knäuel, fauchend, zornsprühend. Es waren aber Bändiger da, die darüber wachten, dass diese Schlangen nicht gemeingefährlich wurden. Die Autorität dieser Bändiger war damals diesen Schlangen gegenüber noch ziemlich groß, nur ganz selten gab er hier und da ernsthafte Zwischenfälle.
Einen solchen erlebte die kleine Eibstadt Tangermünde. Dort befindet sich eine der größten deutschen Zuckerraffinerien. Kein Wunder, dass die Proleten sich den Kunsthonig schon beizeiten übergegessen hatten. Aus diesem Grunde bekam eines Tages der Bürgermeister eine gehörige Tracht Prügel und einen Anstrich mit Kunsthonig, was wiederum Veranlassung war, Militär aus Stendal hinzuzuziehen. Hierbei konnte es Krause (Oberstkommandierender des Landsturmbataillons in Stendal) nicht unterlassen, die Tangermünder
Proleten zum Steineschmeißen zu verführen. Krause ging verbeult wieder nach Hause.
In Tangermünde war von uns seinerzeit eine Jugendgruppe gegründet worden. Die Erinnerung an den beispiellosen Erfolg dieser Gründung ist mir stets ein Ansporn gewesen bei ähnlichen Unternehmungen. Einmal wegen des ungeheuren zahlenmäßigen Anwachsens der Gruppe, die uns in Stendal in wenigen Wochen um ein Vielfaches überholt hatte, dann war es eine Lust, mit diesen Tangermünder Genossinnen und Genossen Umgang zu haben. Zwar waren sie nicht gerade sehr geschulte Leute, aber sie führten bei jeder Gelegenheit eine vernünftige, proletarische Manier ins Treffen, die sich stets zum Segen der Bewegung selbst auswuchs. Die Tangermünder haben einen besonderen Vorzug gegenüber den Proletariern anderer Kleinstädte. In der Altmark bin ich in vielen Städten herumgekommen, die an Einwohnerzahl ungefähr dasselbe waren wie Tangermünde, deren Proleten jedoch in keiner Weise an die Regsamkeit in der Arbeiterbewegung heranreichten, wie sie die Tangermünder an den Tag legten.
Wir hatten das Pech, dass gerade zur Zeit des größten Kohldampfs zugleich auch unser Appetit ein riesengroßer war. Ach, waren wir eine verhungerte Kolonne, aber Not bricht Eisen — und bald waren wir eine verfressene Kolonne. Auf Fahrt gingen wir natürlich immer noch, doch es waren eigenartige Fahrten. Unsere Lieder waren auserwählt; kam ein belebter Teich in Sicht, sangen wir (nicht immer sehr laut) das schöne Seeräuberlied:
Und der Kaufmann zittert vor Angst und vor Weh, Den Matrosen entsinket der Mut,
Wenn am schwankenden Mast unsre Flagge sich zeigt, so rot wie das Blut-----------
Es gab auch Lieder ohne Worte, d. h. die wurden in gegebener Situation weggelassen, z. B.:
Vom Staube, vom Staube da werd' ich nicht satt, wenn ich weiß, wo der Bauer die Wurst hängen hat.-----------
Es kommt vor, dass ein Buchdrucker manchmal recht klebrige Finger hat, denn er hat viel mit Kleister zu tun bei seiner Arbeit,
und da ist es schließlich verständlich, wenn er 50—60 000 Brotmarken durch seine Hände gehen lassen muss, dass da einmal ein paar hängen bleiben. Nun gab es Kriminalbeamte, die für ihre anstrengende Tätigkeit bedeutend mehr Betriebsstoff brauchten, als sich aus 3 Pfund Kriegsbrot herausquetschen ließ; da vermuteten sie natürlich auch bei anderen denselben Konsum.
Einmal war ich bei meinem Vetter Franz, um bescheiden anzufragen, was an seinen Fingern kleben geblieben sei. Franz aß gerade eine große Schüssel grünen Salat, als es plötzlich klopfte. Klopfen?
— das war ein verdächtiges Zeichen. Ein entschlossener Griff, und die Klebengebliebenen wanderten unter den Salat in die sacharingesüßte Soße. Zwei Sekunden später ließen wir ein freundliches „Herein" vernehmen. — Wir müssen leider — — Haussuchung!" — „Warum? — Na, wegen mir, meinetwejen, stört mir nich." — „Gestattet Ihnen denn Ihre Brotkarte, zu einer Schüssel Salat fast ein halbes Brot zu essen? Sie haben sich ja da, einen ganzen Teller Brotschnitten zurechtgelegt." — „Wenn Ihnen Ihre Brotkarte det nich jestattet, wat mir sehr leid täte, denn könn' Se hier ein bischen mit abblättern, jreif'n Se zu, falls det nich reicht, ick hab noch mehr." —
— „Ja, aber woher haben Sie denn das viele Brot?" — „Nu, wenn man bloß an een Dag in der Woche Brot isst, denn reicht' et janz jut."
— Emsiges Suchen folgt! Ohne Gruß rückt die Gesellschaft ab.
Nichts war's.
Manchmal wurden wir auch zu „Selbstversorgern". Einer unserer Streiche ist mir noch deutlich in Erinnerung: Es war zu der Zeit, als sich die Armen von den Reichen dadurch verschieden anließen, dass die ersteren aussahen, als hätten sie absolut keine Luft mehr drauf, und die anderen, als hätten sie eben erst frisch aufgepumpt. Also zu dieser Zeit wurde mit 4 Stunden Verspätung um 3 Uhr morgens in einer verschwiegenen Bodenkammer eine selbstgefertigte Kerze angezündet. Eine Axt, eine Leine, ein Sack mit Inhalt, das ist Inventar, welches in dieser Kammer und bei der Beleuchtung ungeahnte Möglichkeiten in sich birgt. Bald setzte sich Vorgenanntes in Marsch. Die Kerze blieb zurück, dafür ging eine Taschenlampe mit, denn die ist beweglicher. Bewegung tut not; was sich nicht bewegt (in einer solchen Zeit), ist erschossen.
Der Frost war hart, der Wind schneidend; schussartig kam er hinter den dicken Ghausseebäumen hervor. Keiner ließ sich etwas merken, so sehr auch die Ohren in der winterlichen Zange saßen. Der Weg war genau aufgezeichnet, es bedurfte keiner Orientierung. Die Beinarbeit war mechanisiert. Nur die Axt hüpfte von der einen auf die andere Schulter. Wald umfing und verschlang die nächtlichen Wanderer. Sie krochen hintereinander in eine etwa zwölfjährige Durchforstung. — „Hier, halt mal! Jck jloobe, der hier is' richtig."
— „Meinste? is' er nich' krumm?" — „Warte, erst horchen.-----------
Na? Also los!" — Der erste Schlag an den gefrorenen Stamm der jungen Tanne war in den Ohren wie ein großer Gong, ein alarmierender, ein Signal für alle umliegenden Ortschaften. Halt! Horchen -----------weiter. Halt, horchen-----------noch ein Schlag, dann brechen. „Sooo-----------aber halt mal, wir säbeln die Äste draußen ab.
Da können wir uns besser rühren. Der jeht, wat?"
„ Klar — na, det eene Ende is'n bischen dünn, oder meinste nich! Vorn die Scheune, da jeht's links ab, und dann immer hinter den Järten lang."
„ Ick bin im Bilde. Wo bleibt der Boom liegen?" „Mindestens 1000 m vom Dorf." —
Rauhreifiges dürres Gras und überfrorene Pfützen krachten leise unter den sohlenlosen Stiefeln, wie ein kräftiger Spieß stieß sich die Spitze der gehauenen Tanne in die fast zu helle Nacht. Es ist gewiss als kultureller Fortschritt zu betrachten, wenn Menschen in den Nächten auf ihren Spaziergängen schönbeleuchtete Pfade wandeln können. Aber die Zeit war eben eine andere geworden. Es war Krieg, und zwar nicht nur an den Fronten, auch in der Heimat wurde gekämpft. Wer nun mal an einer richtigen Kampffront war, muss wissen, dass alle nächtlichen Kampfhandlungen ohne Beleuchtung vor sich gehen. Und hierin waren sich der Kampf an der Front wie in der Heimat gleich. Noch in einem anderen Punkt ließ sich dieser Kampf identifizieren: an der kriegsmäßigen Front wurde der Gegner oft als Schwein bezeichnet. Der Franzose nannte uns bekanntlich Boche, was so etwas ähnliches wie Schwein heißt. Bei uns war es nicht selten zu hören: Die Schweine, die gottverdammten (Russen, Engländer, Franzosen, Amerikaner). Also, kurz zu sagen: dieser nächtliche Überfall war ebenfalls auf Borstentiere gerichtet.
Es handelte sich in diesem Falle um einen noch nicht erprobten Feind. Es lagen noch keine praktischen Erfahrungen zugrunde. Darum ahnte auch noch niemand, dass das größte Verhängnis bereits
vom Moment des Beginnens des Kampfes über ihnen schwebte: die vierstündige Verspätung! Der Feind war nicht mehr im ersten Schlaf zu überrumpeln. Er lag schon in traumhafter Vorahnung des Morgenkaffees, wobei jedes, auch das kleinste Geräusch ihn um etwas mehr in das Wachbewusstsein schob. Auch gibt es bekanntlich unter allen schlafenden Wesen leise schlafende und festschnarchende.
Die Stelle der entscheidenden Handlung war erreicht. Ein letztes Hindernis in Gestalt einer ziemlich hohen Holzplanke wurde sachgemäß überstiegen. Jetzt galt's. Augen und Ohren offener als offen. Jeder Tritt erforderte doppelte Elastizität. Schatten mit Scharfsinn und Muskeln. Feste Griffe an Holz und Eisen, so leicht wie ein gehauchter Kuss. Die Tür war noch zu und doch schon auf. Ein riesiges Schloss ging klanglos ab, ins Jenseits. Nur ein letztes Ächzen kündete seine jäh unterbrochene Lebensbahn. Das genügte jedoch, um den Hofhund pflichtgemäß seine entsprechende Bemerkung zu entlocken. Trocken, unbestimmt, zerstreut klang sein heiseres „Whau". Die Sprache der Hunde zu kennen, ist in solchen Zeiten unbedingt wichtig, sozusagen eine soziale Notwendigkeit. Hätte diese Hundeseele an Stelle des einmaligen „Whau" ein gedehntes Knurren vernehmen lassen, so hätten wir eine Frühstückspause einschieben können, um den Köter wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Aber solche Antwort auf unsere, durch das ächzende Schloss dargelegte Absicht war 80 Prozent ungefährlich. Etwa wie wenn ein Taschendieb ungeschickt ist und erhält von seinem Opfer die Antwort: ,.Sie sind sehr ulkig, mein Herr, aber ich bin durchaus nicht kitzlig."
Es kann dem Hunde auch nicht nachgesagt werden, er sei ein Stümper in seinem Beruf gewesen, sondern zu seiner Ehre sei gesagt, dass die Entfernung vom verendeten Schloss bis zu seinem Hause eine verhältnismäßig große war. Entfernungen schätzen ist eine Kriegskunst, die jeder Krieger beherrschen muss, ebenso wie er ein gewisses Orientierungsvermögen braucht.
Großbauern sind nicht nur groß im Besitz von Land, sie sind auch noch groß im Knausern, für nebensächliche Dinge geben sie kein Geld aus, so z. B. für Schmieröl zum Schmieren von Schweinestalltüren. Wie Maschinengewehrfeuer hämmerte die kaum berührte Tür
ihr Knarren in die Nacht. — Stopp, zum Deibel-----------Der Hund?
— Nichts. Die Schweine!! Wir beißen die Zähne zusammen. Solche Schweine, verdammte Schweine! Sie waren sämtlich aufgestanden, wie auf Kommando. Grunzten fröhlich und sagten sich guten Morgen. — Taschenlampe — Licht, die Axt, Licht-----------darauf hatten
diese elenden gottverdammten Schweine nur noch gewartet, denn Licht war für sie offensichtlich nur ein Signal, um sofort laut und vernehmlich ihre sämtlichen Wünsche für die nach ihrer Meinung beginnende Fütterung vorzutragen. Sie spornten sich gegenseitig an. — „Licht aus, — Mensch." Aber nun erst der Krach, ohwehohwehohweh, jetzt fühlten sie sich wahrscheinlich betrogen, geneppt, veräppelt. Raus, raus, weg-----------nix wie weg! Die Schweine, die
elenden Schweine. Aus war's mit Schweinen.
Wir erlebten einen fürchterlichen Sturz, wir fielen aus einer großen Höhe. — Schweine waren doch mächtige Tiere, zu stark und zu hoch für uns. Wir hatten kein Glück mit Schweinen. Wir hatten eben kein Schwein. Aber trotz alledem, mitten im Sturz besannen wir uns, mitten im Fallen hielten wir inne und fielen nicht auf die harte Erde, sondern landeten auf einem Huhn. Vom Schwein herunter auf ein Huhn. Was nun folgt, war nur noch mit der Stoppuhr chronometrisch zu erfassen. Deshalb muss es in Zeitlupe wiedergegeben werden. Also in Sekundenabstand: Ein von Wut und fieberiger Wucht geführter furchtbarer Schlag mit der Axt auf das Schloss des Hühnerstalls — entsetzlicher, mörderisch geheilter Protest des Hundes, der sich aber doch nicht ganz heranwagt — Todesschreien im Hühnerstall — aufflammendes Licht im Wohnhaus — katzenartige Flucht über die Planke — schöner erfrischender Lauf durch die kalte sternklare Nacht. Endlich geht's im Schritt, die Leine, Axt und Sack mit Inhalt gehen mit.
„— Det jibt aber ne fette Brühe — Manometer — Manometer, sind die Hühner aber fett! — Weeßte, wat ma machen?" „Wat'n?" „Wir nehmen den jroßen Petroleumkocher und setzen eens uff, haun uns in de Klappe, und wenn wa uffstehn, fressen wir't uff. Sind se alle drei so fett? Schütt mal aus die Viecher, — mal seh'n. Ei Backe, solche Bengels, pass uff, wat ick jetzt mache, ick binde de Beene zusammen, weßte wie wa det mit det Schwein machen wollten und du haust da aus'n Busch en Knüppel, den steck'n wa durch die Hühnerbeene un dann jeht's los."
Ein langer Knüppel, in der Mitte drei Hühner hängend, an den Enden zwei fest ausschreitende Burschen. Der vorderste hält in der Rechten eine scharfe Axt, der hintere trägt über der Schulter einen Sack, aus dem taktmäßig leise, fast lustig, Eisen gegen Eisen klingt. Große Straßen werden gemieden, durch Wald, über Felder, Wiesen, hartgefrorene Ackerschollen geht's bis an die Stadt. Vorsichtig geht nun der eine 150 m voran, aller verdächtigen Gegenstände entledigt, scharfer Husten ist für den Hintermann Signal zum Rückzug, leiser Husten bedeutet Vorsicht. Für alle Fälle retteten die Beine, da kam niemand hinterher. Denn längst war der Hunger gebannt. Alle standen durchaus fest auf den Beinen. Kohlrüben, Marmelade, Hindenburgsuppen, Rübensaft, 40 g Margarine usw. waren gänzlich wertlose Dinge, die nicht beachtet wurden.
Im Betrieb jeden Tag heilloser Schnellschuss, arbeiten, arbeiten, arbeiten. Überstunden und immer wieder endlose Überstunden, keineswegs reichte der Lohn bei uns Lehrlingen. Da hieß es, sich nach etwas umsehen, wenn man nicht dabei gänzlich auf den Hund kommen wollte. Furchtbar legte sich der Hunger in die Leiber. Für Bekleidung aus vollständig unbrauchbaren Rohstoffen musste der Prolet sein schwerverdientes Geld ausgeben. Hemden aus Papier, Schuhsohlen aus allem unmöglichen Material. Öle für Beleuchtungszwecke spotteten jeder Beschreibung, sie stanken, wie die Pest und räucherten die Wohnräume ein. Alles war eingestellt auf das unbedingt siegreiche Ende des Krieges.
Aber schon lange war die Entscheidung gefallen, das stand uns Jugendlichen deutlich vor Augen. Die Sieger und Besiegten waren für uns nicht außerhalb der Grenzen, sondern innerhalb. Wilhelm II. kannte keine Parteien mehr. Wir jedoch dachten damals durchaus richtig, dass ein halbverhungerter Jungproletarier, der 12 Stunden schwerste Arbeit am Tage zu leisten hat, und ein vollgefressener, fauler Großbauer zwei verschiedene Parteien sind und bleiben, trotz Wilhelm II., Krieg und Burgfrieden.
Wir pfiffen auf alle Verdächtigungen, die wir einzustecken hatten, wenn mal ein derbes Stück Wurst in unserer Faust den Neid derjenigen erregte, die sich in der Zeit der größten Unordnung, des gemeinsten Betrugs etwas darauf einbildeten, ehrliche, ordnungsliebende, gesittete Bürger zu sein.
Im Betrieb war es nicht mehr zum Aushalten. Der Krauter wollte eine von mir geforderte Lohnerhöhung nicht rausrücken. Darum beschlossen wir, ich und mein Freund Theodor, dem genau dasselbe mit seinem Krauter passiert war, einen Streik. An einem Montagmorgen zogen wir los. Wohin? Darüber war zwischen uns beiden noch kein Wort gefallen. Jedenfalls torkelten wir ab, uns genügte der Gedanke, dass der Krauter seinen Mist selber machen solle. Gerade zur Frühstückspause tauchte ein Dorf vor uns auf. Es war das zwischen Stendal und Tangermünde gelegene Bindfelde. Theodor wusste dort einen Bauer, der jedes Frühjahr zum Zuckerrübenverziehen Schuljungen und Mädchen mit seinem Fuhrwerk aus der Stadt holte. Das war ein elender Geizkragen, der zahlte für den Nachmittag bis tief in den Abend hinein nur 40 Pfennige, obwohl er bei der Anmusterung den Kindern 50 Pfennig versprach. Zum Kaffee gab's nur Schmalzstullen. „Der freut sich gewiss schon, dass wir kommen, damit er ein Frühstück auspacken kann!"
Als rechtschaffener Christ hatte dieser Bauer ein Schild an seiner Tür mit der Aufschrift „Vorsicht, bissiger Hund!", was uns nicht im mindesten schreckte. Wahrscheinlich hatte der Hund andere Begriffe von Gastfreundschaft; er sah uns freundlich an, gähnte laut, wobei man deutlich seine Zustimmung zu unserem Besuch bemerken konnte. Der Bauer saß mit seiner Familie beim Frühstück und war offenbar gleich fertig damit. Darum holte er weit aus mit seiner Rede, die er mir hielt, um mich davon zu überzeugen, dass ich bedeutend wohlhabender sei als er, dass in der Stadt jetzt ein Sündengeld verdient würde. Wer jetzt in die Munitionsfabriken geht, wird in kurzer Zeit ein schwerreicher Mann. Dagegen er, er sei schon alt und könne nicht mehr richtig weg. Ich sei noch jung und stark, da läuft man doch nicht in der Welt rum und bettelt, da müsse man doch Unternehmungsgeist haben und was sonst noch alles.
Ich hörte geduldig zu, denn den Unternehmungsgeist hatte einstweilen mein Freund Theodor. Als ich so ungefähr dachte, dass sich die Sache gemacht hätte, entschuldigte ich mich, gestört zu haben, wünschte guten Appetit, sagte höflich guten Morgen und ließ den Bauern in seiner Einbildung zurück, dass ich nun zwar noch nicht gefrühstückt habe, aber sonst doch ein besserer Mensch geworden sei durch die Kraft seiner Rede. Und kurz danach, als der Bauer bei sich dachte, na, den häste ober richtig en uppbunden, den häste ober richtig awwimmelt, ließ Theodor das Resultat seiner Unternehmungen in Form einer 1-Pfunddose Leberwurst durchmerken — durchmerken durch seinen Rucksack, denn wir waren noch auf der Dorfstraße. Der nächste Bauer war vernünftiger, er ließ zwei trockene Brotschnitten springen, die waren zwar sehr dünn, aber uns genügte es. Kurz hinter dem Dorfe erdolchten wir die Büchse, legten das Brot scheibchenweise auf die Leberwurst und fühlten uns sauwohl, so wie ein Großbauer, wenn er gefrühstückt hat. Weiter ging's. Tangermünde kam in Sicht, ein erhebender Anblick. In der Mauerstraße wohnten zwei Genossinnen mit Namen Nothse. Wir wurden wie immer von der alten Mutter Nothse freundlich empfangen und warteten dort, bis die beiden Schwestern von der Arbeit kamen.
Warum diese Freude bei Nothses? Das lässt sich nicht recht erklären. Man sitzt da, spricht und lacht und aus dem Gesicht strahlt jedem die helle Freude. Vater Nothse sagt fast nichts, aber er freut sich, er lacht, als er sieht, wie uns Mutter Nothse einen Teller mit Bücklingen und einen Topf Pellkartoffeln hinschiebt zum Abendessen. Wir essen mit großem Appetit, und die Mädels lachen dazu. Ist es das winzige kleine Häuschen an der Stadtmauer, unter dessen Dach wir alle sitzen, das diese aufrichtige gastfreundliche Stimmung macht? Ist es die alte ehrliche Haut von Vater Nothse? Sind es die guten, treuen Augen der Mutter Nothse? Oder sind's die beiden Mädels? Es ist eben proletarische Gastfreundschaft!
Am Morgen zogen wir mit einer Courage über die Elbe, dass uns der Fährmann fragte, wo wir zwei Deubels schon so früh hinwollten? — „Nach Berlin!" — „Zu Fuß?" — „Jawoll!" — „Na, da könnt ihr aber lange loofen!" — „Is nich so schlimm; über Brandenburg/Havel und Potsdam, ungefähr 120 km, knapp drei Tage." Der Fährmann lacht. — „Ihr wärd't euch umkieken, mit die Stiebein kommt ihr vielleicht überhaupt nicht hin! — Na, denn schießt man los. Juten Mojn." Und wir wetzten los. Ein Dorf hinter Jerichow sollte ausgefochten werden. Als das Dorf erreicht war, stellte sich heraus, dass der Gendarm drin war; ohne Aufenthalt ging's weiter. Im nächsten fochten wir ein paar Brotschnitten zusammen. Ehe wir daran dachten, rückte die Stadt Genthin heran.
Da war ein Laden von einem Polstergeschäft. Theodor war Polsterer. „Da jeh ick mal rin, mal sehn, wat der jibt?!" Nach einer unendlich langen Zeit kam er wieder heraus. „Mensch, wat denkste, ick sollte jleich arbeeten; ick hab' halb zujesagt, aber in den Saustall würd' ick nie arbeeten, ooch nich, wenn ick wirklich ausjelernt hätte." In Genthin befindet sich auch eine Druckerei; als wir dort
vorbeitrabten, meinte Theodor: „Hau rin, Mann!" — Ich lehnte ab. — „Kann nich, Theodor, bei uns is det anders, hab' keene Reiselegitimation und keen Verbandsbuch, aber ooch als Jehilfe, in solcher Quetsche, niemals!" —
Für die 50 Pfennige, die der Polsterer herausgelangt hatte, quälten wir einer Bäckersfrau ein Stück markenfreies Brot ab. Das war nun unser Proviant bis kurz vor Brandenburg, wo wir in einem Dorf einige Pellkartoffeln und ein bisschen Quark erwischten. Abends 1/2 10 Uhr erreichten wir Brandenburg. Da es Ende Oktober und die Kriegsbeleuchtung der Straßen miserabel war, brauchten wir eine geraume Zeit, bis wir uns ins Heim der Arbeiterjugend durchgefunden hatten.
Wie groß war die Überraschung der Genossen, so plötzlich und so spät zwei Stendaler Genossen zu -sehen. Sie staunten noch mehr, als sie hörten, dass unsere Fahrt illegal war. Auf ihre Veranlassung bekamen wir in der gewerkschaftlichen Herberge ein sauberes Bett. Jeder eine Portion Kartoffeln mit Hering und eine Flasche Selterwasser. Oben im Schlafraum angekommen, mussten wir ein Donnerwetter einstecken wegen der Störung zu so später Stunde. Wie wir ratzten, kann sich jeder denken, denn es mögen etwa 40 km gewesen sein, die wir an dem Tage zurückgelegt hatten.
Am nächsten Morgen besichtigten wir Brandenburg und erschraken nicht wenig, als uns eine Uhr bereits 1/2 10 ansagte. Unser Ziel war Potsdam, auch wieder rund 40 km. Also fegten wir los. Nachmittags in Werder angekommen, verloren wir uns auf dem Jahrmarkt. Theodor ging austreten, ich wartete lange, aber im Trubel des Marktes fand ich ihn nicht. In der Meinung, er könne gedacht haben, ich sei schon in Richtung Potsdam weiter, tippelte ich ab. Nach geraumer Zeit meldete mir ein Radfahrer, ich solle auf meinen Kollegen warten. Nach etwa zehn Minuten kam Theodor in Sicht.
Auf der Chaussee nach Caputh begegnete uns ein fragwürdiger Kollege. Wir hatten große Lust, ihn anzusprechen. Doch er war, trotzdem er offensichtlich auch auf der. Landstraße lag, so verschieden von uns, dass wir davon Abstand nahmen. In der einen Hand trug er ein Paar hochelegante Lackhalbschuhe an den Füßen dagegen rosaseidene Strümpfe, wovon allerdings sozusagen nur noch das Oberleder übrig geblieben war. Von den sorgsam gebügelten Hosen an über das streng moderne Jackett bis zum Stehkragen mit seidener Krawatte war er Kavalier auserlesenster Sorte. Sein Kopf aber passte nicht auf die Garderobe, denn er sah aus, als sei er dem Totengräber von der Schippe gerutscht. Für seine Augen fand Theo erst drei Tage später den richtigen Ausdruck. Als wir in Berlin in einem Museum vor einem Bild standen, das den gekreuzigten Jesus darstellte, sagte er: „Siehste, solche Oogen hatte der feingemachte Penner vorvorjestern ooch." —
So genau wir diesen seltenen Burschen ansahen, so wenig beachtete er uns. Er hielt es wahrscheinlich für unter seiner Würde, einen Blick an uns zu verschwenden. Wir sahen lange hinter ihm her. Er ging ganz langsam, unsicher schwankend, als müsse er Glasscherben und spitzigen Steinen ausweichen. — „Vielleicht hat'a jestern noch in Berlin in Sekt jeschwommen und vielleicht schwimmt a morjen schon in da Havel", meinte Theo.
In Caputh erbten wir zwei große Schweineschmalzstullen. Es war bereits dunkel, als wir nach Potsdam gelangten. Wo schlafen? Wir prüften gerade eine Baubude auf die Möglichkeit einer Übernachtung, als ein großer Hund ganz in der Nähe bellte. Wir glaubten uns entdeckt und rückten schleunigst ab. Nach langem vergeblichem Suchen fanden wir einen umzäunten Platz, wo eine Unmenge Wagen aller Sorten aufgefahren war. Ein Schild belehrte uns, dass es sich hier um einen königlichen Fuhrpark handelte. „Hier muss et klappen und wenn ma in eener kaiserlichen Equipage pofen müssen!" Ein Satz über den Zaun, und unbemerkt schlichen wir zwischen den Wagen einher. „Du, der Möbelwagen, wenn der uff is? Au ja, Mensch, der is uff und Stroh is drin!" Wir taten einen verhaltenen Jauchzer, als aus dem Stroh eine Stimme aufstieg, die gegen unseren Eintritt protestierte und seltsamerweise sofort mit der Polizei drohte, worauf wir ziemlich gelassen antworteten: „Na, denn lass dir man nich erwischen." Jetzt kamen wir an einen Schuppen, worin es stockfinster war. Nicht mal seine eigene Nasenspitze konnte man sehen. Wir stolperten drin herum und fühlten uns einen Wagen von vielen anderen heraus, der Polstersitze hatte und worin ein Läuferteppich lag. Die Polstersitze ließen sich abnehmen. Flachgelegt im Wagen bildeten sie eine annehmbare Matratze, mit dem Läuferteppich deckten wir uns zu und so schnarchten wir, bis — vor Kälte zitternd — an Schlaf nicht mehr zu denken war; also machten wir uns auf die Socken.
Da ertönte plötzlich von irgendwoher ein Choral. Wir waren noch im Schuppen und stritten uns, was das für ein Instrument sei und welcher Fatzke schon so früh solchen ruhestörenden Lärm mache. Von einem Glockenspiel hatten wir keine Ahnung. Dass es sich um ein solches handelte, haben wir erst erfahren, als der Spektakel noch einmal losging. Ach, wie klapperten uns vor Kälte die Zähne. Es war nicht möglich, die Zähne nicht klappern zu lassen. Nun standen wir da, hatten keine Ahnung, wo der Weg nach Berlin ging. Niemand war da, den man fragen konnte. Es war augenscheinlich noch mitten in der Nacht.
Wir froren entsetzlich und klagten über furchtbaren Hunger. Theo schlug vor, noch einmal in den Wagenschuppen zurückzukehren. Als ich den Bahnhof nannte, ging's ohne Besinnen ab. Keiner wusste, ob unsere überhastigen Schritte zum Bahnhof führten. Endlich kam uns ein Soldat entgegen, der bedeutete uns, dass der Bahnhof in entgegengesetzter Richtung läge, aber wir könnten uns Zeit lassen, es sei jetzt drei Uhr, und der Bahnhof würde erst um 1/2 5 Uhr geöffnet. Trotzdem trabten wir zum Bahnhof. Nachdem wir noch eine gute Stunde fluchend und zähneklappernd vor dem Bahnhof herumgelungert hatten, wobei Theo den Potsdamer Bahnhof als den elendesten Bahnhof hinstellte, der ihm jemals vor die Augen gekommen sei, schlüpften wir in den Wartesaal.
Zu meinem Erstaunen hatte Theodor ein paar Mohrrüben und kalte Pellkartoffeln. Wir verzehrten sie. Der Ober wünschte „Guten Appetit", um 7 Uhr schmiss er uns hinaus.
Als erstes beäugten wir die Bittschriftenlinde. Es gefiel uns rein gar nichts in Potsdam. Wir waren nicht einmal interessiert an dem sterblichen Zubehör Friedrichs des Großen. Wir krochen umher wie Bienen im März. Uns fehlte etwas, und gerade das fanden wir nicht: — Futter. Wo ein Ladenschild wissen ließ, dass ein Fleischer hier sein Quartier habe, fanden sich im Schaufenster nur Blumentöpfe. Beim Kolonialwarenhändler sah es aus wie bei einem Trödler, er besaß so allerhand, aber nichts Vernünftiges, — lauter Kartonagen, Attrappen, Blechbüchsen und einen Schwarm Tüten oder Päckchen, die allerdings schon alle entwertet waren durch den Stempel „Ersatz" oder „Surrogat".
Wir krochen die Straßen auf und ab, es war entsetzlich öde in Potsdam. Theo erfocht bei einem Meister etliche Groschen — aber
was kaufen? Wir besaßen keinerlei Lebensmittelkarten, nicht einmal Brotkarten. Zuletzt ärgerten uns all die großen Gebäude, Kirchen, Denkmäler, Kasernen. Viel Steine gab's und wenig Brot.
Ü ber eine Brücke führte die Straße nach Berlin. An dieser Straße liegt eine Stadt, die heißt Nowawes. Als wir durch Nowawes zogen, fühlten wir uns bedeutend wohler als in Potsdam. Hier gelang es uns, etliche Äpfel und ein Stück Brot zu kaufen. Mit diesem Vorrat, den wir sogleich sorglich verwahrten, da wo er am sichersten war und wo es vor Leere schon förmlich brannte, stiebelten wir die letzten Kilometer herunter und standen dann am Ziel. Berlin, das schö', Berlin, das fei', Berlin, das großartige Berlin, das verhungerte, hatte uns zu Gast. Das war ein Fest.
In der Danckelmannstraße 42 wohnte eine Tante von Theo, die suchten wir auf. Als wir nun etwa zwei Stunden bei dieser Tante gesessen hatten, und diese auf unsere lautbarsten Bedürfnisse immer noch nicht reagierte, verwandelte sich unsere anfängliche Freude darüber, einen Menschen unter diesen drei oder vier Millionen zu besitzen, der die Verpflichtung hatte, uns zu fragen, ob wir zu essen wünschten, in eine bittere, staunende Enttäuschung. Alsbald erschien ein Mädel, eine Kusine von Theo. Sie setzte sich an den Tisch: — nach kurzer Begrüßung brannte sie sich eine Zigarette an, mit den ersten tiefen Lungenzügen gab sie uns folgenden Rat: — „Tscha, wenn ihr nischt zu fressen habt, müßt'a roochen." — Dann fragte sie, wie es uns ginge, und ohne unsere Antwort abzuwarten: „Mir jeht's so lila, wenn ick bloß nich den Ärjer hätte mit meinem Kerl, aba ihr jloobt nich, wat det für'n schlechter Mensch is!" Sie erzählte uns sehr ausführlich die kompliziertesten Ehebruchsgeschichten; wir wälzten uns von einer Verlegenheit in die andere.
Plötzlich meinte die Tante, ob wir denn Elfriede nicht mal besuchen wollten? Elfriede war eine Schwester von Theo. Elfriede in Berlin? Nanu! Selbstverständlich, sofort. Neue Möglichkeiten tauchten auf. Elfriede ist bei sehr feinen Leuten in Stellung. — Sehr fein
— das war bei uns gleichbedeutend mit — sehr viel zu essen —. Wir beschlossen, so früh wie möglich morgens aufzustehen und Elfriede zu besuchen oder, besser gesagt, zu untersuchen, wie fein wohl die Leute wären, wo sie in Stellung war. Die Tante machte endlich Miene, Abendbrot zu essen. Ein Teller Haferschleim für jeden und
— aus. Die Kusine warf sich in Schale und verschwand. Die Tante zog sich aus und fragte uns, ob wir noch aufbleiben wollten? Wir wussten nicht, warum wir noch aufbleiben sollten; wir kamen uns vor, als hätten wir überhaupt keine Daseinsberechtigung. Warum waren wir denn eigentlich so schnell nach Berlin gerannt? Alles schien uns sinnlos. Wir schliefen in einem großen Bett.
Theos erste Worte am Morgen waren: „Woll'n wa nich uffstehn, det wa noch zum Kaffeetrinken nach Elfriede komm'n? De Olle jibt uns doch nischt." Anziehen, waschen ohne Seife, und schon setzten wir uns in Marschrichtung Fischerufer 22. Dort angelangt nach vielem Fragen und Suchen, hatten wir das für einen Portier anscheinend unverzeihliche Pech, ein an dem Haustor angebrachtes Schild mit der Aufschrift: „Aufgang nur für Herrschaften" zu übersehen. Er nagelte uns auf den ersten Stufen der Treppe fest. — „He, ihr mit eure Misttreter, wollt ihr mal gleich von de Treppe runter, könnt ihr nich lesen, ihr Bauern?" Lesen konnten wir zwar, aber begreifen noch nicht gleich, was der brüllende Löwe von uns verlangte.
„ Runter komm', sofort!" dröhnte es in unseren Ohren. Er stieß uns in einen Keller hinunter, knuffte uns eine ziemlich schmale Treppe wieder hinauf und zeigte mit geballter Faust auf ein Schild, indem er schrie: „Hier Aufgang für Dienstpersonal!"
Mich empörte das Verhalten des Grobians nicht wenig; ich ließ mir von Theodor bestätigen, dass wir doch hier kein Dienstpersonal wären, und Theodor wandte sich sogleich mit dieser Feststellung an den Portier, worauf dieser wieder erklärte, uns unverzüglich recht plötzlich rausschmeißen zu wollen. — Das könnte er ja mal versuchen, war unsere Antwort. — „Ihr Lauselümmels, rausrraus!" — Wir fühlten uns stark und waren aufrichtig wütend über die Beleidigung. Er stürzte auf uns zu, fragte, was wir hier zu suchen hätten, und zog sich auf. meine Antwort, dass wir Elfriede Hoff mann, meinem Kollegen seine Schwester, besuchen wollten, wieder zurück, wobei er etwas von vierter Etage knurrte.
Elfriede kippte beinahe vor Überraschung aus den Latschen. Nach zehn Minuten aßen wir bereits einen Teller Bratkartoffeln. Nach weiteren zehn Minuten tranken wir Fleischbrühe, wozu wir selbstgefertigtes Teegebäck aßen. Danach tunkten wir Brotstücke in Bratensoße. Nunmehr, meinte Elfriede, müssten wir wieder gehen, denn die Gnädige könnte unter Umständen früher aufstehen als sonst, und das gäbe einen unnötigen Spektakel. Am Abend würden wir uns bei der Tante wieder sehen. Sie gab uns noch zwei Mark mit der Erklärung: „nur vorläufig".
Nun sah Berlin schon etwas freundlicher aus. Wir gerieten in den Tiergarten und fragten uns, ob das noch Berlin sei? Als wir dann unseren Argwohn einen Spaziergänger merken ließen, staunten wir nicht wenig, dass wir nur in einem Park wären, der jedoch mitten in Berlin läge. „Gehen Sie nur immer weiter, dann kommen Sie an das Brandenburger Tor." — „Mensch, und dahinter die Bäume, det Schloss, wat? Mal'n Schutzmann fragen!" — „Morjen — Mahlzeit — Is det dat Schloss?" — „Ihr habt woll'n Piep, ihr wollt woll Leute vaäppeln? Wat?" — „Nee, det nich', wir sind hier fremd!" — „Ab, verschwinden! oder sonst jeht'a mit!" — „Mensch, hier sind de Spitze aba frech, bloß mal fragen und schon, sonst jeht'a mit." Wir fragen einen Schornsteinfeger, — keine Antwort. Ein Photograph erteilt Auskunft. Also, der Reichstag. Das interessierte uns besonders, wir gingen rund herum und stiefelten extra noch die Freitreppe hinauf. Unter den Linden! Alles entlockte uns staunende Bemerkungen. Jetzt war es der Lustgarten; wir rutschten in eine Bildergalerie, in ein Museum, selbst in die Kirche zu gehen scheuten wir nicht. Bei all der Verwunderung erinnerte Theodor rechtzeitig an die leiblichen Bedürfnisse. In der Brüderstraße, in einer stinkenden Kneipe, landeten wir und warteten laut Speisekarte auf — „Möhren in würziger Tunke." — Wir wurden enttäuscht bis in unser tiefstes Innere.
Auf einem Teller, der so flach war, dass er den Namen Teller nicht mehr verdiente, lagen erschrecklich wenig Rüben, und von der würzigen Tunke konnten wir trotz eingehender Forschung nichts entdecken, weder mit den Augen noch mit der Zunge. Zu der tiefreichenden Enttäuschung kam noch eine empörende Überraschung hinzu, als der Wirt sein „Kasse, meine Herren!?" auf uns herniederschmetterte. Der Zweimarkschein von Elfriede zerfloss in ein paar lausige eiserne Groschen. Wir fühlten uns maßlos bemogelt und zogen beleidigt ab, ohne zu grüßen.
Wir liefen durch öde graue Steinhaufen, vorbei an Menschen, Autos, geschundenen Pferden. Hass, Leid, Hunger in tausend Formen begegnete uns. Menschen, die alle irgendwo oder wie einen Knacks bekommen hatten.
Uns fror, wir hatten Hunger, Hunger eine Stunde nach dem Essen, wirklichen ehrlichen Hunger. Auf dem Lehrter Bahnhof wärmten wir uns im Wartesaal. Berlin war uns furchtbar piepe. Wir sehnten uns zurück in unsere heimatlichen Gefilde. Hier in diesem Gewühl mussten wir verloren gehen, das lag uns in den Knochen. Der Abend kroch aus allen Winkeln und Ecken, Kellern, Toren und Kanälen, nur noch der Himmel zeigte einen gelben Schein. Ein Tag schlich sich hinweg von dieser Erdenhälfte, gleichsam als hätte er die Schnauze voll. Wir schleppten unseren Kohldampf mühsam nach Charlottenburg zurück. Einer trabte hinter dem anderen her. Jede Lust zur Unterhaltung, unser sonst so reger Mitteilungstrieb war uns abhanden gekommen. Theodor ging etwas lahm, weil seine Schuhe drückten. Ich betrachtete ihn von hinten und dachte so beiläufig, es könne kaum noch der alte Theo sein, er schien kleiner geworden. Unser Weg ging wieder durch den Tiergarten; dann endlos geradeaus. Rechts ab geht die Danckelmannstraße, das wussten wir, also nur bei jeder Seitenstraße das Schild lesen. Rechts herum — endlich kommt Nr. 42. Da is' keener zu Hause, meinte Theodor und setzte sich auf das Fensterbrett im Treppenflur. Und wirklich, mit dieser Tante klappte es ganz und gar nicht. Sie ließ uns lange warten. Als wir gerade unseren Geduldsfaden abreißen lassen wollten, kam sie angetrottelt. Bald danach ließ sich auch Elfriede sehen, was uns sichtlich erheiterte. Denn das gute Mädchen hatte sich nicht lumpen lassen und brachte das so heiß ersehnte Abendbrot mit.
Wieder lagen wir in der Kapsel und wieder tippelten wir in Richtung Berlin. Wieder lungerten wir im Museum und in der Bildergalerie umher, jedoch alles war uns schnuppe. Die Stilleben mit herrlichen Früchten, Geflügel, Wein und Delikatessen ließen uns das Wasser im Munde zusammenlaufen. Wir hätten gern das ganze Berlin gegen ein einziges fettes altmärkisches Dorf ausgetauscht. Wir fassten den Entschluss zu flüchten, gleich morgen in aller Frühe. Vorgesehen hatten wir drei Tage Marsch über Rathenow nach Stendal zurück. Elfriede machte einen Strich durch diese Rechnung, indem sie ihre milde Hand noch einmal auftat und ein Almosen fallen ließ auf unser sündiges Haupt.
Damit gingen wir zum Lehrter Bahnhof und dampften ab. Wir hatten von unserem Empfang in Stendal eine üble Vorstellung. Kein Mensch wusste, wohin wir getürmt waren, darum vermuteten wir ein etwas stürmisches Wiedersehen von seiten unserer Eltern. Vor dem Meister und seiner Standpauke fürchteten wir uns absolut nicht. Mochte der seinen Seilerabi runterleiern, er leierte bei jedem Mist. Hunde, die viel bellen, beißen nicht. Aber alle, alle konnten hinter ihren kunstvoll zurechtgelegten Zornesäußerungen ihre aufrichtige Freude über unsere glückliche Rückkehr nicht verbergen.
Wir agitierten in der Jugend, bemühten uns redlich um das Organisatorische. Sahen weiter zu, wie wir auf unsere Art dem langsamen Hungertod, der damals von Staats wegen für jeden Deutschen minderen Einkommens obligatorisch war, entrinnen konnten.
Und ich muss sagen, durch alle Komplikationen dieser Zeit mogelten wir uns ehrlich durch. Nur ein Problem reifte heran, mit dem nicht alle sogleich fertig wurden; das war des Sexualproblem. Fast ohne jede ordentliche Aufklärung quälten wir uns damit herum. Ich entsinne mich noch deutlich des riesigen Schrecks, den ich bekam, als ich den ersten Samenerguss erlebte. Ich weiß sogar noch heute das Datum. Ich war siebzehnjährig, es war am 5. Januar. Wir waren bis spät abends Schlittschuh gelaufen und hatten uns dabei mit Mädels herumgebalgt. Ein Fräulein Butterwein, vielleicht zwei Jahre älter als ich, ließ mich allzu deutlich merken, dass sie eine stramme Brust, ein Paar schicke Waden und einen heißen Mund hatte. Sie küsste mich reichlich. Beim Holländern purzelten wir aufs Eis. Eine halbe Stunde wohl aalten wir uns da unten. Fräulein Butterwein hoffte vergebens; ich fand einfach nicht den Mut, obgleich ich ungeheuer erregt war. Ich war ein großes Kamel, ein Schlappschwanz, ein Rino, ein Feigling, ein Nachtwächter usw. Mit dieser Meinung von mir zog ich zerknirscht heimwärts.
Im Bett wälzte ich mich herum und träumte die ganze Nacht von Fräulein Butterwein, halb schlafend und halb wachend, immer maßlos erregt. Verwünschte und verfluchte alle Frauen, um sie in der nächsten Minute zu verhimmeln und dann wieder zu verdonnern. Fräulein Butterwein, die ich niemals in unsere Mädchengruppe aufgenommen hätte, weil sie mir nicht würdig erschien, die überhaupt nichts von dem hatte, was mein Idealbild eines Mädchens ausmachte, dieses halbfette, durchwachsene Weib mit dickem Busen wurde ich in dieser Nacht nicht wieder los. Den Rücken herauf und hinunter kroch ein Schauer nach dem anderen, mein Leib schien platzen zu wollen vor bisher nie gekannten und nie geahnten Gefühlen. Plötzlich gab es einen sausenden Sturz, alle Welt stürzte mit mir.
Aus dieser Seligkeit erwachte ich schnell, und nun kamen die Geister des Zweifels und fragten mich immer eindringlicher nach Ursache und Wirkung. Das Unvermögen, diese Fragen zu klären, ließ einen tiefen Riss in meinem Gewissen zurück. Der Ekel, den ich bisher empfand, wenn ich sah, wie beispielsweise in der Fortbildungsschule oder auch anderswo manche Jugendlichen onanierten, schlich sich nun in mich hinein, vor mir selbst. Ich legte mir meinen Plan zurecht, indem ich beschloss, kein Mädel mehr zu berühren. Das setzte ich dann auch durch und wurde wieder stark.
Den 5. Januar strich ich in jedem Kalender durch, ich wollte ihn nicht erlebt haben, bis ich den 9. März erlebte. Die Geschichte war fast dieselbe, nur handelte es sich um eine andere Schöne. Das brachte mich natürlich gänzlich aus der Fasson. Nunmehr kam ich im Verlaufe eindringlichen Forschens zu einem vernünftigen Entschluss. Ich las bei Rabindranath Tagore den für meine fernere Einstellung zur Weiblichkeit bedeutsamen Satz „Entsagung macht nicht selig".
Am 14. April schon machte ich die erste Eroberung. An Tapferkeit mangelte es mir absolut gar nicht, ich war dabei energisch und ausdauernd trotz denkbar ungünstigster Umstände. Stundenlang peinigte ich meine Auserwählte, bis endlich das erreicht war, was ich wollte. Die Onanie war eine erledigte Sache, nur für Schlappschwänze, Feiglinge, Rinos und dumme Jungs. Ich wurde zum Don Juan. Ich prahlte mächtig bei meinen Genossen mit meinen Erfolgen bei den Frauen. Sie waren auch wirklich nicht wenig neugierig, wollten alles genau wissen, aber auch alles wollten sie wissen. Auch das, was ich selbst noch nicht wusste. In demselben Sommer bis zum Winter hatte ich schon fünf Verhältnisse angefangen und beendigt. Erst sehr spät habe ich erkannt, dass diese Art, Frauen zu behandeln, keineswegs die richtige ist. Aber ich glaubte damals den richtigen Weg gefunden zu haben, und bei tieferem Nachdenken und Studium der Wege, die andere gegangen sind, muss ich doch wohl sagen, dass meine Art von damals noch nicht die schlechteste war, denn ich habe bei diesen Liebeshändeln sozusagen meine Pappenheimer gekannt und bin meistens dort gelandet, wo es nicht mehr viel zu verderben gab.
Die Fronten verlangten Menschen, Kanonenfutter. Bald besann man sich auch auf mich. Im Verkehr mit den Behörden habe ich immer einen fabelhaften Torkel, und so glückte es auch mit der ersten Musterung, wo man mich zweifellos gekapert hätte, wenn ich nicht vorher einen Stellungswechsel vorgenommen hätte. Drei Tage bevor ich auslernte, wollte mich der Militärarzt sehen, um festzustellen, ob meine Knochen zum Kaputtschießen taugten. Ich machte mich schleunigst dünn, übersiedelte vom IV. Armeekorpsbezirk in den III. Hier ließ man mich tatsächlich zwei Monate als Gehilfe arbeiten, um dann erneut den Wunsch zu äußern: „Sie haben sich am... usw." Ich probierte einen Trick, um als Halb- oder Scheintoter den Arzt zu täuschen und ihm an Stelle des kriegsverwendungsfähig ein kirchhofsverwendungsfähig abzuknöpfen.
Drei Tage und Nächte aß ich nichts, sondern trank nur Kaffee mit etwas Milch. Die Vorstellung hatte folgenden Inhalt: „Na, treten Sie doch näher, sind Sie nicht so bange, hier wird noch nicht geschossen. Der Kerl hat wenigstens 'n bisschen Hautfarbe. Am Schwanz alles normal? Sonst gesund? Kv, Feldartillerie, raus." Also für Feldartillerie kv. Ich hatte umsonst gehungert, und voll Grimm stürzte ich mich auf die Lebensmittelgeschäfte von Perleberg in der Prignitz und kaufte alles in beliebigen Mengen ein — Butter, Käse, Wurst und Brot. Was ist das doch für eine herrliche Sache, wenn man Stadtrat von Wittenberge ist, von jeder Karte reichlich einstecken hat und infolgedessen in der ganzen Westprignitz leben kann, so fett und so viel man will.
Ich war nun zwar nicht Stadtrat, aber ich hatte diese Methode einem Wittenberger Stadtrat abgelauscht. Und da ich bei der Firma Gotthardt in Wittenberge für die Westprignitz Lebensmittelkarten herzustellen hatte, unterschied ich mich von einem Stadtrat nur insofern, als ich nur in Lebensmittelkarten machte und nicht noch, wie besagter Herr, in feuerfestem Patriotismus. Der Stadtvater hatte solchen Umsatz in Lebensmittelkarten, dass ihm die beim Magistrat erschobenen unmöglich genügen konnten. Darum holte er sich die noch fehlenden gleich beim Drucker. Er kam zu uns in die Bude, rührte einen großen vaterländischen Käse ein mit Sieg und Tod, Heil Kaiser Dir und Deutschland, Deutschland über alles, packte für uns drei Gehilfen Geschenke aus, wie Ia Parfümseife, Ia Überseezigaretten und anderes mehr, und nahm sich dafür etliche Bogen
Ia—d Brotkarten mit. Leider ist mir der Name dieses Predigers vom Durchhalten bis zum siegreichen Ende entfallen, aber sollte von meinen damaligen Mitarbeitern noch einer in Wittenberge sein, so wird er sich vielleicht daran erinnern.
Ich wohnte bei einer Frau Schmidt in der Mühlenstraße, das war eine Frau, die ein großes Geheimnis bewahrte. Eines Tages fragte ich, ob sie etwa Mangel an Brot-, Butter- oder Fleisch karten habe; doch sie verneinte das zu meinem nicht geringen Erstaunen. Ich hätte gern gewusst, wo sie ihren Bedarf deckte, aber nichts kam über ihre Lippen. Ihre Tochter war etwas offener und sprach von Verbindungen beim Magistrat. Also das Geschäft war jedenfalls ein weitverzweigtes. Hatte aber einmal eine arme, durch den Kriegszauber nervös gewordene Hausfrau ihre sämtlichen Brotkarten für 4 Wochen irgendwie verbummelt oder verloren, so genügten selbst ehrlich geweinte Tränen vor dem hohen Rat der Stadt nicht, um einen Ersatz gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Da ließ man sich nicht erweichen: — denn man war doch mitten drin im Durchhalten und Stahlbaden! —
Bald holte ich aus meinem Briefkasten den verfluchten roten Wisch, wonach ich mich in Perleberg bei der Artillerie zu melden hatte. Wie wenig Respekt ich vor der ganzen Militärgeschichte hatte, lässt sich daraus ermessen, dass ich einfach nicht zur Artillerie nach Perleberg ging, sondern nach Magdeburg. Perleberg ist ein elendes Nest: mit der Arbeiterbewegung war dort seinerzeit gar nichts los. In Magdeburg würde es mir besser gefallen, so dachte ich, und mit zwei Tagen Verzögerung kam ich in der Kaserne des Feldartillerie-Regiments 4 an. Man war nicht wenig erstaunt über meine Frechheit, wollte mich sofort wieder nach Perleberg schicken, jedoch auf meine Aussage, dass ich bestimmt nicht hingehen würde, sondern dann überhaupt auf den ganzen Schwindel verzichte, ließ man mich warten auf der Schreibstube. Endlich kam so ein Kerl herein, der seiner Abzeichen und schnoddrigen Stimme nach ein Leutnant war. Mein Fall wurde ihm vorgetragen. „Kerl, hast du eine Ahnung, was das kostet?" — Ich gab keine Antwort, tat so, als ob ich nicht da sei. Er krähte weiter. „Die Koteletten verschwinden hier natürlich, verstanden? — Die kannst du dir wieder wachsen lassen, wenn du Leutnant geworden bist!" — Ich: „Ich habe nicht die Absicht, hier etwas zu werden!" — Worauf er brüllte: „Morgen beim Antreten sind die
Koteletten weg, verstanden? — verrrstanden? Morgen sind die Koteletten weg! Na, mein Lieber, wir werden dir schon die Hammelbeene lang zieh'n!" '
Ich wurde auf Stube 85 geschickt und fand dort einen Jugendgenossen Walter Schulz aus Stendal. Das war ein freudiges Wiedersehn. Walter hatte schon zwei Tage mitgemacht und erzählte eifrig von seiner neuen Lage. Das interessierte mich herzlich wenig. Einen kleinen Schreck bekam ich allerdings, als er sagte, dass in den ersten vier Wochen das außerdienstliche Verlassen der Kaserne verboten war. Im selben Moment beschloss ich bei mir, das Verbot recht oft zu übertreten. Am anderen Tag hatte ich auf die Kammer zu gehen und meine Lumpen zu holen. Das Wort „Lumpen" ist geschmeichelt für die Kluft, die man mir da vererbte. Der Kammerunteroffizier schien aus irgendeinem Grunde schlechte Laune zu haben. Er pfefferte mir das Gelumpe teils vor die Füße, teils schmiss er es mir an den Kopf und schob mich zur Tür hinaus, nachdem er meinen Namen notiert hatte.
Als ich mich auf der Bude umgezogen hatte, sah ich aus wie ein Schutzmann im Kasperletheater. Nichts passte; die Hose war viel zu kurz, der Waffenrock viel zu groß. Es sah aus, als hätte ich kurze Hosen und einen Überzieher an. Die blaue Feldmütze mit schwarzem Rand verdeckte meine Ohren, da sie bedeutend zu groß war. Die kurzschäftigen Stiefel waren offenbar noch aus der Zeit von 1870/71. Mindestens fünf Zentimeter zu groß. Ich habe kleine Füße und konnte die Stiefel mit einer Bewegung des Beines vom Fuß herunter in jede beliebige Ecke werfen. Der Genosse Schulz erzählte, dass Genosse Sanftleben aus Stendal wahrscheinlich als Pionier ebenfalls in Magdeburg sei. Sofort machte ich mich auf die Suche nach ihm, trotzdem das Verlassen der Kaserne verboten war. Mit List, indem ich neben einem Wagen herschlich, passierte ich den Posten und erreichte die Straße. Mein Kostüm verfehlte seine Wirkung nicht, alles feixte; Chargierte, denen ich begegnete, grüßte ich nicht, trotzdem gelangte ich unbehelligt in die Kaserne der Pioniere. Auf dem Treppenflur dort prangte ein großes Schild. „Kein schön'rer Tod ist in der Welt, als vor dem Feind erschlagen." Ich dachte, wenn dich der Feind so sieht, kann er vor Lachen nicht schießen.
Sanftleben fand ich nicht. Ich kam zurück und hatte den Empfang von Kommissbrot versäumt, als Nachzügler sollte ich nichts mehr bekommen. Weil ich kein Brot hatte, trat ich am anderen Morgen nicht mit an und blieb einfach in der Klappe liegen. In diesen Mußestunden bis Mittag machte ich eine recht unangenehme Entdeckung, nämlich, dass Stube 85 von Wanzen wimmelte. Reihenweise saßen die Viecher in den Nähten der Matratzen. Zum Mittag sagte mir Walter, dass er nicht bemerkt habe, ob ich beim Antreten aufgerufen worden sei. Am Nachmittag verkrümelte ich mich in die Stadt und kehrte erst kurz vor Zapfenstreich zurück. Beim nächsten Mittagessen wusste ich genau, dass ich nicht aufgerufen worden war.
Ei verflucht, das war ja blendend, die Hunde haben dich also noch nicht richtig registriert. Am Nachmittag rückte ich dem Kammerunteroffizier auf die Bude und verlangte im Auftrag des Wachtmeisters bessere Lumpen. Der erschrak über die von ihm selbst verursachte Karikatur und ließ sich freundlich herab, mir zu gestatten, selbst aussuchen zu dürfen, was ich brauchte. Er fragte ängstlich, ob der Wachtmeister etwas von ihm erwähnt hätte; als ich das verneinte, freute er sich. Ich bereute, dass ich nicht auch das Drillichzeug zum Umtausch mitgebracht hatte. Ich passte alles sorgfältig an und ging als ordentlich angezogener Kanonier eine Stunde später auf dem Breiten Weg, der Hauptstraße Magdeburgs, spazieren.
Mit einem Jugendgenossen, den ich auf der Straße traf, kam ich in ein Gespräch, er gehörte zur Opposition. Wir machten unserem Herzen Luft über alles, was uns bedrängte. Über die elende Schlappheit der Führer konnte er sich kaum mäßigen. — „Kein, auch nicht das leiseste Wort des Widerspruchs gegen diesen furchtbaren Mord
und Hunger-----------Hoch lebe Karl Liebknecht — ja, Karl Lieb-
kecht und sonst nichts-------Lumpen, Feiglinge, korrumpiertes Gesindel, die Russen in der Schweiz geben Flugblätter heraus-------Genosse, ich habe Vertrauen zu dir-------nimm etliche mit in die Kaserne -------aber nicht öffentlich verteilen-------irgendwo auf dem
Tisch oder so liegen lassen, und wenn man dich doch erwischt, nichts
verraten-------." Ich ging mit in seine Wohnung, es war ein Bursche,
wie er in dieser Zeit mit der Laterne gesucht werden musste. Er sah halb verhungert aus, blass bis in die Nasenlöcher. Sprach fortwährend von der bevorstehenden Revolution. — Wo mag er jetzt sein? Ich steckte etwa 30—40 Flugblätter ein und ging zurück in die Kaserne.
Der nächste Tag war ein Sonntag. Gleich morgens verduftete ich. Strolchte an der Elbe umher und sonnte mich in der heißen Mittagssonne im Sande. In einer kleinen Kneipe aß ich eine Portion Kartoffelsalat, neben mir saß ein Soldat und aß dasselbe. Er war bereits an der Front gewesen und schimpfte auf das elende Fressen in Magdeburg. Solchen Fraß gäbe es nirgends, alles sei Betrug, er hätte sich fest vorgenommen, nicht wieder an die Front zu gehen und koste es Festung.
Am Nachmittag passierte ein kleiner Zwischenfall. Ich saß auf einem der Dampfer, die von der Strombrücke zur Salzquelle (einem Gartenlokal an der Elbe) fahren, als ich von einem Offizier angesprochen wurde. „Seit wann sind Sie denn Soldat?" — „Seit 6 Wochen!" — So, und da wissen Sie noch nicht, wo das Koppelschloss zu sitzen hat und die Kokarde? Und machen Sie sich gefälligst den Kragen zu!" Alle Passagiere lachten. Der Fatzke fühlte sich geschmeichelt, ließ sich zu einem Witz herab, indem er sagte: „Wenn Sie so in der Salzquelle herumlaufen, guckt Sie kein Mädel an, dann müssen Sie heute abend ohne Braut nach Hause gehen!" Ich dachte: Lecke mich doch am Arsch, du Affe, — schlug unbeholfen die Hacken zusammen und machte mich hinunter in die Kajüte.
In der „Salzquelle" war Militärkonzert. Ein Mädel mit einem himmelblauen Hut saß einsam an einem Tisch. Dreimal ging ich vorbei. Diese Mädchenaugen schienen am besten dazu angetan, den militärischen Kotz für ein paar Stunden vergessen zu machen. Ich bat in guter Manier, Platz nehmen zu dürfen, bestellte zwei helle Bier, und wir plauderten von gleichgültigen Dingen. Sie war sehr lebhaft, erzählte von ihrer Arbeit in Premnitz in der Pulverfabrik und bat mich, den Ober aus ihrer Tasche bezahlen zu dürfen. Ich nahm dieses Anerbieten mit aufrichtiger Freude an. — „Ich würde glatt ablehnen, Fräulein, wenn mein Einkommen mehr als 33 Pfennig den Tag betrüge." — „Sehen Sie, ich verdiene das Dreifache in einer Stunde, und dann bin ich ja extra von Premnitz nach Magdeburg gekommen, um mich mal zu amüsieren. Was hat man denn dort in der Giftbude vom Leben?" — „Allerdings recht wenig." — „Gestatten Sie, können Sie rudern?" — „Aber durchaus, Fräulein, wenn Sie Lust haben, kann's sofort losgehen." —
Ich ruderte. Ihre dunklen schönen Augen glänzten in der herrlichen sommerlichen Sonne. Wir lachten und scherzten fortwährend. Sie saß am Ruder und fuhr sehr oft unter das dichte Uferlaub. Ich zog die Riemen ein, sprang aus dem Boot, machte es an einem Baum fest. Wir setzten uns, und ich legte meinen Arm um ihre Schulter. Dieser schlanke Hals, das braune lockige Haar, die kibitzigen Augen, der Geruch ihrer frischen Wäsche sowie ihrer Haut, das Sonnenspiel durch das Blätterwerk, alles das machte einen strahlenden Punkt hinter die Misere der letzten Tage.
Sie atmete tief und hob ihren Busen höher zu mir hinauf, dabei sah sie mich fast ernsthaft von unten herauf an. Ich küsste ihren blassen Mund. Mit ihren Zähnen hielt sie meine Zunge fest, — lange.
— Pulverfabrik und Kaserne gingen unter im Kusse zweier Menschen, deren Blut nach Liebe verlangte. Nach diesem Kuss erschrak ich fast über den Zug der Bitternis in ihrem blassen Antlitz. Ihre Augen hatten den schelmischen Ausdruck verloren. Frage, Sehnen und Zweifel zugleich spiegelten sich wider. Ich fragte behutsam, ob sie vielleicht einen Kummer habe?
Ihr Vater war im vorigen Sommer gefallen. Vier Wochen später starb die Mutter infolge Krankheit und Gram. — „Ich bin so einsam!" — Die Frage in ihren Augen wuchs und ward zur Barrikade gegen die Eroberungslust meines Fleisches. Sie legte ihren Kopf in meinen Schoß und weinte. Das Mitleid kroch mir den Kehlkopf hinauf und versperrte die Worte der Teilnahme. Vater und Mutter hat der Krieg gemordet und sie und ich im Dienst des Mörders. Wo ist hier die starke Kette, die uns in der Fron für dieses Scheusal, trotz Hass und Bedrängnis, festhielt? Warum geht ein Volk solchen Leidensweg? Jahre hindurch! Warum ging der Soldat immer wieder in Feuerstellung, wo er doch des Todes eisigen Atem so deutlich verspürte? Waren alle Menschen von der Notwendigkeit des Krieges überzeugt? Überzeugt bis zum Heldentod?! Niemals! Keiner war da, der nicht einen Hoffnungsschimmer hegte, hindurchzukommen, ohne allzu großen Schaden zu nehmen.
Ich fragte, ob sie sonst keine Angehörigen mehr habe, was sie verneinte. „Auch kein Verhältnis?" — „Nein!" — „Warum nicht?"
— „Ach die Männer sind heute ja so schlecht, man kann keinem mehr trauen. Ich bin schon so oft betrogen worden." Ich fand nicht die rechten Worte zur Erwiderung und versuchte zu erklären: „Aber doch nicht alle sind schlecht, es gibt noch anständige." — Mir wurde ganz unwohl in der Nähe dieses armen Geschöpfes. Verdammt, was war ich für ein schlechter Kerl, mit welchen Absichten kam ich zu ihr?
Plötzlich schlug sie mit der Hand aufs Wasser, dass es klatschte, und sagte wegwerfend: „Ach, ist ja alles großer Mist, — was nützt das Flennen, es muss gefressen werden wie's kommt. Fahren Sie nach der anderen Seite, da steigen wir aus und spielen im Sand, ich bezahle das Boot für zwei Stunden." Wir stiegen aus dem Boot, ich zog meinen Rock aus und das Mädel Schuhe und Strümpfe. Ich vergrub ihre Beine bis über die Knie in den Sand. Ich küsste sie, sie küsste mich, wir küssten uns. Ei verflucht, wie schien die Sonne so heiß und stand doch schon so tief. Unsere Körper erglühten in der Sehnsucht, ineinander zu verschmelzen. Ich ruderte das Boot zurück zum Verleiher. Drei Stunden musste mein Mädel blechen. Nun saßen wir wieder im Garten der „Salzquelle", aßen Schaumtorte, Sülze und Kartoffelsalat. Die Militärkapelle spielte einen zackigen Marsch.
„ So kaputt oder so kaputt", sagte mein Mädel, winkte dem Ober und bestellte eine Flasche Wein. Es wurde bereits dunkel unter den Bäumen im Garten. Sie kitzelte mich und lachte unbändig dabei. Johanna, Hanna, Hanne, Hannchen singt:
Wir geh'n kaputt putte putt, Wir geh'n kaputt putte putt, Wir geh'n kaputt putte putt,
Wir geh'n kaputt! Wir leben sowieso, Wir leben sowieso, Wir leben sowieso ' Nicht lange mehr!
„ Ich erzähl dir einen Witz, den hab ich von Premnitz; — was meinst du, was da für Witze erzählt werden? Na also pass auf: Eine Magd sollte beichten beim Pfaffen, wie viel mal sie's schon gemacht habe, aber sie schämte sich erst so'n bisschen und wollte nicht raus mit der Sprache. Na, der Pfaffe hilft nach und meint, das müsste sie doch wissen, so drei- oder viermal? oder so? Nein, sagt die Magd. Nun, dann sag's endlich, mein liebes Kind, meint der Pfaffe freundlich, wie viel mal? Nein, ich sag's nicht, spricht die Magd. Dann hör', was ich dir sage, spricht der Pfaffe: Morgen ist Sonntag, da kommst du eine Stunde vor Kirchgang und bringst mir für jedes Mal, wo du's schon gemacht hast, einen Apfel?! Na schön. Am Sonntag sitzt der Pfaffe in der Kirche und lauert auf das Mädchen. Plötzlich geht die Kirchtür auf und das Mädel kommt mit einer Schubkarre voll Äpfel in die Kirche gefahren. O weh, o weh, schreit der Pfaffe. Man nich' uffregen, ich komme noch enn paarmal, sagt sie. — Dufte, was??"
„ Es kommt ein Gewitter heute noch, es ist andauernd Wetterleuchten. — Das beste wird sein, wir verduften!" — „Ach, mit euch ist es Scheiße, ihr müsst ja immer um zehn in die Falle!" — „Aber nur, wenn wir wollen, so ängstlich bin ich darin nicht, meine gute Hanne. Falls du Lust hast, bleibe ich die ganze Nacht hier sitzen. — Übrigens sag mal, wann gedenkst denn du dein Premnitz wieder zu sehen?" — „Hach, wegen mir am liebsten überhaupt nicht, ich habe keine Sehnsucht." — „Doch, ich habe große Sehnsucht, rate mal was?" — „Nach was?" — „Ratste nich!" — Na, nach was hast du denn Sehnsucht, fangen wir mal so an." — „Ich? Sehnsucht? Nach einem Haufen Geld und auf den Bahnhof." — „Ach, Quatsch, nichts wünschen, was nicht in Erfüllung gehen kann. Keine Luftschlösser, mein Ludewig, immer hübsch mit den Füßen auf der Erde bleiben, nicht wahr? Und berichte deine Sehnsucht!" — „Nach dem Bettzipfel, aber ohne Wanzen!" — „Also nach der Flohkiste hast du Sehnsucht?! — Sag Schatzi, hast du gar keine Sehnsucht nach mir?" — „Na gut, auch noch nach dir!" — „Nach mir und — dem Bettzipfel. Du bist ein Schlaumeier, so hintenrum kommst du, du, du Schlingel! — Komm, wir gehen jetzt. — Oder wollen wir noch was essen, oder vielleicht noch was trinken?" —
Es blitzte stark. Infolge der Gewitterstimmung hatten sich fast alle Gäste auf den Heimweg gemacht. Der Ober brachte die bestellte Portion Torte. Ein elender Kleister, nicht ein Fünftel von dem wert, was Hanne dafür bezahlte. Es war eine Schande, das sauer verdiente Geld dafür auszuwerfen. Jedoch für solche Überlegungen war jetzt keine Zeit. Es drängte in uns beiden zu einer Entladung. Wir schluckten die Torte hinunter. Eine sündhafte Summe schluckte der Ober. Die Wege zur Dampferhaltestelle waren nicht menschenleer. Wir fieberten. In den kurzen Sekunden, wo wir uns unbeobachtet glaubten, hatte es den Anschein, als wollte der eine den anderen fressen, so hastig und hitzig folgten die Küsse.
Es fing an, in einzelnen großen Tropfen zu regnen. Lauter und lauter rollte der Donner. Am Dampfer warteten die Passagiere. Alles ging in die Kajüte. Nur drei oder vier Personen außer uns saßen auf dem Deck. Als es nun anfing, stärker zu regnen, blieben wir allein oben. Grelle Blitze rissen weiße Löcher in die pechschwarze Nacht. Laut brüllte der Donner.
Dem Boot entstiegen, führte uns der Weg direkt in ein Hotel, ich glaube, es war der „Weiße Bär". Als ich am andern Morgen in meine noch feuchte Uniform kroch, überlegte ich ernsthaft, ob ich überhaupt in die Kaserne zurückkehren oder den ganzen Mist an den Nagel hängen sollte. Nach einem langen Abschied und einer Verabredung auf Wiedersehen kroch ich hinein in den Misthaufen Kaserne.
Am Mittag eröffneten mir meine Kameraden, dass ich gesucht worden sei und dass man Flugblätter bei der Spindrevision gefunden hätte, wofür ich schwer bestraft würde. Man holte mich auf die Schreibstube, wo man umständlich nach Herkunft und Zweck der Flugblätter forschte. Ich sagte mit überzeugender Harmlosigkeit: „Was steht denn drin in den Dingern? Ich habe sie noch nicht gelesen, ich habe sie selbst erst am Freitag bekommen." — „Woher haben Sie die Flugblätter bezogen?" — „Die hat mir am Tor ein Mann gegeben; ich solle sie hier verteilen." — „Sie wollen doch nicht behaupten, dass man Ihnen zufällig, als Sie am Tor gestanden haben, die Blätter in die Hand gegeben hat?!" — „Nee, am Tor gestanden habe ich nicht. So beim Hineingehen, da hat er sie mir gegeben." „Beim Hineingehen? Dann sind Sie also draußen gewesen?" „Jawohl." „Wann war das?" „Am Freitag." „Wann sind Sie am Freitag in die Stadt gegangen?" „So gegen Mittag." „Sie wissen doch, dass das außerdienstliche Verlassen der Kaserne verboten ist?!" „Jawohl; aber was soll man denn den ganzen Tag vor Langeweile machen? Man kann doch nicht dauernd im Bett liegen." Der Silberbeschlagene wendet sich erstaunt an den Wachtmeister. „Ich bin perplex, der Kerl redet von Langeweile, haben denn Ihre Leute so wenig Dienst, dass sie vormittags nicht mehr wissen, was sie anfangen sollen?" — Verlegenheitspause bei der ganzen Schreibstubenbande.
Dem Engschäftigen steigt das Blut in den Kopf, er hebt beide Fäuste in Höhe der Ordenslatte und brüllt, indem er die Fäuste hinunterschmettert: — „Erklären Sie gefälligst diesen Zustand, ich bin perplex, reden Sie!" — Der Wachtmeister schmeißt sich in die Brust, wie eine Sau in den Dreck, aber dann ist Schluss mit seiner Courage. Er bringt zusammenhanglos seine Dienstausgabe der letzten Tage hervor, während ihn der Offizier, sich an mich wendend, unterbricht: „Wo waren Sie, wenn Ihre Batterie exerzierte?" — „Die ersten Tage bin ich immer in der Stube geblieben, aber dann wurde mir das..." — „Sie wussten doch, dass Dienst war?" — „Ja, das wusste ich, aber Dienst war überall, ich war auch schon öfter bei den Pferden im Stall, aber da wurde ich vorgestern rausgeschmissen und wo sollte ich denn Dienst machen?" Der mit den farbigen Bändern an der Brust nimmt ein Aktenbündel und schmeißt es auf den Tisch, dass der Staub hoch aufwirbelt, und mit wütendem Pathos schreit er: „Unerhörte Schweinerei, wozu sind Sie hier, wozu sind Sie eigentlich da?! — Erklären Sie mir, zu was Sie hier sitzen!" Er wendet sich an die Schreiberseelen, die ihn anstarren, als sollten sie im nächsten Moment gefressen werden. — „Ich bin einfach perplex, der Mann weiß nach tagelanger Anwesenheit noch nicht, wo er Dienst zu machen hat! Ich frage, wozu hat die Batterie eine Schreibstube? Wozu hat die Batterie fünfzehn oder zwanzig Unteroffiziere, wenn der Mann noch nicht weiß, wo er Dienst zu machen hat?! Kanonier Turek, lassen Sie sich sagen, was Sie am Nachmittag für einen Dienst haben." —
Der Wachtmeister schnüffelt in seinen Papieren herum und beginnt: „2—4 Geschützexerzieren, 4—5 Turnstunde, 5—6 Instruktionsstunde am Einheitsgeschoß der 10,5-Steilfeuerhaubitze 09 neuer Art, 6—7 Putz- und Flickstunde. Nachdem Dienstausgabe für morgen." „Kanonier Turek, Sie können gehen."
„ Pschakrew pironie, ollalla o jejuje, Jubit twoiju matj, nimi Salami di makaroni, damd, Cholera kurwei!" Das ist ein Grund zum Fluchen, das ist ein Fluch zum Grunzen! Solche Schmiere und solchen Torkel. Meine Fresse, dir werden se jetzt schnicken. Wir sind bei der Turnstunde, als plötzlich der Ordenbeladene erscheint. Er stellt sich hin und schaut sich die Stümperei unserer Gruppe an. Die Oberschlesier, krumm und lahm geschuftete Bergleute, sind am Gerät steif wie ein Bock, sie stolpern am Pferd herum, als hätten sie einen Pfahl im Hintern. — „Wer kann den Langsprung über das Pferd? — Passt auf, Kerls, ich mach's euch vor." Zwar nicht exakt, aber er wuppst drüberweg. — „Nachmachen!" — Kein Mensch rührt sich. — „Unteroffizier, nehmen Sie diese Übung durch, fangen Sie selbst gleich an." Der Arme nimmt einen furchtbaren Anlauf und trudelt in den Sand. Was nachfolgend geschah, wäre eine blendende Varietenummer gewesen. Der Hauptmann amüsiert sich. Jeder muss es versuchen. Die meisten rennen gegen das Gerät, als wäre es ein Kunststück, da nur hinaufzuspringen. Die Gruppe feixt, als Franz an die Reihe kommt. Franz war das Original. Jede Kompanie oder Formation hat ihr Original; unsere Batterie besaß in Franz Cef eine Größe, die in nichts zu überbieten war.
Franz ist dran, — tritt vor, sagt laut und deutlich in seinem wasserpolnischen Schuldeutsch: „Liebe Leite, hat doch nich Sweck, komm ja doch nich ripper —" und tritt wieder zurück. — „Halt"
— brüllt der Hauptmann — „will dir gleich bei doch nich ripper!"
— „Aber, Herr Leitnant, es geht nich, wenn nich so hart wär' der Bock." — „Das ist kein Bock, das ist ein Pferd! — Marsch, springen!"
— Franz nimmt einen Anlauf, hüpft umständlich wie eine alte Nebelkrähe und bleibt am Gerät stehen. „Ich bedaure serr, Herr Leitnant, is nix su machen." — „Schere dich zum Teufel, du Idiot." — Innerlich lachte sich der Kerl halbtot, um sich aber den Respekt nicht zu vergeben, befahl er: „Der Nächste weitermachen". Dasselbe Elend, keiner von diesen ehrlichen Kumpels vermochte über das lange Pferd den Grätschsprung auszuführen. Ich kam dran und setzte drüber. — „Von der ganzen Gesellschaft ein einziger, Kanonier Turek, mach das nochmal!" Sssst; er trabte ab.
Dieser Franz! Unsere Batterie besaß vier Kanonen, Franz war die fünfte. Er war 100prozentig,.ein Hunderthändiger. — Im Stubendienst, im Wacheschieben, im Putzen (von Unteroffizierstiebein), im Flicken, im Exerzieren, im Wegegehen. Er besaß für zirka hundert Mann Sidol, Schuhcreme, Fett, Streichhölzer, Tabak, Zigaretten usw. usw. Er war so bescheiden, seine eigenen leiblichen Bedürfnisse nur auf zehnprozentig zu veranschlagen, das heißt, er fraß für zehn Mann. Wenn er nur manchmal für 1, 2, 3, 4 oder 5 Mann speiste, so war das nicht seine Schuld.
Ich will etliche Proben von der Gefräßigkeit dieses armen Teufels wiedergeben und vorweg ausdrücklich noch einmal sagen, dass ich mich an meinen Grundsatz, nur die Wahrheit zu berichten, auch in diesem Falle strikte halten werde. Ich habe gesehen, als Franz mit mir auf Stube 85 lag, wie er an verschiedenen Tagen, wenn es Dörrgemüse oder getrockneten Salzfisch gab, acht bis zwölf volle Schüsseln von diesem Fraß, von dem man normalerweise überhaupt nichts gefressen hätte, in seinem Spind stehen hatte und sie im Verlaufe einer Nacht verzehrte.
An solchen Tagen schmunzelte Franz. An Sonntagen, wo es Gulasch mit Kartoffeln gab, war es beinahe ein dramatischer Anblick, dem Franz bei seiner Mahlzeit zuzusehen. Stundenlang vor der Essenausgabe sprach er von nichts weiter als von der Geringfügigkeit der Portionen. — „Na, wie viel werden sein? — Na, fünwe, hechstens sekse; oje oje, liebe Leite, werden wir gehen beschweren. Jessus, is doch zu wenig, kann man doch nich ganzen Tag rumlaufen mit fünwe oder sekse Kartoffli in Bauch, wir werden verhungern! Jessus Maria, was soll ich machen?" Beim Antreten tänzelte Franz wie ein Pferd. Die gröblichsten Anschnauzer vermochten ihn nur für Sekunden zu beruhigen. Obwohl man ihn schlug, drängelte er sich nach vorn. Am Ausgabeschalter ließ er die kläglichsten Melodien los, um einen zweiten bereitgehaltenen Napf gefüllt zu bekommen. Der Unteroffizier hatte große Mühe, ihn vom Schalter abzudrängen. Die Worte, welche er dem Küchenbullen gegenüber verschwendete, trieben ihm den Schweiß auf die Stirn. Er redete etwa 30 Sekunden in solcher Ekstase und mit solcher Anstrengung, dass er sich erschöpft auf den nächsten Platz fallen ließ. Dort saß er nun wie ein eingeschüchtertes Tier; die Gebärden waren die eines um sein Allerletztes Betrogenen.
Drei-, viermal langte er mit seinem großen Holzlöffel in die Schüssel und, nachdem er sie sorgfältig ausgeleckt hatte, ging er betteln von einem Kameraden zum andern.
Es nützte nichts, Franz blieb tieftraurig bis zum Abend. Selbst wenn er Geld bekam und dafür in der Kantine Lebensmittel einkaufte, wurde er nicht froh; er verschlang alles in Sekunden und blieb ewig hungrig, Franz war zwanzig Jahre alt und sah aus, als müsste er in den nächsten Tagen bestimmt an Kohldampf verrecken. Er sprach immer vom Verhungern, wahrscheinlich hatte er recht. Seine Mutter schickte unaufhörlich Pakete. Große runde Sechspfundbrote, halb verschimmelt, aß er an einem Abend.
Eines Tages holte Franz wieder ein Paket; er musste es selbst abholen von der Post, die Ordonnanz hatte sich geweigert, das Paket zu transportieren. Kaum war Franz mit dem Paket in der Bude gelandet, als sich ein Pesthauch im Raume verbreitete, der uns fast das Atmen unmöglich machte. Alle gleichzeitig stürmten wir auf Franz ein, er solle das Paket auf dem Flur auspacken. Er packte aus. Ein völlig mit langhaarigem Schimmel überzogenes Brot, ein Stück ebensolchen Kuchen und eine entsetzlich stinkende, von einer eitrigen Flüssigkeit triefende Beutelsülze. Wir hegten Verdacht und bedeuteten ihm, dass er krepieren müsse, wenn er diese Sülze fresse. Freudestrahlend und über die Verdorbenheit der Ware nicht im mindesten erbost, zog Franz ab mit seinen Delikatessen. Nach einer knappen Viertelstunde gehe ich zufällig auf den Lokus und sehe zu meinem Erstaunen, wie Franz den letzten Rest seiner Sülze dort selbst verzehrt. In den zwei Stunden Mittagspause brachte er auch noch das Brot und den Kuchen hinter die Binde. Er ist nicht daran krepiert. Wenn man Franz ein paar Groschen gab, führte er ein kleines Kunststück vor; er holte aus der Kantine ein Glas Senf und ein Pfund Zwiebeln und aß alles in ganz kurzer Zeit, zum Erstaunen seiner Zuschauer. Für ein halbes Kommissbrot fraß er eine Kerze, und das Tragische daran war, er fraß die Kerze mit wirklichem Appetit!
Seinen Dienst verrichtete er mit einer Ehrsamkeit, die verwunderlich schien. Was er nicht ausführen konnte, unterließ er mit einer entsprechenden Erklärung. Alle waren davon überzeugt, dass er ein Dummkopf war. Aber wer seine Handlungen tiefer, unbefangener untersuchte, musste finden, wie natürlich sein Denkapparat funktionierte. Oder ist es etwa eine Verrücktheit, wenn er beim Geschützexerzieren erklärte: „Ich werde fünwzehn machen, Herr Unteroffizier, es is serr warm heite" (Fünfzehnmachen ist ein geläufiger Ausdruck für Pause machen). — Oder wenn er ohne Erlaubnis austreten ging und auf den Anschnauzer des Vorgesetzten mit den gut gemeinten Worten antwortete: „Aber suwas denn fragen, Herr Unteroffizier, — wenn ich muss scheißen, is nix su machen!?"
Niemals rebellierte Franz, kein Wort des Zornes kam über seine breiten Lippen, nur Klagetöne. Ich habe versucht, ihn auszuforschen, wie er darüber dachte, wenn man einmal die Küche erstürmen würde und einfach alles herausholte, was drinnen war. Er antwortete: „Aber da wird der Leitnant schimpfen, und wir müssen nachexerzieren; es wird nich gehn." — Wo man ihn loswerden konnte, wurde er abgeschoben. Ich war mit ihm beim Granatwerferkursus in Altengrabow, beim Maschinengewehrkursus in Halle und beim Pionierkursus.
Sein Leben war eine endlose Kette unheilvoller Begebenheiten. Überall, wo er hinkam, war er der Sündenbock, Mädchen für alles, Objekt der Verulkung für jeden, der sich einen Schein heller dünkte. Das alles berührte ihn wenig, nur eins brachte ihn aus dem Gleichgewicht, und das war, wenn ihm nicht das Vielfache dessen erreichbar war, was man aus den Gulaschkanonen der Kriegshungerjahre als Ration zugeteilt bekam.
Im Verlauf einiger Wochen hatte man durch den wahnsinnigen Dienst so unser körperliches Wohlbefinden heruntergewirtschaftet, dass es nicht möglich war, auf das Kommando — „Stillgestanden" — eine absolute Bewegungslosigkeit herzustellen. Die Leute schwankten vor Ermattung. Fast alle hatten ein Untergewicht von fünf bis zwanzig Pfund, und das war bei den vorwiegend jugendlichen Kameraden erschreckend. Bei irgendwelchen Vorträgen, wo keine Bewegung erforderlich war, schliefen die Leute im Stehen ein und torkelten hin und her. In einer Dienstzeit von drei Monaten sollten wir alles das eingepaukt bekommen, was der Kanonier sonst in drei Jahren erlernte. Und die Nahrung war nicht ein Drittel von dem, was in Friedenszeiten verabfolgt wurde. Geradezu heller Wahnsinn, solch eine Kalkulation.
Kurz vor dem Abschluss unserer vierzehntägigen Pionierausbildung waren alle Kursusteilnehmer in einem Zustand völliger Erschöpfung. In der brennenden Julisonne, ausgehungert und entsetzlich müde, wussten die Herren nichts Wichtigeres, als uns schwere Bohlen, Balken, Bretter usw. im Pionierschritt eins—zwei, eins— zwei, eins—zwei auf dem sandigen Übungsplatz umherschleppen zu lassen. Dass jeden Tag mehrere Kameraden umklappten, brachte keine Änderung des Dienstplanes. War man glücklich über den Tag hinaus, und wollte man sich vorzeitig auf die Matratze legen, so durfte man sich nicht erwischen lassen, denn vor 10 Uhr schlafen gehen war verboten. Dagegen musste fünf Minuten nach 10 Uhr das Licht bereits ausgelöscht sein.
Ein Kapitel für sich war der Umgang unserer Unteroffiziere mit den Mannschaften. Nur wenige machten eine rühmliche Ausnahme. Die meisten fühlten sich in den gemeinsten Umgangsformen am wohlsten. Eine große Anzahl Krankmeldungen war jeden Tag zu verzeichnen. Ein Unteroffizier, mit Namen Rustenbeck, hatte die Leute in die Revierstube zu führen. Was sich dieses Schwein an Glossen erdacht hatte, womit er die Kameraden traktierte, lässt sich kaum wiedergeben. Ohne weiteres dichtete er den Leuten alle möglichen Geschlechtskrankheiten an. Bei Halsentzündungen empfahl er, mit Briketts zu gurgeln, oder er brachte irgendeine Zote damit in Verbindimg.
Selbst unser Wachtmeister brüllte vor versammelter Mannschaft: „Ihr gottverdammten krummgefickten Hunde, könnt ihr nicht geradestehen?" — oder — Ihr Arschficker, ihr sollt noch lernen, was es heißt, Soldat zu sein!" usw. Kam jemand zum Antreten mit einem offenen Knopf am Waffenrock, schrie er: „Wie so eine nackte Hure kommt der Kerl hierher." — Ein Paar schlecht geputzte Stiefel reizten ihn folgendermaßen: „Das nennst du Schwein geputzt? Die Stiebel soll'n glänzen wie so'n Paar Judeneier in der Morgensonne." Klappte irgend etwas beim Exerzieren nicht, so gröhlte er: „Ich werde euch noch die Eier schleifen" — oder — „Das wird so lange gemacht, bis euch der Schwanz nach hinten steht, bis euch das Wasser im Arsche kocht, bis ihr in die Hosen scheißt." Man muss hierbei immer bedenken, dass unsere Batterie vorwiegend aus jungen Leuten im Alter von 18—20 Jahren bestand.
Jede Vernunft schien sich aus dieser elenden Kaserne davongemacht zu haben. Der Appell mit Kleidungsstücken und Wäsche wurde für jeden zur Quälerei. Ich habe in meiner Drillichhose 18 Flicken gezählt. Meine Hemden waren zerfetzt. Alle diese Lumpen mussten gewaschen und ausgebessert werden, und mancher von uns hatte niemals eine Nadel in den Fingern gehabt. Seife war ein Artikel, der uns nur dem Namen nach bekannt war; wir wuschen mit Sand und kaltem Wasser.
Meine Kameraden waren, wie schon erwähnt, größtenteils Oberschlesier. Außer wenigen alle streng katholisch. Es muss hier gesagt werden, dass diese Leute als Menschen und Kameraden immerhin angenehmer waren als unsere Vorgesetzten, die, ohne jede Anschauung und ohne den Willen, tiefgründig über Lebensfragen oder -lagen nachzudenken, nur in ihrer Verdorbenheit und großen Schnauze die einzig mögliche Art sahen, sich zu geben.
Meine katholischen Kameraden ließen sich durch nichts in ihrem Glauben beirren. Als ich eines Tages meinen Standpunkt über die Geschichte mit dem Jesus und seiner Mutter Maria klarzulegen versuchte und dabei meinen Zweifel über die Echtheit der Empfängnis der Maria durch den heiligen Geist äußerte, gerieten sie in Aufregung. Ich sagte, dass die Maria eine Freundin der Pharisäer und Schriftgelehrten gewesen sei und ihren Jesus dabei irgendwo aufgesackt hätte, und dass sich daraus auch das Interesse der Priester an dem Jesusknaben ableiten ließe, weil sie wussten, dass sie als die Erzeuger in Frage kamen. Auch die Befähigung als Prophet und Philosoph wird der Jesus durch seine dauernde Anwesenheit im Tempel und infolge Unterrichtung durch die Priester erworben haben. Alles das, ebenso wie, dass die ursprüngliche Lehre des Christus eine ganz andere gewesen sei; dass der Papst mit seinem Reichtum nur das größte Missfallen des Jesus erregen müsste, konnten oder wollten sie nicht begreifen. Dieser Glaube war nicht begründet auf Verstand oder Logik, sondern er steckte tief im Gefühl der Leute. Unsere Ausbildung an all den Mordwerkzeugen galt als abgeschlossen. Jeder Kamerad bekam noch einmal kurzen Urlaub, nur ich nicht, obgleich ich nur 60 km entfernt meine Heimat hatte. Man hatte mich schwer im Magen, doch niemals ist es den Banditen gelungen, mich ernsthaft zu kränken. Ich wusste meistens ihren Schlichen rechtzeitig zu entgehen. Als man mir höhnisch erklärte, ich bekäme keinen Urlaub, ließ mich das sehr kalt; denn ich war bereits zweimal des Sonnabends gefahren und jedes Mal Montags erst zurückgekehrt, ohne aufzufallen.
Mit dem ersten Transport rückte ich ab ins Feld. Es war gerade an meinem Geburtstag. Von meiner Liebsten in Premnitz hatte ich nichts mehr gesehen. Von einem Stendaler Mädel, Lucie, bekam ich ein Paket. Darin war Kuchen, Obst und Wurst. Beinahe wäre ick um alles betrogen worden. Erst auf mein wütendes Drängen rückte die Ordonnanz eine halbe Stunde vor dem Abmarsch nach dem Militärbahnhof mit dem Paket raus, nachdem dieser Gauner vorher mehrmals erklärt hatte, es sei für mich nichts da. Für diesen geplanten Streich habe ich ihm eins in die Visage gehauen, dass er mitten in seinen Paketen landete.
Die erste Wache auf dem Transport hatte ich. Oben auf dem großen Futterwagen trat ich die Reise an. Mein Plan lag fest. Bei der ersten Gelegenheit wollte ich überlaufen, darum war ich lustig und fidel, was man von den anderen Kameraden nicht sagen konnte. Eine allgemeine mikrige Stimmung lag auf dem ganzen Transport. Schuld daran waren unsere Unteroffiziere, deren Laune ganz unerträglich war. In ihrem Benehmen gegen mich, das in der Kaserne schweinemäßig gewesen war, machte sich ein Umschwung bemerkbar. Sie wurden plötzlich anständiger, ich möchte fast sagen, rücksichtsvoller.
Die Fahrt ging über Nordhausen, Kassel, durch das herrliche Lahntal bei Koblenz über den Rhein, längs der Mosel, durch Trier und Luxemburg. In Sedan gingen zwei Mann durch die Latten, ob absichtlich oder aus Versehen ließ sich nicht feststellen. Kurz hinter Charleville, auf einer Kriegsrampe, wurde ausgeladen.
Auf einer Ferme in nächster Nähe von Nougerin war unser Quartier. Dort hätte unsere Batterie den Krieg überdauern können. Obst war in Fülle vorhanden, es war in den ersten Tagen unsere Hauptnahrung. Äpfel, Birnen, wahre Prachtsorten. Zwetschen und Haselnüsse leider noch nicht ganz reif, und Brombeeren, große schwarze, wovon man ohne Anstrengung ein Kochgeschirr voll in einer Viertelstunde pflücken konnte. Als Bewohner dieser Ferme lebten dort nur noch zwei alte Leute. Es wäre besser gewesen, sie hätten sich auch aus dem Staube gemacht, denn die Armen wurden mit der Bedienung ihrer Quartiergäste nicht fertig. Immerwährend waren sie in eine umständliche Unterhaltung verstrickt, und mindestens tausendmal am Tage sagten sie „nix compri" (nichts verstanden), und ebenso oft drohten sie mit der „Kommandantur". Wald war ganz in der Nähe, das verhinderte aber nicht, dass ein Gebäudeflügel, der aus Holz bestand, allmählich nur noch als Skelett dastand.
Nachts leuchtete die Front, und leise, wie das Knurren eines furchtbaren Ungeheuers aus dem Erdinnern, brummelte es zu uns herüber. Ältere Kameraden wälzten sich des Nachts auf ihrem Lager und erklärten, dieses Brummein mache sie noch verrückt. Was ist eigentlich hier los, was wird mit uns? Über allen Häuptern schwebte unsichtbar ein Verhängnis —: der Tag, an dem der Marsch an die Front kommen musste! Ich kann mit gutem Gewissen behaupten, am meisten nervös war unser Batterieführer. Er war nicht mit uns von Magdeburg gekommen. Kein Mensch wusste, welcher böse Geist uns diesen Fatzken auf den Hals geschickt hatte. Keine sieben Worte brachte er verständlich hervor, ohne meschuggene Schnarrlaute daranzuhängen. Auch unsere Leutnants ließen deutlich merken, dass sie kein Vertrauen zu dieser Nudel hatten.
Er hielt Instruktionsstunde, die Batterie war wegen schlechten Wetters in einer Scheune versammelt. Auf einer Leiter, die schräg am Balken stand, hockte unser „Alter", die Hosentaschen knalldicke voll Äpfel, wovon er wie ein Pferd kaute. „Also Sie, hallo Sie, nee Sie, Sie, was passiert also, wenn Sie sich in Feuerstellung dünn machen, wenn's plautzt?" — Einer aus Kattowitz hatte kein Wort verstanden. — „Sagen Sie mal, äh Sie, nee, der Nebenmann, hört der Kerl schwer? Na, fragen Sie'n mal!" Das Maul voll gekauter Äpfel, war er mir nicht einmal recht verständlich, geschweige den Oberschle-siern. — „Komisch, komisch, Kerls, könnt ihr denn keen Deutsch? Oder was, was, na, na, also Sie, nun Sie mal. — Halt, Unteroffizier Stembowski, hierher, äh, hier mal her, fragen Sie doch mal auf polnisch!" — Stembowski fragt auf polnisch, alles feixt. Die ganze Instruktion war ein einziger Knoten von Verwicklungen, Missverständnissen und lächerlichen Faxen.
Die Front war verstummt. Wir hielten die Stellung mit viel Schneid. Unsere wichtigste Beschäftigung war — kochen. Jeder hatte einen besonderen Geschmack; das Essen aus der Küche war mies. Es wurde kaum noch beachtet. Auch Fleisch wurde gekocht, seitdem wir spitz bekommen hatten, dass es im Walde allerlei Getier gab, das zwar nicht weidgerecht war, aber immerhin schmeckte. Das meiste Fleisch in unsere Kochtöpfe lieferte das Eichhörnchen, aber auch Raben und Spechte mussten das lustige Leben im Walde aufgeben, um den Weg allen Fleisches durch unseren Darm zu gehen.
Mitten in unser Gebrate, Gebrietzel und Gesuppe erscholl plötzlich das Kommando: Die Batterie steht 1,30 Uhr morgens in Marschrichtung Lonoir! „Heiliger Schlavitikus!" sagten unsere guten Schlesier, „Jessus Maria!" Aber ein Trost blieb uns allen immer noch. Lonoir war nicht in Richtung Front. Aber ach, kaum ging die Sonne unter, da setzte jenes scheußliche Gebrummel wieder ein, in verstärktem Maßstabe. Naßkalt war die Nacht. Auf den alten Rumpelkisten war es nicht geheuer, man musste sich derb festhalten, um nicht hinunterzufallen. Mit Geschrei, Fluchen und Schlagen brachten unsere Fahrer ihre Gäule in Trab.
Nanu! Herrje! Wozu so eilig? — scemu spiescics Panie. — Verdammt, der Weg war kaum zu sehen. Ade, Ade, Mademoiselle, du schöne Ferme! Ade, ihr Eichhörnchen! Ade, Lonoir, wir lassen dich links liegen. Das Gebrummel der Front wurde lauter und lauter, einmal lag es uns links im Ohr, einmal rechts. Es ging steile Straßen hinauf und hinab. Das Geschrei der Fahrer war verstummt. Die Batterie kroch wie ein Wurm seinen Pfad. Zeitweilig schlief ich. Verdammt, wäre nicht die Front, es müsste Spaß machen, die Fahrerei in die Nacht. Ohne Ziel und scheinbar ohne Ende. Im Halbschlaf hatte man das Gefühl, als wäre es immer so und nicht anders. Fahren, fahren, fahren, wohin? Nur nicht fragen, denn dann trommelte die Front noch mal so stark.
Wir saßen zu dritt auf der Protze, der mittelste durfte schlafen, seine Kameraden hielten ihn untergeärmelt fest. Plazek (das heißt auf polnisch Kuchen) und Ehrenberger, so hießen meine Kameraden auf der Protze, zwei gute echte Wasserpolacken, konnten nicht schlafen, und deshalb durfte ich in der Mitte sitzen und ratzen. Und ich ratzte. Bis ich von den beiden geweckt wurde: „Mensch, bist du denn schon tot, wach doch auf, wir sind ganz nahe an Front!" — Rumnibummbumm rummrummrummbumm. „Himmelhund verdamm mich!" — „Mensch, fluch nich jetze!" —
Batterie haaaalt !— Huuuüüihihzzssschschpululpubscht. — Eigene schwere Artillerie! Gott sei gelobt, getrommelt und gepfiffen! — Ein Bahnhof? Nanu! — Verladen!? Weg — nicht an die Front? In etlichen Stunden rollten wir auf der Eisenbahn. Wohin? Nach dem Osten! — Nee, nach Italien! Nach dem Isonzo, nun war es raus. Also, in das Land, wo die Makkaroni blüh'n. Wo man die Esel mit Scbippenstielen verwamst. Und wo die Frauen Virginia mit Strohhalm rauchen. Wo die Männer nix machen wie Katzen aus Gips und die Kinder Apfelsinen direkt vom Baum fressen, wenn bei uns der Schnee haushoch liegt. Unteroffizier Stembowski wusste Bescheid. „Herr Unteroffizier, werden wir fahren durch Kattowitz?" — „Nee, bloß durch Wien!" —- Schade!
Die Sonne ließ sich nicht blicken, aber soviel hatte ich doch schon beobachtet, unsere Fahrtrichtung schwankte zwischen dem Kurs West—Nordwest und Nord. Wo blieb denn da Italien, wenn das so weiterging? Ich teilte meine Beobachtungen meinen Kameraden mit, etliche ließen sich überzeugen. Noch ehe der Streit entschieden war, bremste der Zug, und je mehr das Rasseln der Räder verstummte, machte sich ein anderes Geräusch breit. Rummbummbumm, bummrummbumm! Laon, alles raus! Eisenbahner sagten uns nichts Gutes. Nachts ist hier der Teufel los. Flieger! Wir biwakierten auf einer Wiese, nicht sehr weit vom Bahnhof. Am Morgen, als ich erwachte, war alles schon auf den Beinen. Es gab noch nichts zu tun. Nur weil sie gefroren hatten, waren die meisten Kameraden aufgestanden. Mich fror es nicht, und ich kroch noch einmal unter meinen Wagen und in Decke und Mantel. Kaum war ich entschlummert, als das Kommando zum Aufbruch erschallte. Ich war erstaunt, als man mir erzählte, wie entsetzlich die Flieger bombardiert hatten. Ich hatte diese Sache verpennt.
Der Tag brachte einen kurzen Marsch, worauf zwei Tage Ruhe folgten. Dann in aller Frühe, es war noch rabenschwarze Nacht, hieß es: „In Marschrichtung Laon!"; — nun wusste jeder, was es geschlagen hatte. Ein schöner, glutroter Sonnenball stieg im Osten über die Hügel und bald erstrahlte das Land im schönsten Sonnenschein. Fern am Horizont standen eine Menge Fesselballons, Franzosen! Wenn uns die erst weg haben, sind wir verloren. Diese Ansicht wurde von den Chargierten verbreitet, was allergrößte Unruhe unter den Kameraden hervorrief. An der Front donnerte die Artillerie, immer gewaltiger wuchs das unheimliche Getöse an. Die Wege waren übersät mit Granatlöchern, es war eine Fahrerei, dass kein Mensch auf der Karre sitzen konnte. Wir kamen nun direkt in den Bereich feindlicher Geschütze. Vorläufig waren es nur einzelne Geschosse, die sich verirrt hatten. Der Weg war kaum noch sichtbar, die Pferde schäumten vor Anstrengung. — Kanoniere an die Räder! — Wie wohl das tat, fest zupacken zu können! Trommelfeuer und Pfeifen der Splitter wurde aus den Ohren verdrängt, wenn die Muskeln sich spannten. Auf aalglatter Straße im Schritt, auf der Kanone sitzend, hätte ich nicht dieser Hölle entgegenfahren mögen.
Die ersten Verwundeten kamen uns entgegen. Wir Neulinge staunten. Was waren das für Menschen? Was war mit ihnen geschehen? Woher das Entsetzen in ihren Gesichtern?! Helden!!? Nein, in grausamer Folter bis zum Wahnsinn gequälte Wesen. Helden? — das war vielleicht einmal zu der Zeit, als man sich mit Schwertern zu Leibe ging, oder auch noch bis zum Krieg 1870/71. Aber hier, wo es nicht mehr glaubwürdig erschien, dass Menschen Urheber dieses Grausens waren, wo es den Anschein hatte, als berste die Erde, wo mit Gas und Säuren, Flammen und Motoren Menschen zu Tausenden täglich, Jahre hindurch, zerstückelt wurden, vergiftet, zerfressen, verbrannt und geschlachtet, hier war der Soldat so wenig Held, wie die zerquetschte Maus in der Falle.
Nun gab es auch schon bei unserer Batterie Verwundete. Endlich langten wir auf dem uns zugedachten Platze an. Die Fahrer gingen mit den Protzen nach hinten, sehnsüchtige Blicke schickte mancher von uns den Glücklichen nach. Kaum waren die Geschütze in den Ständen versenkt, als schon die Knallerei losging. Wir pfefferten aus der Knarre heraus, was das Zeug halten wollte. Kein Mensch dachte daran, wo das Eisen landete. Es war eine rein mechanische Arbeit Eine Verständigung war nicht möglich; das Trommeln von tausend Geschützen verursachte in den Ohren ein Gefühl der Taubheit, nur noch die Abschüsse aus der eigenen Kanone waren vernehmbar. Hinter der Knarre, in kurzer Entfernung, steckte ein Spaten, der nur nach jedem Abschuss kurz mit den Zielinstrumenten anvisiert wurde, und so ging das fort und fort. Die Granaten wurden auf entsprechende Entfernung gestellt; ob das gewissenhaft gemacht wurde, möchte ich bezweifeln. — Gewissenhaft!! — Ein Begriff, der für das Zünderstellen beim Trommelfeuer unpassend ist, vom Standpunkt der Menschlichkeit. Gewissenhaft wäre gewesen, — alle Kanoniere hüben wie drüben hätten die Geschütze verrosten lassen mitsamt den Granaten!!!
Gleich am anderen Morgen, unsere Munition war verschossen, erstieg ich einen kleinen Hügel in der Nähe, um zu erkunden, wie ich so schnell wie möglich nach drüben verduften könnte. Von dieser Anhöhe tat sich das Land weit auf. Heller Sonnenschein lag auf der schwer misshandelten Erde. In etwa 800 m Entfernung war eine Brücke über den Oise-Aisne-KanaL da hinüber musste ich. Aber kaum gedacht, sah ich, wie die Holzbalken und Bohlen, als wären sie Streichhölzer, in der Luft herumwirbelten.
Plötzlich brüllte mich von hinten jemand an: „Hallo! Sind Sie verrückt, dass Sie sich dahinstellen?! — Machen Sie sich da mal runter!" — Ich gewahrte hinter mir einen Granattrichter, in dem ein Leutnant unserer Batterie lag; es war »der Pastor, er galt als der tüchtigste Kerl. Im Zivilberuf war er evangelischer Pfarrer, alle hatten ihn gern. Er machte des öfteren dem „Alten" Vorschriften, oder wenigstens stand er mit dem Alten auf Kriegsfuß, was ihm neben seinen wirklichen artilleristischen Fähigkeiten die Sympathien der Kameraden eintrug. Mich kümmerte seine Brüllerei nicht, ich blieb stehen. Zumal er noch hinzufügte: „Sonst habt ihr die Hosen voll Scheiße, und hier baut ihr euch auf, als wenn nichts los wäre." — Das ärgerte mich. Er kannte mich übrigens von der Kaserne her und wusste, was ich für eine Gesinnung hatte. Ich blieb stehen und der Pastor sagte nichts mehr, sondern kroch noch tiefer in sein Loch.
Unten», hinter dem zerschossenen Bahndamm, standen etliche Trainkolonnen. Sie hatten offenbar den Befehl, ihr Krämchen über die Brücke zu fahren, aber die war dem Untergang geweiht. Regelmäßig klatschte Schuss auf Schuss herüber, nicht alle saßen, doch es genügte, um nach etwa einer halben Stunde jedes Überfahren der Brücke unmöglich zu machen. Ich hatte mich auf meine vier Buchstaben gesetzt. Bei mir drängte es furchtbar, rings um mich her knackten die verfluchten Eisensplitter und hackten den Rest des hier einstmals gestandenen Waldes in Fetzen. Unten bei der Batterie ging ein Kamerad nach dem anderen in die Brüche. Dieses ganze blutige Theater, wo man offenbar nicht lange auf sein Stichwort zu warten hatte, kotzte mich an. Dort drüben hinter der Hügelkette, höchstens 3000 m weg, stand die ganze blödsinnige Bande und schmiss mit allen Kalibern zu uns herüber.
Der Pastor ließ sich wieder vernehmen: „Wann wollen Sie sich denn da oben mal runter machen? Kerl, haben Sie denn einen Vogel?!" „Lecke mich fett, du —"Ich sprach das laut, aber ich wusste, dass er das nicht verstehen konnte. Ich ging hinunter. Ich hatte gesehen, was ich nicht sehen wollte, nämlich, dass es hier unheimlich schwer war durchzubrennen — wegen dem lausigen Kanal. Wenn man einfach durchschwimmt? Mal ansehen! Vielleicht haue ich gleich jetzt ab. Langsam, durch Sumpf und Löcher, gelangte ich an den Kanal. Das war ein einziger Schlammgraben mit wenig Wasser. Nun packte ich für heute ein; da ich keine Ahnung von den Infanteriestellungen hatte, erschien mir die Geschichte überhaupt noch reichlich unsicher. Ich ging zu der Trainkolonne und hörte dort, wie alles jammerte über die Scheiße, in die sie geraten seien. In der kommenden Nacht sollten die Pioniere eine neue Brücke an einer anderen Stelle bauen.
Erschreckend hoch war die Ziffer der Verluste, die die Kolonne hier beim Warten erlitten hatte, obgleich alle Leute in Löchern steckten. Der Franzmann plautzte ohne Sinn und Verstand mal hier und mal da einen hin, 7,5 cm, 15 cm, und die Brücke zermatschte er mit 21ern. Auf meine Frage, wo die neue Brücke hinkomme, gab man unbestimmte Antwort. Ich dachte, dass es höchstens während der Nacht gelingen könnte, über die neue Brücke zu huschen. Denn die Franzmänner würden auch die neue Brücke nicht lange heil lassen. Nun ging ich zurück in unseren Unterstand und fand eine miese Stimmung vor; etliche Kameraden von anderen Formationen lagen als Leichtverwundete bei uns. Sie wollten bei uns eine Gefechtspause abwarten und dann weitertippeln, nach Laon ins Feldlazarett. In der darauffolgenden Nacht brachten unsere Fahrer Munition, damit ging auch die Knallerei mit unseren vier Schießeisen wieder los.
Gottverdammich! Die Hunde da drüben, — dagegen waren wir doch reine Waisenknaben, die ballerten wie wahnsinnig. Die dritte Karre hatte einen Volltreffer bekommen und stand Kopf. Der Pastor brachte die Schreckensnachricht. Alles kaputt, zwei Tote, ein Schwerverwundeter. Er ordnete an, die Munition herauszubrummen und dann zurück in die Unterstände. Am besten machte sich's der Alte; der kam aus seinem Stollen überhaupt nicht mehr heraus. War das ein Leben da unten. Oben steht die Batterie im schwersten Gefecht, und der Briezel sitzt unten, frißt Keks und lässt sich nicht ein einziges Mal blicken. Es musste etwas geschehen mit mir, aber was?
Die blöde Trommelei war zu Ende gegangen. Ruhige Tage mit warmer Sonne und empfindlicher Kühle des Nachts ließen uns die erste schlimme Zeit vergessen. Ich habe diese Seiten über die ersten Tage an der Front geschrieben, um nicht ganz zu versäumen, Eindrücke wiederzugeben, die immerhin einen gewissen Antrieb bedeuteten zu den Erlebnissen, die ich nachfolgend schildern will. So manches arme Menschenkind mag in gefährlichen Momenten die kühnsten Pläne ausgeknobelt haben, um aus diesem Schlamassel herauszukommen, und hat sie dann doch niemals ausgeführt.
Ich weiß nicht, aus welchen dummen Gedanken ich die Einbildung nahm, dass mir so leicht nichts passieren könne. Jedenfalls existierte in mir eine solche Meinung, die nicht einmal wich, als mir ein großer Splitter die Waffenrockzipfel radikal abfegte. Diese Ansicht legte sich in mir mit solcher Hartnäckigkeit fest, dass ich allgemein als frech galt, bis ich kräftig eins gewischt bekam. Ei verflucht! Was ich bisher geglaubt hatte von meiner „Unsterblichkeit", verschwand mit dem furchbaren hammerähnlichen Schlag an mein linkes Schienbein und dem Salto mortale, wobei ein Waggon Dreck mein Partner war. Da lag ich nun und konnte vor Dreck nicht sehen, wie mir das Blut aus den Adern lief. Ich fühlte mit den Fingern, wie ein dünner, warmer Strahl aus einem tauben, gar nicht schmerzenden Loch am linken Unterschenkel herauslief. Nun blinzelte ich mit den Augen und sah die Bescherung. Wie ein Krebs kroch ich rückwärts, das linke Bein nachschleppend, davon. Durch Löcher, über Gestrüpp und abgeschossene Baumstümpfe, über Brombeerranken immer weiter, weiter. Langsam rann das Blut aus dem Loch; ich stopfte, ohne das Paket überhaupt zu öffnen, mein Verbandpäckchen in die Wunde, trotzdem sickerte das Blut heraus. Jetzt stellte sich ein dumpfer Schmerz ein, der von Minute zu Minute unerträglicher wurde.
Endlich war ich soweit gekrochen, dass ich den eigentlichen Feuerbereich hinter mir hatte. Nur noch ganz vereinzelt pfiff solch ein Luder in meine Nähe. Ich fühlte deutlich, wie es mit meiner Kraft zu Ende ging, darum machte ich noch einmal Endspurt, der mich ganz aus dem Schlamassel brachte. Meine Absicht, bis an eine Straße zu kriechen und ein Fuhrwerk abzuwarten, konnte ich nicht mehr durchführen, ich war fertig. Noch einmal nahm ich den Kampf mit meinen schwachen Kräften auf; bis an eine Wagenspur gelangte ich, dann wusste ich, das war das Ende. Mein Bein schmerzte mich jetzt so fürchterlich, dass mir die Tränen in die Augen traten. Ich legte es mit beiden Händen hoch auf einen Erdhügel, den ich zuvor zusammengekratzt hatte, und blieb ausgestreckt auf dem Rücken liegen.
Was wird nun? Das Blut sickerte immer noch, wenn auch ganz langsam. Verbluten kommt nicht in Frage, bald würde kein Blut mehr herauslaufen, denn sehr viel war nicht mehr drin, aber das bisschen musste genügen, um noch einige Zeit auszuhalten, Krampfhaft biss ich die Zähne zusammen, der Schmerz war nicht mehr zu ertragen. Wenn doch wenigstens jemand käme!
Aber erst nach Stunden kam jemand. Ein kleiner Wagen, so groß wie ein großer Handwagen, kein Militärwagen. Darauf saß ein alter Trainsoldat, der wie entgeistert in die Luft stierte. Ich wollte laut sagen: „Halt, Kamerad, nimm mich mit", — als er meine Armbewegung bemerkte und davon solchen Schreck in die Knochen bekam, dass er beinah von seinem Brett gefallen wär. Auf meine Andeutung, dass ich verwundet sei, antwortete er: „Kamerad, wo bin ich bloß? Wo bin ich bloß? Wo bin ich?" Ich fragte ihn: „Wo willst du denn hin?" — „Hier das Essen, das Essen muss in das Pionierlager. Seit heute nacht bin ich unterwegs und finde das Pionierlager nicht!" —
„ Hier gibt's kein Pionierlager, ich kenne die Gegend genau. Wenn du hier weitergondelst, steckst du bald in der Scheiße, Mensch, lenk um und nimm mich mit." — „Aber das Essen, was wird mit dem Essen?" — „Ach, das bisschen Fressen, mach kein langes Gefasel, lenk um, und ab, wenn die Hunde einen Vogel kriegen und funken hier noch ein Stück weiter her, sind wir die Dummen." — „Ach, solcher Mist, ich weiß überhaupt nicht mehr, wo ich bin! — Wenn ich nur wüsste, wo ich bin!" — „Ja, Mensch, wo kommst du denn her?" — „Aus Laon!" — „Und wo soll denn das Pionierlager sein?" — „Ich habe den Zettel verloren, wo es daraufgeschrieben steht. — Und den Namen von dem Dorf, wo das Lager sein soll, hab' ich vergessen." — „Na, Mensch, denn mache los, nimm mich mit auf deiner Gulaschkanone, sonst verrecke ich hier noch!"
Nach angestrengter Arbeit und unter entsetzlichen Schmerzen gelangte ich auf den Karren. Mein Bein liegt hoch auf dem Brett, und ich mit dem Körper hinter dem Essenkübel. Durch die Fahrt wird mein Bein erschüttert und schmerzt noch mehr. Auf einmal bleibt der Gaul stehen und will nicht mehr weiter. Der Kamerad erklärt, dass das arme Tier seit gestern nichts gefressen hat. — „Mensch, hast du denn kein Futter mitgenommen?" — „Nee, vergessen." Jetzt packt mich der Zorn: „Der Schinder wird gleich umfallen, steig ab und fass ihn am Kopf an." Mit viel Mühe gelangen wir nach Mons. Ich lasse mich verbinden von einem Sanitäter. Der Gaul bekommt zu fressen. In einem Heuhaufen in einem Keller verbringe ich die Nacht. Die Kameraden in dem Hause sind die Reste einer zusammengeschossenen 15er Batterie. Der Schmerz an meiner Wunde ist meine einzige Sorge. Sonst ist alles da: Milch, Brot, Marmelade, Käse.
Der Krempelkutscher hat größere Sorgen: sein Pionierlager, seinen Futterkübel. Die Kameraden flößen ihm Mut ein: „Mann, halt doch die Schnauze von dein' Pionierlager. Denkst du, du kannst mit deiner Kohlrübenbrühe noch den Krieg gewinnen? Leg dich doch ins Heu und penne." — Ein alter Kamerad kommt mit einer Kanne Wasser, einem Handtuch und einem Stück Seife. „Komm, Kamerad, ich will dich mal waschen, guck' bloß mal in'n Spiegel, siehst aus wie'n Schwein." —
Wie ein Schwein sah ich nicht aus, aber einen höllischen Schreck feekam ich. Auf der leichenblassen, papiernen Haut klebte Dreck und Blut. Mit den blutbeschmierten Händen hatte ich versucht, die Augen auszuwischen, und in den Höhlen tief drinnen, wie in einer blutigen Kulisse, lagen die vom Dreck wundgeriebenen Augen. — Wenn mich so meine Mutter sieht! Wieder kamen die Tränen; ich versuchte zu lächeln. „Wie alt bist du, Kamerad?" — „Neunzehn." Trotzdem die Wunde wie Feuer brannte, schlief ich nach etlichen Stunden ein.
Am Morgen war ich noch elender, ganz außerstande, auch nur ein paar Meter zu krabbeln. Ich hörte, wie man sich erzählte, dass Mons und die Anmarschstraßen zur Front jeden Tag mit schwerstem Geschütz bepflastert werden. Also weg, weg von hier, so schnell wie möglich. Ein Strom von Verwundeten flutete zurück nach Laon, es war einfach ausgeschlossen, ohne eigene Initiative von hier fortzukommen. Ich, der ich einer Bahre bedurfte, hatte keine Aussicht. Der Kutscher, mit seinen sauren Kohlrüben, spannte an, die Kameraden von der zerschossenen Batterie legten mich auf ein Bund Stroh im Wagen, und langsam, unendlich langsam, jeden Augenblick stockend, ging unsere Fahrt in Richtung Laon weiter.
Vorn an der Front tobte der Kampf. Unendliche Kolonnen Infanterie, Artillerie, Lastautos, alle möglichen Fuhrwerke schoben sich zur Front. Wir mit unserem verfluchten Karren blieben stecken. Wäre ich nicht drauf gewesen, man hätte die Schaukel mitsamt dem alten Schinder in den Graben oder in irgendein Loch geschubst, Der Gaul kam nicht voran, er war noch dämlicher als sein Kutscher. Mir war es klar, wenn das so fort ging, in dem Tempo, waren wir vor Abend noch nicht in Laon.
Durchfahrende Sanitätsautos schrie ich an, vergebens, sie fuhren vorbei. Andere Fuhrwerke, leere Munitionswagen ließen sich durch meinen Anruf nicht stören, die Fahrer und Chauffeure sahen mich an, als wüssten sie nicht, was ich von ihnen wolle, und wenn sie drei Meter vorbei waren, taten sie, als hörten sie mich nicht mehr. Der Schlamassel war zu groß. An einer Straßenkreuzung stand ein Gendarm, der sagte auf mein Befragen, ob dieses Gelände noch im Feuerbereich liege: „Die schießen bis Laon, wenn sie wollen, unheimlich schwere Brocken, Schiffsgeschütze, macht, dass ihr wegkommt, gestern um diese Zeit funkte es schon!" — „Verflucht, das fehlte gerade noch! — Na, vielleicht haben wir Schwein, dass sie heute gerade mal aussetzen." „Nee, Nee! Mein Lieber, die setzen nicht aus. Seht zu, dass ihr wenigstens noch bis zum Waldlager kommt, da gibt's leere Munitionsstollen."
„ Ach, so ein elender Schinder. Mensch, hol dir doch bloß mal einen besseren Knüppel und hau die Kricke, dass die Schwarte knackt!" Aber der Kerl kam nicht schneller vorwärts. Er war wie gelähmt, wie doof, und das übertrug sich auf das Pferd. Alles, jeder
Mistwagen überholte uns. Da----------üüühüühuhbujebujebujeff------
wummmrrrumm. Au Backe! Im Nu war die Straße leer. Alles, was Beine hatte, lag in den tiefen Gräben links und rechts. Mein, Kutscher zitterte am ganzen Körper wie ein Besessener; mit einem scheuen Blick auf mich sprang er vom Wagen. Sofort blieb der Schinder stehen. Mit dem gesunden Bein schob ich den Kübel mit dem Fraß vom Wagen runter, ebenso das Sitzbrett, die beiden Seitenbretter riss ich nach innen über mich. Nun hieß es Glück haben. Wenn nicht so ein Biest in unmittelbarer Nähe einschlug, war nichts zu fürchten.
Die Angst war größer gewesen als die Gefahr. Mit den ganz großen Brocken kann man nicht so schnell schießen, auch kann man nicht nur einen Punkt bepflastern, wenn man eine gestreckte Straße beschießt. Eine Straße ist kein Gebäude, man wird oben anfangen und gestaffelt vielleicht zehn bis fünfzehn solche Brummer herübersemmeln. Wenn nun der Straßenabschnitt, der beschossen wird, 8 bis 10 Kilometer lang ist, kommt auf etwa je achthundert Meter ein Schuss, wovon natürlich nicht jeder mitten auf der Straße sitzt. Also, wozu solche Bange?
Diese Gedanken durchblitzten mein Gehirn. Besser wäre es freilich im Graben, aber die Wagenbretter sind auch noch was wert. Wenn der Spuk vorbei ist und der Hund kommt wieder, trete ich ihm eins vor den Wanst. In Abständen von etwa vier bis fünf Minuten kam so ein Feger angesaust. Meine Kalkulation stimmte, die Schüsse folgten gestaffelt. Je näher die Viecher saßen, um so sicherer bildete ich mir ein, dass mir nichts passieren werde. Ich phantasierte. — Über die Straße geht krachend ein riesiger Dämon, wo er seinen donnernden Fuß hinsetzt, ist alles massakriert. Sitze ich, ausgerechnet ich, der ich doch immer solchen Torkel gehabt hatte an der Front, gerade dort, wo das Ungetüm seinen Fuß hinsetzt? Quatsch, ich sitze nicht da! — Wahrscheinlich dicht daneben, das ist interessant, aber nicht da, wo er hintrampelt. Jetzt — kommen lassen, ich werde bis zehn zählen, ganz langsam — 1 — 2 — 3 — 4
— 5------6------7---------8------------9-------------- 10. Der nächste
Gedanke zerstob vor dem kurzen fauchenden Hieb des Geschosses. Wie mit einer gigantischen Tatze schlug es neben der Straße einen riesenhaften Trichter und prasselnd, heulend zugleich, wurde die Straße mit Erde, Steinen und Schutt übersät. Auf meine Bretter klatschten Steine. Es war — so würden die Kriegsberichterstatter geschrieben haben — eine Hölle. Doch was heißt hier Hölle?
Was wollt ihr überhaupt noch, Fürsten der Hölle, mit euren fünfmalhunderttausend Teufeln?! Eure Tricks, die Menschen zu quälen, sind so alt wie die Haut eurer verrunzelten Großmutter! Was wollt ihr noch machen mit euren simplen Bratspießen!? Ihr könnt nicht mehr imponieren! Schon die Organisation bei euch, das kann nie klappen! Bei uns kommt auf je zehn arme Teufel ein Unteroberteufel. Auf je zehn Unteroberteufel wiederum ein Oberteufel und so fort. Und könntet ihr, Beelzebuben, unsere Generaloberteufel sehen, ihr würdet eure Großmutter in Stücke hacken, weil sie euch erbärmliche Schwächlinge geboren hat.
Man wird in Zukunft im Sprachgebrauch den Namen „Teufel" nicht mehr nennen, wenn man seinen Worten besonderen Nachdruck verleihen will. Unsere Hörer oder Leser könnten uns auspfeifen. „Wie, bitte? Nur wie ein Teufel?!" Wir haben jetzt ein anderes Wort, man sagt: Er brüllte, er stahl, er log, er betrog, er schob, er rollte die Augen, er fälschte die Nachrichten, er mordete, er massenmordete, er millionenmassenmordete wie ein — General! Damit wissen die Menschen Bescheid!
Wir waren glimpflich davongekommen. Aber erst nach einer Stunde ging die Fahrt weiter. Je näher unser elender Karren Laon kam, um so langsamer wurde das Tempo. Ewig und immer mussten wir anderen Fuhrwerken Platz machen. Es dunkelte, und nur mit letzter Anstrengung schleppte der arme Schinder den Wagen wenigstens noch bis zum Waldlager, dann machte er ganz einfach überhaupt nicht mehr mit. Ich hielt einen vorübergehenden Kameraden an und fragte nach der Protzenstellung der 9. Batterie, III. Abteilung des Feldartillerie-Regiments 266. Glücklicherweise befanden wir uns unmittelbar in ihrer Nähe. Der Kamerad erbot sich, den Schinder noch einmal auf die Beine zu bringen. Mit einem dicken Knüppel schlug er unbarmherzig drauflos, nicht ohne Erfolg. Die Kricke zog, als wäre sie eben erst angespannt. — „Da siehst du, du Nachtwächter, wie fein das Biest noch loofen kann!" —
Endlich angelangt bei meinen Kameraden. Die fragten neugierig: „Wie sieht es in Feuerstellung aus?" — „Ja, nicht so schön ruhig wie hier in der Protzenstellung!" — Aber da kam ich an die verkehrte Adresse: „Mensch, denkst du, hier ist nichts los? Bleib noch hier bis ungefähr um zwölf, da wirst du staunen! — Fünfzehn Pferde sind über Nacht kaputt, in der vorigen drei. Wenn die jede Nacht so weiterfunken, stecken wir die Munition in die Taschen und schleppen sie in Feuerstellung!" — Noch immer nicht aus der Scheiße!? — Hätte ich doch eins am Arm bekommen, sofort wäre ich abgerückt. Noch einmal eine Nacht? Na, meinetwegen, wirst schon Glück haben. „Ihr habt doch Stollen hier, was?" „Nix, niema nitz!" — „Unterstände?" -— „Dreck haben wir, Zelte!" — In eines von diesen legte man mich, ich schlief augenblicklich ein.
Aber bald wurde es lebendig. Granaten, schwere Brocken heulten durch die Nacht. Die Einschläge lagen nicht sehr entfernt. — „Komm, Kamerad, wir haben hier ein paar Löcher. — So, leg dich lang, scheint heute haarig zu werden!" — Der Franzmann harkte das Waldlager vollständig ab. Pferde, die an langen Leinen zwischen den Bäumen festgebunden waren, rissen sich los und flitzten umher. Die Löcher waren verdammt flach, aber tiefer konnten sie nicht sein, sonst hätte man im Wasser gelegen. Dieses entsetzliche Heulen, das angestrengte Horchen auf den Einschlag. Ohne jede ernsthafte Begründung klammerte ich mich wiederum an die Meinung: „Du hast Glück, dir passiert nichts!" — Es ist zwar unsinnig, aber trotz der Verwundung saß diese Einbildung so fest und war so stark, dass ich dabei einschlief. Mit meiner Verwundung glaubte ich jedenfalls einen Gewinner gemacht zu haben; es ging in die Heimat, und das ist der sehnlichste Wunsch des Frontsoldaten. Man vermutete, ich hätte noch einen Splitter abbekommen. — „Du liegst so still! Mensch, du kokst! Jessus Maria, schlafen, jetze?" Wieder schlief ich ein.
Aber nur Minuten mögen es gewesen sein. Schreien, unmittelbar neben mir, weckte mich: „Aaaauuu — aaauuu." — Ein Kamerad war durch einen Splitter an der Schulter verwundet, Knochenverletzung. Die Schießerei hörte auf. Durch die Nacht stach sich ein vielstimmiges Wimmern. Jemand brachte die Nachricht in die Zelte, dass die Baracke der Russen einen Volltreffer erhalten hatte. Ich horchte auf und bekam zu wissen, in der Nähe seien kriegsgefangene Russen untergebracht und dort sei jetzt ein großes Durcheinander. Die armen Bengels müssten hier im Feuerbereich der schweren Geschütze Wege und Straßen ausbessern. Nachdem schon einzelne verschütt gegangen seien, sei nun dieser Schweinerei endlich ein Ziel gesetzt, leider für die Russen ein sehr dramatisches.
Eine erstklassige Gemeinheit. Ein Hohn auf das Genfer oder Haager Übereinkommen betreffs Behandlung Kriegsgefangener.
Den Tag darauf fuhr ein Unteroffizier mit einem Dogcart nach Laon, mit dem gelangte ich nun endlich ins Feldlazarett. Es war höchste Zeit. In einem Keller, auf bluttriefenden Bahren lagen in Reih und Glied die Kameraden. Ich lag etliche Stunden dort, und meine Betrachtungen, die ich mit fieberglänzenden Augen anstellte, waren dazu geeignet, das Fieber noch höher zu treiben.
War das ein Keller! Auf Bahren schleppten unablässig Sanitäter Verwundete herein, in demselben Tempo schleppten andere wieder welche hinaus. Ein Arzt läuft nervös, schimpfend, fluchend und selbst vom inständigsten Flehen, vom ersterbenden Röcheln der Gequälten vollständig ungerührt, auf und ab. Neben mir wird jemand geholt. Kaum eine Minute ist er fort, kommt ein anderer an den Platz. Sein Mund steht weit offen, seine Augen sind unheimlich. Ich richte mich etwas auf. In einer Hand hält er einen zerknitterten Zettel: „Liebe Anna! Bin auf der Fahrt in die Heimat. Bald gibt's ein Wiedersehen! Mach dir keine Gedanken, meine Verwundung ist nicht so schlimm. Grüße alle! Nochmals auf Wiedersehen! Karl." Dieser Kamerad war bereits in seiner endgültigen Heimat angelangt. Einer von Millionen.
In einem Zimmer mit schneeweißen Betten lag ich dann mit sechs Beinverwundeten. Gegen Abend kam eine Schwester mit Thermometern. Bei mir über vierzig Grad Fieber! Die kurze Erklärung, dass ich noch heute nacht operiert würde, beunruhigte mich eigentümlich. Trotzdem ich große Schmerzen hatte und durch eine Entfernung des Splitters höchstens eine Linderung eintreten konnte, hatte ich Angst vor der Operation. Um Mitternacht erschienen zwei Sanitäter, packten mich auf eine Bahre und schleppten mich in einen Korridor, wo ich neben vielen anderen auf die Geschichte warten musste, die so einen bitteren Vorgeschmack hatte. Endlos die Minuten, ein leises Wimmern geht durch den Korridor. Weiter vorn spricht jemand im Fiebertraum, immerfort schreit er: „Ach ihr Hunde, ihr verdammten Hunde. Ach—ach—ach— diese elenden Hunde." Er weint laut, bis er wieder dasselbe schreit. Alles höre ich, als säße ich tief in einem Stollen unter der Erde am Telephon. Was hier vorgeht, geht nicht in meinem klaren Bewusstsein vor. Die Angst vor der Operation ist fast verschwunden, es ist, als wäre bereits alles vorüber. Ich bin wohl schon im Heimatlazarett, oder bin ich noch nicht dort? Ich befühle meine brennenden Backen; du hast Fieber, sehr hohes Fieber. Mache dir doch keinen Kohl vor, noch bist du hier, hörst du denn nicht den da hinten mit dem „Ach, ach, die elenden Hunde"? Es geht nicht mehr, ich kann meine Gedanken nicht mehr an die Wirklichkeit heften, sie schwimmen ab mit mir.
Erst als man mich in den hellerleuchteten Operationssaal trägt, kehren sie zurück. Mein erster Blick sieht eine große Messingschüssel, darauf einen Arm, ekelhaft zerschnitten. Ich bin vollständig munter. Sehe, höre, rieche, fühle. Offenbar interessiert mein Fall die zwei Ärzte und zwei Schwestern absolut gar nicht. Man scherzt, man lacht. Die eine Schwester nennt den Arzt im Scherz einen Strolch. Die zwei anderen schäkern an einem Waschbecken. Von Zeit zu Zeit steigt eine förmliche Lachsalve. Jetzt erscheint im Zimmer ein Sanitäter, reißt mir robust den Verband von der Wunde, gleichzeitig bekomme ich von der Schwester einen maskenartigen Wattebausch auf das Gesicht mit der Aufforderung, zu zählen.
Der Sanitäter verschwindet wieder. Ich zähle. Man erzählt. Eins — zwei — drei — vier; der Berger, der Knirps, so ein richtiger Liliputaner, stellt sich in die Ecke, wo unsere — zwölf — dreizehn — vierzehn — fünfzehn — sechzehn — stark kurzsichtige Oberin Punkt zwölf vorbei muss und heult wie ein kleiner Junge von sieben Jahren ganz steinerweichend, ich muss — einundzwanzig — zweiundzwanzig— dreiundzwanzig — mal pullen, ich muss mal pullen! Die Oberin fragt: „Nun, mein Kleiner, warum weinst du denn so sehr?" — „Ich muss so sehr pullen!" sagt der Berger — fünfunddreißig — sechsunddreißig — siebenunddreißig — achtunddreißig — „Aber warum machst du das nicht?" — „Es geht nicht", brüllt Berger mit Säuglingsstimme und fingert an seinem Hosenstall herum. Vierundvierzig — fünfundvierzig — sechsundvierzig — siebenundvierzig — achtundvierzig — „Na warte, ich helfe mit", sagt die hilfsbereite Oberin, „so mache mal die Beinchen breit — so—so—so — geht's schon? — Wie alt bist du denn, mein Kleiner?" Der Berger flötet: „Dreiunddreißig Jahre" — sechsundfünfzig — siebenundfünfzig — acht—undfünfzig
— neunundfünfzig------sech-----zig ------ einund------sechzig —
zwei-----------.
Aus nebelhafter Ferne klingt unbändiges Lachen. Dahinein mischt sich mein Schreien, glühender Stahl brennt und beißt in der Wunde. Immer tiefer bohrt sich der Stahl, er bohrt sich bis zum Herzen. Schreien und Lachen werden leiser. Wie mit einer eisernen Klammer legt sich ein Druck auf meine Ohren, ein ungeheurer Feuerball liegt vor den Augen, sein grelles Licht verwandelt sich in Blut. Das Blut färbt sich violett, blau, schwarz —.
Ich erwache mit einer Drahtschiene am Bein. Die Wunde schmerzt sehr. Das Essen, das herrliche saubere Bett, — ein richtiges Bett nach langer Zeit, — die Ruhe trösten über vieles hinweg. Des Nachts ertönt die Front. Irgendwo, nicht sehr weit, krachen Fliegerbomben. Nach etlichen Tagen erfolgt Transport zum Lazarettzug. In einem zweirädrigen Anhängekarren, hinter einem Sanitätsauto hopsen wir vier Glücklichen durch die Landschaft. 0 weh, eine wilde Fahrt. Sind es Freuden- oder Schmerzenstränen, die wir vergießen? Die Karre springt über Löcher und Steine, als seien wir alle Artisten, die einen neuen Trick probieren. Mit dem gesunden Bein und den Armen hänge ich in den Verdeckspangen, um so die gröbsten Stöße zu mildern. Mein Kamerad neben mir ist armverwundet, er kann sich nicht halten. Er fliegt wie ein Stück Holz hoch und wieder runter.
Das Auto hält. Der Chauffeur steigt ab und tröstet uns; — er hat Befehl, in diesem Tempo zu fahren. — Ein selten verrückter Befehl. Nach etlichen Stunden sind wir endlich im Zug. Nun rollt er ab, der Heimat entgegen. So ein Glück. Was gibt es wohl Besseres für uns arme Schlucker als diese Fahrt in die Heimat. Nicht alle Schätze der Welt, nicht Ruhm und Chargiertenknöpfe, nicht das verlogene Geschwätz vom Heldenkampf fürs Vaterland, nichts könnte uns dazu bewegen, freiwillig von dieser Fahrt zurückzutreten. Für alle die Klapsmänner, die es heute noch reut, dass es ihrem obersten Kriegsherrn nicht vergönnt war, inmitten seiner Truppen zu sterben, weil der Krieg so kurz war, sei gesagt, dass es in unserem Lazarettzug
niemand gab, der eine Träne vergossen hätte, weil er nun für seinen Kaiser nicht mehr kämpfen konnte. Ein Trost blieb uns allen. Wir hatten immerhin noch Gelegenheit, für unseren allerdurchlauchtigsten Kaiser und König im Lazarett zu sterben.
Bis Mainz ging die Fahrt. Im Rochushospital wurden mir die Knochen soweit wieder zusammengeleimt, dass ich in zwei Monaten mit Krücken die Rheinpromenade entlanghumpeln konnte. Die größte Sorge, die über uns Krüppeln im Rochus schwebte, wie ein feindlicher Fesselballon über der Front, waren unsere Schwestern. Sie waren von einem besonderen Orden. Ich habe den Heiligen, welcher sich als Stammvater legitimierte, vergessen. Nur diejenigen, an denen es deutlich war, dass sie schon sehr, sehr weit von den heiligen Gewohnheiten und Zeremonien abgerückt waren, erfüllten halbwegs ihren Dienst. Die anderen dagegen konnten vielmehr als Inquisitoren ihres Ordens angesprochen werden, als dass man sie hätte Pflegerinnen nennen können. Mit ihren unheimlich scharfen Augen wachten sie über uns, um uns wegen unserer heidnischen Gebräuche jederzeit einer vernichtenden Kritik zu unterziehen. Selbst der geduldigste Mensch, z. B. einer, der weder Hände noch Füße bewegen konnte, weil sie zentnerschwer in Gips lagerten, war beim besten Willen nicht imstande, es diesen alten Schrauben recht zu machen.
Wenn so ein Rattengewitter merkte, dass ein Kamerad seine letzte Energie daran verschwendete, sich die Anwesenheit dieser — „Wohltäter" — aus dem Gedächtnis zu reißen, sann es auf die gebenedeietesten Ränke, um den gottlosen Frevel alsbald zu vertilgen, bis es auf der Stirn des gequälten Kriegers deutlich lesbar wurde: „Oh, du Ausgeburt aller Frömmigkeit, du Stückchen Dörrgemüse, du dreimal unberührte Heilige, du alter Leierkasten, ich fühle es bis in alle (auch die abgesägten) Glieder, dass du immer noch nicht an deiner Gelbsucht verreckt bist."
Ich hatte das „Glück", bei diesen Jesusammen das h------Christfest mitfeiern zu dürfen. Nachdem es vierundzwanzig Stunden ununterbrochen von den Kirchen in Mainz geläutet hatte, wobei sich unsere Kapellenglocke besonders hervortat, war es uns allen, auch denen, die dreißig Meter Mullbinde um den Kopf gewickelt trugen, klar, dass vor eintausendneunhundertsiebzehn Jahren in einem Kuhstall in der Nähe von Bethlehem ein kleines Kind geboren worden war.
Die Freude der Kameraden über diesen Vorfall kannte keine Grenzen. Noch zumal sich selbst der Kronprinz (was der Vater von Domela ist (Anm.: Hochstapler, der durch seine Ähnlichkeit mit einem Kronprinzensohn einen Skandal heraufbeschwor, der zu einer Blamage für die deutsche Aristokratie wurde.) trotz seines aufreibenden „Dienstes" in Charleville... auf dem Tennisplatz und sonstwo...) auf die Begebenheit entsinnen konnte und jedem lebendigen, halb- oder dreivierteltoten Krieger seiner Armee (im Nebenberuf war er ja Armeeführer) eine Tabakspfeife und fünfzig Gramm Ia Wiesenheu zukommen ließ. Noch nie sah ich so „glückstrahlende" Gesichter, als die der Kameraden, welche durch die Güte unserer lieben barmherzigen Schwestern dazu bestimmt waren, gemäß ihren Anordnungen den Weihnachtsbaum anzuputzen: „Liebe Schwester Euphrosine, ich bin gern bereit, diesen versilberten Papierengel zum einunddreißigsten Male auf Ihren Wunsch an eine andere Stelle zu hängen." Oder — „meine allerbeste Schwester Anastasia, beliebt es Ihnen, die hundert vergoldeten (leeren) Nüsse je einen halben Millimeter tiefer zu hängen?"
Kurz nach Mitternacht wurden wir alle geweckt, damit niemand zu spät zum Gottesdienst kam. Alles, was keine Beine hatte, strömte in die Kapelle. Unsere guten Schwestern leisteten Erstaunliches, sie schleppten jeden, aber auch jeden in die Kapelle. Ich garantiere, wären von den vierhundertachtzig Verwundeten etliche dabei gewesen, denen der Kopf amputiert gewesen wäre, auch diese würden sie in die Kapelle geschleppt haben. An den Ausgängen der Kapelle standen sie Wache, auf dass niemand wieder entweichen konnte. Auch die Notdurft zu verrichten war kein Grund, die Kapelle zu verlassen. Nach den Regeln ihres Ordens war das streng untersagt.
Diese Ungebührlichkeit, wegen einmal pinkeln die Kirche zu verlassen, erkannten die Kameraden durchaus an, darum gingen sie in die Ecken. In die starren kreischenden Töne der Orgel brachte das Plätschern dieser Bächlein einigen Fluss. Der Geruch des Weihrauches vermischte sich allmählich mit dem einer brennenden Feldscheune, wofür allerdings der Kronprinz verantwortlich zu machen war. Einer der Kameraden bekam in der kalten Kirche einen Schüttelfrost, er klapperte laut mit den Zähnen, das klang wie Trommelwirbel und füllte die Pausen der Orgelmusik gut aus. Jedenfalls, die Andacht und Heiligkeit war nicht mehr zu überbieten. Nachdem alles überstanden war, wurde zu Mittag gespeist.
Nun erreichte die Stimmung ihren Höhepunkt. Die Kameraden fanden heraus, dass neben einer leeren vergoldeten Nuss am Weihnachtsbaum ein abgenagter Knochen ein gutes Dekorationsstück sein kann. Da es Schweinskoteletts gegeben hatte, bekam jede Nuss ihren Knochen. Andachtsvolle Tränen der Rührung wurden vergossen, als jemand seinen weißen Mäusen, die er in einer Kiste in Gefangenschaft hielt, anlässlich des Geburtstages des Herrn Jesus v. Nazareth die Freiheit schenkte und ihnen den schönen duftigen Weihnachtsbaum als dauernden Wohnsitz anbot. Der liebe Gott hatte nichts dagegen einzuwenden, und lebendig und lebensfroh, wie weiße Mäuse nun einmal sind, glitten sie den Baum herauf und herunter.
In Mainz gibt es ein Bier mit einem Rad im Wappen, davon waren ohne Schuld der Brauerei etwas mehr Flaschen in den Rochus gelangt, als im Programm stand. Jedoch dieser Fehler war kein Fehler. Unserer Hauskapelle löste dies je nach Instrument die Zunge oder Finger. Ein Fehler im Programm zieht meistens andere nach sich —, es ist ja auch ganz gleichgültig, ein Geburtstag muss gefeiert werden. Jemand erhebt sein Glas und schnarrt mit der Stimme eines Generals: „Kameraden — Stillstann — rührt euch — Kameraden — laut Armeebefehl feiern wir heute den Geburtstag — äh, seiner Maje
— äh, des Herrn v. Nazareth, Exzellenz v. Nazareth geriet in der Schlacht von Gethsemane in Gefangenschaft — äh, bei den verdammten Juden —. Pontius Pilatus war viel zu schlapp, und die Juden, die verdammten Schweine — äh, natürlich, Exzellenz v. Nazareth ans Kreuz geschlagen, — Schweinerei verfluchte, — v. Nazareth urra — urra — urraaa." Der Zorn und die Hingebung für unseren lieben Heiland kann bei den giftigsten Kreuzrittern nicht größer gewesen sein als bei uns. Das war in kurzen Worten der Verlauf der Weihnachtsfeier.
Diese ehrlichen Sympathiekundgebungen wurden von den frommen Schwestern total missverstanden. Von dem Tage an hegten wir Verdacht, dass ihre Frömmigkeit nur Heuchelei sei. Bis zum letzten Tag in Mainz war es uns nicht möglich, diesen Verdacht abzuschütteln. Grollend nahmen wir Abschied. — Gute Nacht, ihr Jungfern von St. Rochus, für euch gibt es keinen Frühling mehr!
Einer Jungfrau war mein Abschied aus Mainz doch nicht ganz gleichgültig. Ich vaterlandsloser Geselle muss es reuevoll eingestehen,
— war es in Laon eine schwarze kitzlige Französin gewesen, in Mainz hatte ich mein Herz an eine blonde reale „English Miss" ausgeliehen. „Ruth Fisher." — „My name is Fisher, I'm an English girl." — „Das ist nicht wichtig, du lieber Kerl." — „My heart goes to you, please, take this pudding." — „Wie gut bist du, mein einziger Liebling!" — „Oh, what is the love fine, well, now you are my man." — „Das muss wohl so sein, ich füge mich denn!" — „Fare well, Mister Toorik, when the war is finished, come back!" — „Leb wohl, Miss Fisher, ich komme zurück, wenn der Krieg zu Ende ist!' '
Gut, reichlich und schmackhaft, das sei den Schwestern von St. Rochus anerkennend gesagt, hatten wir in Mainz gegessen. Schweinemäßig wurde in Küstrin gekocht. Dieser erste Eindruck von Küstrin versetzte alle Kameraden, die den Transport nach dort mitmachten, in eine förmliche Migräne. In Baracken, unter denen die meisten mit Geschlechtskranken besetzt waren, hatte man uns gesteckt. Wir meuterten, — das Essen wurde etwas besser, Küstrin war uns nicht angenehm.
Als ich meinen Fahrschein zur Genesungsbatterie nach Posen erhielt, zog ich gern meine Straße, ohne zu ahnen, dass ich sehr bald in einer gänzlich veränderten Situation zurückkehren sollte. Auf diesem Rückweg hatte ich sogar meinen Namen mit einem anderen vertauscht, mein Beruf, meine sonstigen in zwei Jahrzehnten mühsam eingetrichterten Kulturerrungenschaften waren spurlos verschwunden. Ich konnte, als ich nach Küstrin zurückging, weder lesen noch schreiben und hatte meine Muttersprache total verlernt. Mein Zivilisationsniveau war so tief gesunken, dass humorvoll veranlagte Menschen vor meinen Augen anstatt mit Sardellenbutter mit Bartwichse meine Suppe würzen konnten, ohne an mir den geringsten Argwohn zu entdecken.
Einstweilen gehen wir nach „Posnan". Wer Posen mit anderen westlichen Städten vergleichen will, braucht nicht weit zu gehen, er geht, auf dem Bahnhof angekommen, in einen Abort und hat sofort den Unterschied heraus. Dortselbst merkt er auch bereits, dass Posen eine Stadt mit polnischer Bevölkerung ist. Alle Pornographien sind in polnischer Sprache verfasst. Auf der Straße fielen zweisprachige Ladenschilder in die Augen. Piwo i Wino (Bier und Wein) gab's im „Oberza". Maslo i Ghleba (Butter und Brot) und alle anderen Bedürfnisse des Lebens wurden in polnischer Sprache angeboten.
Für den, der als Volksschulbesucher von der Existenz eines polnischen Volkes in unseren Ostprovinzen nichts gewusst hatte, waren diese Dinge eine große Überraschung. Allüberall Polen! Auch bei den wenigen, von denen man deutsch angesprochen wurde, ließ sich ihr Polentum nicht ganz verleugnen. Seihet die „Panna" von der Straße zischelte: „Ja, jest twoja Kochanka, daj dwa Marek (ich bin deine Liebste, gib mir zwei Mark)." Nach kurzem Aufenthalt in der Kaserne des 20. Artillerieregiments in der Magazinstraße bekam ich ein Kommando nach Warthelager, achtzehn Kilometer von Posen. Ein Truppenübungsplatz, wie alle anderen Schleifsteine in Preußen auch. Was gibt es davon viel zu erzählen!? Baracken, Baracken, Baracken, Soldaten, Pferde, Friseur, Kantine, Kino, Prostituierte.
Das war die erste Zeit langweilig. Bald führte ich ein Leben, das bei jedem Wild-West-Cowboy Neid erregt hätte. Von den im Warthelager gesammelten, in der Provinz Posen ausgemusterten Pferden rissen regelmäßig etliche aus. Diese wilden Gäule, die oftmals vierzig bis fünfzig Kilometer zurücklegten, wieder einzufangen, war die Aufgabe, die mein Kamerad Schröter und ich hatten. Kam die Meldung, dass ein Gaul das Weite gesucht hatte, spritzten wir in die Schreibstube, um den Heimatsort der betreffenden Nummer zu erfahren, und auf dem besten Reitpferd, das in den Baracken zu haben war, nahmen wir die Verfolgung auf.
Im Galopp versuchten wir die Schinder, die meistens ein paar Kilometer Vorsprung hatten, einzuholen.
Das war ein Leben! Als ob es keinen Militarismus gäbe, so fegten wir in die frühlingsschwangere Natur, durch Flur und Wälder, längs Bächen, querfeldein, immer scharf ausschauend, um den Entronnenen wieder zurückzuholen. Meistens, da Wald- und Hügelland den Blick hemmten, dauerte es zwei, drei, auch vier Tage, bis wir zurück waren. Ich kann hier nicht immerwährend Liebesabenteuer schildern, jedoch ein Kavallerist auf hohem Ross hat auch bei schönen Polinnen Chancen, die wir zwei uns nicht entgehen ließen. Unzählige Bekanntschaften wurden gemacht und wieder vergessen.
In der Nähe von Obornik, einem kleinen Städtchen an der Warthe, liegt finster inmitten hoher Bäume der Wohnsitz eines alten polnischen Adelsgeschlechts. Die Sonne ging schlafen, als wir durch den Park zum Schloss ritten, um ein Unterkommen für uns und unsere Pferde zu besorgen. Kein Mensch von der zahlreichen Dienerschaft sprach ein Wort deutsch. Der Besitzer war ein polnischer Patriot und hasste alles Deutsche. Ich hatte trotz der kurzen Zeit, die ich in dieser Gegend war, etliche Brocken Polnisch aufgeschnappt und sagte radebrechend, was wir wünschten. Ein Junge besorgte unsere Pferde, ein Diener zauberte einen blendend gedeckten Abendtisch hervor.
Nach dem Essen wurde ich von einer Zofe gebeten, ihr zu folgen. In einem Salon nahm ich in einem Sessel Platz, als, nach einer etwas gezwungenen Vorstellung meinerseits, eine junge Polin in einem eleganten Kleid sich mir gegenüber niederließ. Sie rauchte eine Zigarette und bat mich, ebenfalls zu rauchen. Ich bedeutete ihr, dass ich ablehnen müsse, da ich nur Pfeife rauche, aber das würde der gnädigen Frau wahrscheinlich nicht angenehm sein, weil ich leider keinen guten Tabak hätte. Sie klingelte ihrer Zofe und sagte in wundervoll weichklingendem Polnisch etliche Worte. Alsbald bekam ich eine schöne, mit bunter Glasur verzierte Tabaksdose vorgesetzt. „Bitte, nehmen Sie!"
Ich bin von Natur her ein frecher Mensch und verderbe mir angenehme Stunden nicht mit Lampenfieber. Ich weiß nicht warum, trotz der vornehmen Aufmachung, trotz dieser äußerst gepflegten Hand, mit der mein Gegenüber die Zigarette an die Lippen führte, fühlte ich mich nicht beengt, stopfte meine Pfeife und ließ mich ausfragen. Nach einiger Zeit wurde ich neugierig. Sie war in Warschau erzogen, nur für ein paar Tage hier anwesend. Bald gehe sie nach Warschau zurück. Als einziger Gesellschafter fungierte ein alter Onkel. Hier sei alles sehr patriotisch, sie selber auch, und ein regerer Verkehr mit den deutschen Herrschaften der Umgebung finde nicht statt. Da ich ja meinem Namen nach Pole sei, hätte sie keine Bedenken, mit mir diese Plauderstunde begonnen zu haben.
Topp. — „Erzählen Sie bitte von Frankreich, es muss schrecklich sein, der Krieg dort. Ich war mit zwanzig Jahren einmal in Paris, es wäre schade, wenn die Deutschen diese Stadt zerstören würden." — Ich erzählte. „Oh, Sie sind verwundet? Ah, Sie tragen noch einen Verband?! Schmerzt das nicht beim Reiten? Nehmen Sie gleich morgen ein Bad. Wie alt sind Sie?" — „Zwanzig Jahre." Ich will auch wissen, wie alt die Schöne ist. — „Aber bitte, eine Dame fragt man nicht nach dem Alter!" — „Wenn sie noch nicht dreißig ist, kann man fragen", entgegnete ich, „ich schätze Sie auf acht—neunundzwanzig Jahre." — „Oh Gott, sehe ich schon so alt aus?!" — „Nein, Sie sehen bedeutend jünger aus, aber Sie sind so alt!" — „Ich glaube, Sie haben schon viel erfahren, trotz Ihrer zwanzig Jahre?!" — „Nein! Sie irren, ich habe fast noch gar nichts erfahren." —
„ Sagen Sie, wollen Sie mit mir heute abend ein wenig auf Jagd gehen?" — „Da bin ich dabei, aber was wollen wir jetzt schießen, es ist schon März. Löcher in die Luft?" — „Panje Turek, da treffen wir auch, wenn der Mond hinter den Wolken steht!" — „Gestatten Sie mir auch, etwas Tabak mitzunehmen?" — „Sie sind pünktlich in einer halben Stunde vorn am großen Tor. Sagen Sie niemand von dem Vorhaben, diese Dörfler hier sind klatschsüchtig wie alte Tanten! — Doswidzenia, Andrzej!"
„ Auf Wiedersehen, Panna Janina!"
Ich ging schnell zurück zu meinem Kameraden, der saß mit den Mädeln und einem alten Diener in einer Stube; er war halb betrunken, die ganze Meute feixte sich an. — „Mensch, Jong, wat büs do forne Kerl, läß mi hier solang alleen, ick vostah nich ne Woort hier! Hee, do ooler Kotlettenhengst, schenk för mine Früund in, ut de Bott'l!" Ich ging hinaus, nahm meinen Mantel, zog das Koppel straff ins Schloss, und mit brennender Pfeife wartete ich am Tor. In halblangen Stiefeln mit einem schmalen Riemen um die Hüften, ohne die Zurückhaltung von vorhin, empfing mich Janina. — „So, hier, nehmen Sie Ihr Schießeisen, es ist geladen!" — „Ich glaubte schon, Ihnen wäre der Mut abhanden gekommen! Das ist ein Bild mit uns beiden, was? Ha, wir schießen alles über den Haufen, was?" —
„ Andrzej, Sie verstehen hoffentlich nicht falsch, ich muss Sie wirklich darum bitten, über diesen nächtlichen Streifzug nicht zu reden. Sagen Sie, können Sie das?" — „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort!" „Ha, ha, wie vornehm; — behalten Sie Ihr Ehrenwort; solche Sachen bekam ich schon dutzendweise, sie waren wertloser als eine abgestempelte Briefmarke! Übrigens mögen diese guten Bürger denken, was sie wollen! Wer will sich erdreisten, mir zu untersagen, beim Mondenschein jagen zu gehen? Allein zu gehen, ist nicht sittsam. Den Onkel mitzunehmen, als Beschützer, wäre geradezu paradox, er bekäme einen Nervenschock beim ersten Schuss. Und nun gehe ich mit Ihnen, Panje Turek, — was ist das?" — „Eine sehr gefährliche Sache!" — „Ach was, ich werde Ihnen beweisen, dass ich furchtloser bin als ein Räuber." — „Und ich werde zeigen, dass ich der größte Räuber bin, den jemals der Mond in Ihren Wäldern beschienen hat!"
In einem Wiesengrund, auf hohen Pappeln, saßen Krähen. „Da brenne ich jetzt eine Ladung hinauf," — sagt die schwarze Janina. „Halt, wir geben eine Salve. Hören Sie auf mein Kommando!" — „Nein!" Ihre schwarzen Augen funkeln zu mir auf: „Ich werde kommandieren!" — „Unsinn!" — Ich reiße die Knarre an die Backe; wie ein Schuss krachten beide Büchsen in die Mondnacht. Nur eine Krähe flattert auf die Erde. „Andrzej, Sie gefallen mir besser als • meine Barone in Warschau! — Nehmen wir den Raben mit? Er blutet, wir werden uns beschmutzen, lassen wir ihn liegen!" —
In einer Sandgrube setzt sich Janina auf einen großen Stein und himmelt den Mond an. Mit schöner gedämpfter Stimme singt sie ein polnisches Lied. Ich verstehe nur etliche Worte von Liebe, Wein und Tod. Nachdem das Lied verklungen, legt sich Janina ungeniert neben mich in den Sand, nimmt mir meine Pfeife aus dem Mund, macht drei, vier Züge daraus und gibt sie mir in den Mund zurück. Sie schmiegt sich an. — „Bitte, noch ein paar Züge!" — Ich gebe ihr die Pfeife zwischen ihre glänzenden Zähne.
Wir liegen lang auf weißem Sand, die Nacht flüstert geheimnisvolle Dinge. Im Mondlicht zeichnen die an einen großen Stein gelehnten Gewehre eine romantische Silhouette. — „Andrzej, noch nie habe ich so empfunden wie jetzt hier! Ach, wir mit unseren kristallenen Formen, wir haben uns die Erlaubnis, so frei lang gestreckt, im Mondschein badend, im Sande liegen zu können, verscherzt. — Wir sind einen jahrhundertelangen Kontrakt eingegangen, jede Bewegung unseres Körpers nach einer abscheulichen Schablone zu vollziehen! — Wir haben nicht mehr die Courage, kontraktbrüchig zu werden. Mein Papa sprach neulich mit einer förmlichen Besorgnis von den Geschehnissen in Russland. Dort, sagte er, würden uralte Privilegien, Gesetze, die die Würde von Jahrhunderten trügen, in der Zeitspanne, in der man ein paar Flinten abschießt, erledigt!" — „Niemand weiß, was noch kommt. Es könnte auch den Hohenzollern so ergehen wie den Romanows."
„ Keineswegs habe ich Angst, mein lieber Andrzej, wszistkojedno. Ob so oder so, nur eins ist gewiss, in fünfzig Jahren sind wir kaputt!
Noch sind wir jung und — sehr schön!" Plötzlich knallte ein — Kuss. „Hoppla! Ich wusste nicht, dass die Preußen so schnell schießen!" — Mit einem Satz war sie auf dem Stein. — „So, hier auf meiner Burg bin ich sicher! — Solange ich will!" Ich springe zu ihr auf den Stein, ein kurzer Kampf entscheidet sich schnell zu meinen Gunsten: Ich habe ihre Burg erobert. — „Ach, kommen Sie, hier im Sand rauchen wir die Friedenspfeife!" „Es gibt keinen Frieden, auch dort geht der Kampf weiter." — „Sie sind wirklich ein Räuber!" „Und Sie sind nicht furchtlos wie ein Räuber! Jetzt haben Sie Angst." „Ich schwöre, ich habe keine Angst, weder vor Ihren Küssen noch vor mehr. Aber unsägliche Angst habe ich vor einer Indiskretion Ihrerseits!" — „Ach, das alberne Geschwätz, wir werden uns nie wieder sehen. Wir haben uns ab morgen nach dem Frühstück nie gekannt!"
Wszistkojedno. Nur der Mond hat gesehen, wie heiß diese blaublütige Dame auf die Lust eines gewöhnlichen Sterblichen reagierte. Wenn sie gewusst hätte, dass mein Vater im Schatten ihrer Wälder spazieren gegangen ist, dass ich der Sprössling eines ihrer ehemaligen Untertanen bin!?
In dem Dorfe Gey, zwischen der Kreisstadt Samter und Obornik, wohnt noch heute ein Bruder meines Vaters und bewirtschaftet das kleine Landgut meiner Großeltern. Diesen Onkel habe ich einige Wochen später besucht, seine Frau ist, wie er selbst, polnischen Blutes. Er spricht geläufig deutsch, da er in der Armee gewesen ist, und auch seine drei Kinder sprechen gut deutsch. Dagegen kann seine Frau kein einziges Wort deutsch sprechen, noch verstehen. Von meinem Abenteuer mit der Schlossdame habe ich nichts erzählt.
Dieses behagliche Leben, das sich wohl niemand besser und romantischer wünschen kann, ging noch etliche Wochen so weiter, bis ich, ohne Urlaub zu haben, den Besuch bei dem Onkel machte. Nach vier Tagen nach Warthelager zurückkehrend, gab es einen mordsmäßigen Krach. Ich sollte nachexerzieren, wogegen ich mich sträubte. Die Strafe für unerlaubte Entfernung verwandelte sich in Stallwache. In der Nacht geriet ich mit dem diensthabenden Unteroffizier in einen Streit und schlug ihm dabei eins mit dem Mistbesen vor den Kopf.

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