Kreuzfahrten durch den Urwald des Kapitalismus
Gewiss, auch ich freue mich, aber gar zu bald stellt sich heraus, dass ich von dieser Freude nicht leben kann.
Darum nahm ich einen Pappkoffer, packte ihn voll Zigarren (Fasson 1—9) und trug sie aufs Land. Zigarren sind nicht schwer. Es macht Spaß, an herrlichen Herbsttagen von Dorf zu Dorf zu laufen. Aber in den Dörfern sieht die Sache wesentlich anders aus. Entdeckt so ein Reisender die bekannte Uniform des Kramladens auf dem Dorfe oder in der kleinen Stadt: Persil-, Maggi- und sonstige Reklameschilder „führender Firmen", so steuert er hinein, gleichgültig, ob er in Tabakwaren, Parfümerien, Bürstenwaren, Bijouterie oder in vaterländischer Literatur macht. Reisende müssen fleißig sein wie Bienen und dürfen keine Blume verschmähen, wenn sie nicht verhungern wollen. Leider kann man es den Blumen nicht ansehen, ob sie einträglich sind oder nicht, darum stößt man oftmals auf allerlei taube Blüten. Einmal: „Guten Tag. Ich komme als Vertreter der Firma Johann Gorajski, Stendal, darf ich Ihnen eine Offerte machen in Tabakwaren?" — Während dieser wenigen Worte steht bereits der ganze Inhalt des Koffers auf dem Ladentisch aufgebaut, denn die junge Frau sieht sehr viel versprechend aus, es dürfte nicht allzu schwer sein, etwas abzuhängen. „Unsere Referenzen sind eigenes Fabrikat aus garantiert reinen Überseetabaken. Hier ist Fasson Nr. 5, eine sehr solide Ware, die Sie bei uns für — (ich weiß nicht mehr, wie viel Inflationsmark) — kaufen und gut mit —,— M. absetzen können." So redete ich weiter, damit die liebe Frau nicht gleich zu Worte kam. Die Erfahrung lehrt, dass der Kunde eine ablehnende Antwort um so schwerer hervorbringt, je länger man sie hinausschieben kann. Natürlich muss ihm nach einer gewissen Zeit ein Loch offen gelassen werden, herauszukommen.
Die junge Frau erklärte, es täte ihr sehr leid, ich brauchte mich nicht weiter zu bemühen, Tabakwaren führe sie gar nicht.
Das ist nun für den Reisenden gleichbedeutend mit — „erschossen". Kaum hat die junge Frau geendet, erscheint im Türrahmen eine Alte. Die brüllt mitten in meine Vorstellung hinein: „Um Jottes willen, Zigarr'n, packen Se man schnell in und verduft'n Se, von den Mist hab'n ma noch allens voll, da könn' Se von uns noch wat koofen." Ein andermal: Ich sitze auf dem Bahnhof unter Kollegen. Es ist noch eine halbe Stunde bis zur Zugabfahrt. „So ein miserables Geschäft heute, kaum die Spesen springen heraus!" — „Ich muss mir einen anderen Artikel zulegen. Textil ist nichts mehr, die Kaffern kaufen alles in der Stadt. Mit Tabak muss doch noch was zu machen sein!" — „I wo denn!" — „Na, das ist doch Männerkundschaft, ich habe immer mit den verdammt geizigen Weibern zu tun! Männerkundschaft ist besser, soviel steht fest! Waren Sie schon drüben im Rittergut beim Verwalter?" — „Nein." — „Springen Sie doch schnell mal rüber, der raucht sehr viel, ich kenne ihn, der lässt die Zigarre den Tag über nicht ausgehen. Wenn nicht alles täuscht, lässt sich da was abhängen." — Ich bin beim Verwalter. Der ist sehr zugänglich und interessiert. Wirklich, nicht Markierung. Kaut auf einem kalten Stummel. Ich kalkuliere — todsichere Sache! — Beinahe habe ich ihn fest, bei Fasson Nr. 7. Ein Fehler von mir, dass er eine« andere Fasson unschlüssig beschnüffelt. Er will wählen. „Scheint alles frische Ware zu sein!?" — „Nur in der Decke, Herr Direktor. Einlage und Umblatt sind knochentrocken!" Ich ziehe alle Register. „Rauchen Sie doch bitte an, ganz unverbindlich." Wehe, wenn die Nudel nicht brennt! Und sie brannte nicht! Nun heißt es reden, reden. Man wird lebendig wie ein Sonntagsruderer, dessen Kahn einem Wehr entgegentreibt. Man dringt darauf, noch eine anzurauchen und spricht dabei von der Ehre der Firma, um die es ginge, dass dem Kunden ganz rührselig zumute wird. Der gute Mann will kaufen, dem Brand der zweiten schaut er zu wie einer gefährlichen Zirkusattraktion, es würde ihm sehr nahe gehen, wenn etwas schief ginge. Und es ging sehr schief mit dem Brand. Da man beim Verkauf von hundert Zigarren dem Kunden nicht siebenundneunzig zum Anrauchen geben kann, ist man in solchen Fällen ein geschlagener Mann. Es ist manchmal wirklich wie ein Zirkus. Der Clown muss die Situation retten! Wird man dabei mit einem wehleidigen Lächeln entlassen, kann man noch froh sein. Ich hatte dann noch bis zur Abfahrt des nächsten Zuges vier Stunden Zeit, über die Sachen nachzudenken, wobei ich aus der angebrochenen Kiste zwei Zigarren rauchte. Ein kleiner Trost, sie brannten ausgezeichnet.
Wieder einmal! Warum immer den wohlhabenden Leuten die Zigarren ins Haus tragen? So dachte ich beim Anblick einer Polenkaserne, wie sie in der Altmark jeder deutschnationale Krautjunker besitzt. Es ist Feierabend auf dem Gut. Das Privatleben der Polen hat begonnen. Eine Garmoschka schreit herüber. Was, ihr wisst nicht, wass iss daas, — ach so, ihr versteht nicht russisch. Ich werde übersetzen. Ein Zerrwanst... versteht ihr auch nicht. Eine Faustorgel... immer noch nicht ganz klar!? Aha! Ihr seid Lateiner! Eine — Harmonika schmettert einen Krakowiak. Es riecht stark nach Zwiebeln und Hering. Kaum habe ich ausgepackt, werde ich schon förmlich belagert. Im Handumdrehen sind meine Zigarren vergriffen, das heißt, zum Ansehen vorläufig nur. Bald hagelt es Bestellungen. Ein Stück. Zwei Stück. Sechs Stück. Ich erkläre, dass ich nur kistenweise verkaufe. „Nehmen Sie doch gemeinsam eine Kiste!" Es war ihnen zu teuer. Aber eine Kiste haben sie doch genommen, das habe ich aber erst gemerkt, als ich schon auf der Heimfahrt war.
Die Tage werden kürzer. In dieser Zeit hat ein Reisender, wie ich einer war, keinen genügend großen Aktionsradius. Bei Eintritt der Dämmerung lässt sich kein Geschäft mehr machen. Das bedingte eine Änderung meiner geschäftlichen Obliegenheiten. Ich ging mit meinem Tabakladen auf den „Schock". Das heißt in der Fachwelt auf Märkte. Das ist sehr interessant. Man reist von Stadt zu Stadt. Meist sind es Kleinstädte, seltener Mittelstädte. Bis mittags oder nachmittags sitzt das muntere Volk der Schockmacher in Kneipen oder Cafes umher und erzählt sich Geschichten. Der Mann, der jeden Tag achtmal lebendig begraben wird, bezahlt der Lieblingsfrau des Maharadscha ein Bier. Selbst könnte sie sich keins kaufen, ihr Alter wäre ein Geizkragen, sagte sie. Emil, vom Leidensweg unseres Herrn und Heilands in Wachs, verdrückt eine Riesenportion Eisbein. Er kann sich das leisten, denn für sein Unternehmen machen die Pfaffen Reklame. Gummi-Else steht heute nicht, sie ist schon wieder halb besoffen. Es ist fast immer dieselbe Gesellschaft, nur
auf größeren Schocks sieht man mehrfach neue Gesichter. Gibt es irgendwo Krach, so sind es meistens Ortsansässige, falsche Schockmacher, die sich einbilden, besondere Vorzüge genießen zu können. In Wittenberg traf es sich, dass ich am zweiten Tage schon fast ausverkauft hatte. Auf meinem Tisch verloren sich die paar Kisten. Mir kam der Gedanke, einen „Bauchladen" (Hausierer-Kasten) aufzumachen. Schneller ging das Geschäft. Diese Feststellung wurde auch von den einheimischen Tabakhändlern gemacht, noch zumal ich nicht immer vermeiden konnte, in der Nähe ihrer Stände zu verkaufen. — „Herr Kommerzienrat, was kosten denn Ihre teuersten Sorten?" — Dieser Spaßmacher hinter mir war ein Schutzmann. „Ich soll Sie mal aufs Büro holen, is nischt weiter, Sie können sich's schon denken." — „Wegen dem Bauchladen wohl?" Konkurrenzneid! Der Beamte auf dem Büro war sehr unparteiisch. Er könne mir den Bauchladen nicht verbieten. Die Neidhammels aus Wittenberg erhielten von ihm den Rat, sich auch einen Bauchladen anzuschaffen. Auf den kleinsten Märkten machte ich die größten Geschäfte. Mein kleinster Markt war Clenze. Dort machte ich das größte Geschäft. Salzwedel—Ülzen sind zwei öde Nester südöstlich der Lüneburger Heide. Dazwischen liegt ein Dorfbahnhof, der heißt Bergen. Dort stieg ich in einen Reichspostomnibus, zwei PS. Das linke Pferd hieß Lotte, das rechte Max. Der Kutscher sah malerisch aus. Er steckte in einem Kostüm, wie es von Künstlern auf Kleinkunstbühnen beim Vortrag des Postillion von Longjumeau benutzt wird. Und, denkt euch, die Bereifung: aus Eisen. Die Karosserie nur Holz. Vier Fenster, davon die Hälfte Blech statt Glas. Die Geschwindigkeit liegt 363 km unterm Weltrekord. Immerhin eine sehr beachtliche Leistung, wenn man bedenkt, dass Major Seagrave mit tausend PS nur 372 km gefahren ist. In einem übertraf die Post von Clenze die Wagen der ganzen Welt, das war die Federung. Die Anordnung der sechs Sitzplätze gestattete, dass die drei linkssitzenden Passagiere den drei rechtssitzenden immer gerade aus einem Meter Entfernung in die. Augen sehen konnten. Als ich fuhr, saßen links drei dicke Schockweiber. Die eine kennt ihr schon, es war die Gummi-Else. Sie war schon wieder halb besoffen. Rechts saß nur ich. Eben aus dieser Sachlage erinnere ich mich der glänzenden Federung der Clenzer Post. Während die drei Damen sehr bequem, fast wie im Liegestuhl die Fahrt machten, musste ich, beinahe stehend, dauernd acht geben, damit ich nicht einer der drei an den Hals flog. Das ewige Gefühl, umzufallen, im Verein mit dem oft bedrohlichen Schwanken des Gefährtes, sowie die anbrechende Dämmerung, ließen bei mir so etwas wie Seekrankheit aufkommen. Vielleicht war es auch nur Müdigkeit. Gummi-Else war eine von den Menschenkindern, die, wenn sie betrunken sind, keinen bösartigen Charakter zeigen. Und als ich halb schlafend wieder einmal auf der Wippe stand, zog sie mich sanft auf ihren Schoß. Von den dreien war sie die jüngste. Ob ich deshalb sitzen blieb, weiß ich nicht. Jedenfalls war es sehr bequem. Die Post segelte nun wie ein alter Schoner, der stark krängt, ihren Kurs nach Clenze. Als dort der Kutscher den Verschlag öffnete, schliefen wir alle vier. Er weckte uns: „He, Madam, dat mün Se umgekehrt moaken, Se mün den jungen Mann uppn Schoß nehm." Gummi-Else sagte, etwas traurig: „Erst war das auch so." Ich kam mir plötzlich so vor, als müsste auch ich dazu eine Erklärung abgeben. Indem ich meine eingeschlafenen Glieder streckte, knurrte ich: „Wir lieben eben die Veränderung. Is dat schon Clenze hier!?" — „Jawoll, schon seit fünf Minuten." — Dann hatte ich eine seltsame Vision. Ich sah irgendwo im Dunkeln des Wagens eine Schrift, wie sie öfters in Bedürfnisanstalten anzutreffen ist, die lautete: „Vor dem Austritt sind die Kleider zu ordnen!" — Die Märkte solcher kleinen Orte sind meistens mit Viehmarkt verbunden. Schon früh beginnt dann der Betrieb. Gummi-Else und ich standen nebeneinander, kaum Zeit, ein Wort zu wechseln, blieb uns. Das Geschäft war glänzend. Es gelang mir, für den Tag Gummi-Else trockenzulegen. — „Ich verspreche dir, heute bestimmt nüchtern ins Bett zu kommen." — „Wir werden ja sehen, ick gläuw di dat noch nich!" — „Ach, wieso nich? Wenn ick 'n Mann häw, bruck ick doch nich supen!"
Endlich bekam ich das Leben auf den Schocks satt. Was eines Morgens noch kein fester Gedanke war, sollte abends schon Wirklichkeit sein: ich siedelte ins Ruhrgebiet über. Bis Bochum fuhr ich diesmal. In der katholischen „Westfälischen Volkszeitung" nahm ich Arbeit. Eine schwarze Bude war das, von den etwas über fünfzig Kollegen gehörten nur vier bis fünf der SPD an. Ich war der einzige KPD-Mann. Zwar gelang es mir, nach monatelanger Arbeit eine kleine Betriebszelle von drei Genossen zuwege zu bringen, jedoch zeigten diese bei den scharfmacherischen Methoden der Firma nicht genügend Rückgrat. Ein wahrer Jammer ist es, feststellen zu müssen, wie schlapp die Kollegenschaft den brutalen Machenschaften der Betriebsleitung begegnete. Anstatt Geschlossenheit zu zeigen, lagen sie sich gegenseitig in den Haaren. Verklatschten einander bei den Faktoren und Saalmeistern!
Die Arbeit in der „Westfälischen Volkszeitung" war geisttötend. Neben etlichen Akzidenzdrucksachen wurden viel kirchliche Zeitschriften angefertigt. Der Setzerfaktor leistete von Tag zu Tag Erstaunlicheres in der Kommunistenfresserei. Die beiden Chefs Schürmann und Klagges mieden mich absichtlich, versäumten jedoch nicht, bei Gelegenheiten, die sich boten, hinter meinem Rücken in Kommunistenhetze zu machen. So hatten sie mich im Verdacht, die Wasserleitungshähne kaputt zu drehen, die Seife zu stehlen usw. Der Faktor war infolge rigoroser Ausbeutung durch die Firma längst ein erledigter Mann. Dürre wie ein Gespenst, zapplig wie ein kötelnder Pinscher. Zwar war er übel und unausstehlich auch im Verkehr mit den anderen Kollegen, das hinderte aber die meisten nicht, sich immer wieder bei ihm anzuschmieren. Das Ende meiner Tätigkeit in diesem Kunsttempel gestaltete sich folgendermaßen. Ich zeichnete in einem vier Seiten langen Brief die erbärmliche Rolle des Faktors als Lakai der Ausbeuter recht drastisch auf. Stellte ihn darin seinen beiden wohlgenährten faulenzenden Chefs gegenüber und empfahl ihn am Schluß dem Schinder. Diesen Brief legte ich am andern Morgen um 9 Uhr, als er eine Gardinenpredigt seiner Chefs anzuhören hatte, in deren Beisein auf sein Pult. Um 10 Uhr hatte ich den Restlohn und meine Papiere in der Tasche. Fristlos entlassen.
Zwei Tage später, nachdem ich mich überzeugt hatte, dass Kunst knapp sei, ging ich auf den Pütt, das heißt in die Zeche „Friedlicher Nachbar" bei Hattingen an der Ruhr. Man fragte mich dort, ob ich unter Tag arbeiten oder zum Lokomotiv-Brikettmachen gehen wolle. Ich erhoffte beim Brikettmachen bessere Arbeitsbedingungen und wählte darum das. Aber wie war ich erschrocken, als dort ein alter Arbeiter, pechschwarz im Gesicht, mit einem Eimer Lehmbrei an mich herantrat mit den Worten: „Hol still, min Jong, ich wüll de was bemalen." Erst sträubte ich mich, es half nichts. Wollte ich nicht in wenigen Wochen so waschecht schwarz aussehen wie der Alte, so musste ich jeden Tag vor Anfang der Schicht mein Gesicht mit Lehmbrei bestreichen lassen. Nach etwa einer Stunde trocknete die Breischicht und zurück blieb eine ziemlich starre Lehmmaske, die den Gesichtern der Kolonne etwas gleichförmiges Totes verlieh. Der eine sah genau aus wie der andere. Man tat gut, während der Periode des Trocknens die Gesichtszüge auf ein hestimmtes Gleis zu schieben, denn trocknete die Maske hei herabfallendem finsterem Ausdruck, so platzte der Lehm bei aufgeheiterten Zügen im Laufe des Tages ab. In die Bruchstellen setzte der Pechstaub seine Striche, was bei wiederholtem Vorkommen nach Abwaschen der Lehmmaske eine deutliche Markierung zurückließ. Diese Bemalung sah dann schlechter aus als eine gleichmäßig schwarze Einwirkung des Pechs auf das ganze Gesicht. Ich hatte während der Zeit auf der Zeche „Friedlicher Nachbar" ein jeden Tag gleiches lächelndes Gesicht. Der Mund etwas breit, die Augen ein wenig verkniffen, so sah ich aus, auch wenn die schweren heißen Briketts manchmal meine Finger in die Klemme nahmen. Lerne leiden ohne zu klagen. Lerne leben ohne zu arbeiten, wenigstens nicht in einer Lokomotiv-Brikettfabrik.
Energisch suchte ich nach Kunst, das heißt Berufsarbeit. Diese fand ich auch bald. Die „Neuesten Nachrichten" in Buer nahmen mich auf. Um nach Buer zu gelangen, verzog ich nach Herne. Ich will nun erzählen, welchen Weg zur Arbeit ich jeden Tag machen mußte. Dabei ist zu bemerken, dass ein solcher Zustand für Ruhrgebietsverhältnisse noch keine Abnormität darstellt. Weil ich in Buer keine Wohnung fand, stand ich jeden Tag um vier Uhr auf, ging eine Viertelstunde zum Bahnhof Herne, fuhr bis Station Wanne, stieg dort in einen Zug, der mich bis Buer brachte. Der Bahnhof Buer liegt so weit vom Stadtinnern, dass man, um dorthin zu gelangen, die Straßenbahn benutzen muss. Benutzte also die Straßenbahn und war dann nach kurzem Fußweg um sieben Uhr im Geschäft. Nach Acht-Stunden-Hetze im Zeitungsbetrieb kletterte ich diese Verkehrsskala wieder herunter und landete spät abends in Herne. In Buer bei den „Neuesten Nachrichten" wurde unheimlich gesoffen. Der Faktor gestattete das, weil für ihn dabei etwas abfiel. Er wohnte ebenfalls nicht in Buer, sondern in Recklinghausen. (Ein Jahr später wurde er verhaftet, weil man bei ihm eine kleine Druckerei vorfand, deren Schriften allzu große Ähnlichkeit mit denen der „Neuesten Nachrichten" hatten.)
Nach vielen Kreuzfahrten durch die zahlreichen Arbeitsstätten des Ruhrreviers ging ich auf Walze. In der Offizin Ruhfuß, Dortmund, war die Debatte über die Feier des ersten Mai etwas haarig ausgefallen. Einem Jesuiten, der die Kommunistenfresserei auch ohne den winkenden Blick seines Herrn und Gebieters betrieb, war dabei die Brille ein wenig in die fettigen Backen gerutscht, so dass er durch eine neue Brille für drei Wochen die Welt durchs Krankenhausfenster betrachten mußte. Obgleich dieser Kampf auf der Straße stattfand und Landauer, der Jesuit, sich mit einem schweren Bleisteg bewaffnet hatte, wurde ich deswegen entlassen. Für die Geschäftsleitung der Firma Ruhfuß ist es ein Verbrechen, wenn sich ein Kommunist von einem Jesuiten nicht widerstandslos den Schädel einschlagen lässt. Jetzt läuft der Kerl mit dem Kainszeichen herum. Eine Narbe mit Nähten.
Im Betrieb Ruhfuß stand ein junger Kollege mit Namen Urthel, der sich kurz entschlossen die Papiere geben ließ, um an der Walze teilzunehmen. In Richtung Köln zogen wir los. Den Rhein hinauf, Bonn, Koblenz, Wiesbaden, Mainz. An den Stellen, wo der Rhein am schönsten ist, war unser Hunger am größten. In Lorch am Rhein hängen laut Reiseführer silberne Glocken im Kirchturm. Wir haben dort verzweifelt nach ein paar Kartoffeln geforscht. Nichts zu machen, Lorch ist uns durch seine herrlich klingenden Glocken im Gedächtnis haften geblieben. Feine Glocken, aber keine Kartoffeln, eine schmerzliche Erinnerung. In Eltville wurde Arbeit angeboten. Krauterbude erster Klasse. Lehrlinge, die trotz dreijähriger Lehrzeit noch nichts setzen konnten als ein Etikett für Weinflaschen. Ihre Zahl war jedoch noch nicht so hoch wie bei Theodor Schulz in Osterburg.
In Mainz trafen wir nach etlicher Forschung auf farbige französische Kolonialtruppen-Angehörige, die eine gute Ladung Hass und Groll gegen den französischen Militarismus unter ihrer schwarzbraunen Haut aufgespeichert trugen. Einmal muss die Rache kommen. So lautete der Refrain ihrer heiseren, wütenden Reden. Ein Chargierter nahm uns aus dem Kreis schimpfender Marokkaner heraus mit den Worten: „Ist verboten zu sprechen mit swarze Francesoldat." Etwa fünfzig Meter weiter machte er uns klar, dass in dem Kreis der Kameraden ein Spitzel sei. Er beobachte den Burschen schon länger, leider sei es schwer, ihn hier abzukanzeln. Als früherer Seemann war er viel in der Welt herumgekommen. Es sei eine Schande, dass seine Landsleute sich in dem ungewohnten Klima Rheumatismus und Katarrhe holen müssten, während in der Heimat die Familie auf den Vater oder Bruder warte. Überraschend war uns, wie eingehend dieser Mann, der doch weder Deutsch noch Französisch lesen konnte, über die Geschehnisse in der Sowjetunion unterrichtet war. Die Russen waren für ihn alle Gentlemen, wie er englisch sagte. Weil sie zuerst mit der Revolution begonnen hätten. Auf unsere Frage, wer wird wohl nun Revolution machen, gab er prompt die Antwort: „Afrika, swarze Kamerad." Mit aufrichtigem Händedruck schieden wir voneinander. In einem Dorf bei Wiesbaden war Tanz. Von Genossen aus Wiesbaden wurde uns gesagt, dass man dort mit Besatzungstruppen gut Fühlung nehmen könne. Wir Buchdrucker haben in unseren Verbandsbüchern eine deutsche und eine französische Beschriftung. Durch diese Tatsache bekamen wir bald Anschluss. Die jungen Jahrgänge der dort stationierten Truppe, die den Krieg noch nicht gesehen hatten, erwiesen sich leider als sehr vaterlandstreu, es kam kein Gespräch in Fluss. Man antwortete auf unsere Fragen zurückhaltend und scheu, obgleich mein Kollege mit einigen Sprachkenntnissen sich ausreichend verständigen konnte. Der Deutschenhass wird durch die Militärbehörde künstlich geschürt. Das zeigt folgende kleine Geschichte, die uns ein Arbeiter in Mainz erzählte. Die Indochinesen sind gute Mechaniker, darum werden sie hauptsächlich als technische Truppe verwendet. Ein Chinamann war mit seinem Kraftwagen infolge Unkenntnis der Wege aus der Besatzungszone heraus ins unbesetzte Gebiet geraten. In der Meinung nun, einer ungeheuren Gefahr ausgesetzt zu sein, ließ er den Wagen stehen und verschanzte sich in ihm. Drei Tage lag er so auf einem verlorenen Feldweg und argwöhnte hinter den neugierigen Blicken der harmlosen Landbevölkerung die grausamsten Mordpläne gegen sich und seine Maschine. Der Hunger machte ihn gelehrig. Denn schließlich mußte er einsehen, dass man einen Menschen nicht mit Weißbrot und Äpfelwein um die Ecke bringt.
Ü ber Frankfurt am Main zogen wir durch den Spessart nach Würzburg. Auch Rothenburg ob der Tauber streiften wir. Müde und hungrig stierten wir die Altertümer Rothenburgs herauf und herunter. Serade als ein hoher Mauerturm betrachtet werden sollte, tat sich eine sehr alte Frau durch eine freundliche Einladung zum Nachtquartier in ihrem Turmzimmer hervor. Über halb zerbrochene Treppen, an Leitern hoch ging's, wo an einer Stelle zwei, drei Sprossen fehlten. Kaum konnten wir der Alten in den halbdunklen Turm folgen. In einem großen geräumigen Zimmer endigte die Kletterei. Die Alte vermietete an Sommerfrischler mit voller Pension, wie sie uns erzählte. Um zu verhindern, dass sich unsere fragwürdigen Mienen zu einem entschiedenen Dementi entluden, stellte die Alte in schmutzstrotzenden Tellern eine Suppe auf einen Tisch, den man nicht berühren konnte, ohne festzukleben. Selbst Fliegen kamen nicht ohne Mühe von ihm los. Nach der Suppe gab's Honigbrot. So nannte es die Alte. Zuckersirup war's. Die Hälfte lief durch das Brot auf den Tisch. Als die Alte das Brotmesser nahm, damit das Moos an ihren drei Zahnstummeln ein wenig lockerte, und uns fragte, ob sie für uns noch ein Honigbrot fertig machen solle, ergriffen wir die Flucht. Zuviel Mittelalter in Rothenburg für uns. Auf der Chaussee nach Ansbach kam ein Kunde, der ein Hemd verkaufen wollte. Ich hätte ein Hemd gebrauchen können, aber ein alter Speckjäger hat im Handel mit Textilwaren ein schlechtes Renommee. Für ein Spottgeld zog er aus seiner Brusttasche ein gewrungenes nasses Hemd hervor: „Dös brauchst di net glei hier in derer Gegend z' trocknen, morgen, wennst auf Nürnberg gehst, do lasst sich's scho mache." Aus einem Waschfass gemaust.
In Nürnberg auf der Post lag ein Brief von meinen Eltern, worin ich gebeten wurde, sofort nach Hause zu kommen. Über Bamberg, Erfurt, Halle, Magdeburg zog ich nordwärts. Mein Vater trug sich mit Auswanderungsplänen. Nachdem die Mitglieder der ins Leben gerufenen Kolonie um etliche Monatsbeiträge leichter gemacht waren, wanderten die Manager aus, auf Nimmerwiedersehen. Damit war meine Anwesenheit in Stendal wieder überflüssig geworden. Im Herbst geht man nicht gern auf Walze, aber der Prolet ist schon zu sehr daran gewöhnt, das tun zu müssen, was er nicht gern tut. Ich tippelte los. Diesmal hatte ich einen interessanten Kameraden. Einen Rohkostler. Er aß nur Früchte. Am Tage vor unserer Abreise besorgte er sich einen Rucksack Birnen. Bis Berlin aß er Birnen. In Berlin kaufte er Rosinen. Bis Magdeburg aß er Rosinen. Es war ein Hundewetter auf der ganzen Reise. Kalter Regen floss reichlich hernieder. Der Rohkostler besaß kein Hemd, keinen Mantel, nur eine Jacke und eine kurze Hose. Mit blauen bloßen Füßen trabte er durch Regenpfützen und Schlammlöcher. Der Kapitalismus war für ihn überwunden: „Ich lasse mich nicht ausbeuten. Mich ärgern nicht die fetten Bäuche der Großen." — „Aber du frierst." — „Nein." — „Du musst elenden Kohldampf haben." — „Nein." — „Wir werden sehen, in vierzehn Tagen bist du erledigt." — „Nein, ich will nicht erledigt sein, ich will nicht hungern, ich will nicht frieren. Auf den Willen kommt es an. Ihr seid nicht besser wie die Kapitalisten, der Unterschied besteht darin, dass die einen schon fressen und saufen können, was ihnen beliebt, während euch in den Kaidaunen vorläufig nur erst die Gier brennt. Eure Eitelkeit ist schlimmer als die der Besitzenden; denn ihr müsst schuften für den Firlefanz, die anderen aber erwerben es mühelos. Ihr seid Affen, weil ihr alles nachahmt, was man euch vormacht." In Hadmersleben, unweit Halberstadt, auf Schacht I und II der „Konsolidierten Alkaliwerke Westeregeln", bot sich Arbeit. „Ich lasse mich nicht ausbeuten", sagte mein Kumpel und stieg nicht mit in die Grube. Aber ich hatte die Schnauze voll. Der ewige Regen und draußen in Feldscheunen schlafen müssen, ist nicht angenehm, wenn der Reif des Morgens die Gräser versilbert. „Ich friere nicht", rief der Rohköstler und schaute verächtlich auf die Frostbeulen an seinen Füßen.
Die Inflation vernichtete mehr und mehr den Kaufwert der Mark. Die Reiseunterstützung unserer Gewerkschaft war auch bei billigsten Bezugsquellen nicht mehr geeignet, das Loch im Magen zu stopfen. Ich habe keinen Hunger, warf der Reformmensch lächelnd in die Debatte, nahm eine Handvoll Roggenkörner und zerkaute sie. Wir trennten uns. (Er hieß Wolf und war in Mannheim zu Hause. Sobald ich nach Mannheim komme, ziehe ich Erkundigungen ein, ich will wissen, wann er beerdigt worden ist.)
Als die Sache mit den Papieren erledigt war, bezog ich Quartier im Schlafhaus der Zeche. Ein neues Gebäude, fast wie eine Villa, doch die Inneneinrichtung war wie in einer Baracke. Fünf Militärbettstellen in einem sehr kleinen Raum. Bettzeug schien für die Zechenverwaltung ein Luxusartikel. In schmutzige, zerrissene Decken rollt sich der Prolet. Dass er schläft, dafür sorgt die Verwaltung durch genügende Bewegung unter Tag. Als ich noch nicht ganz fertig war mit dem Nachdenken, was wohl für Neuigkeiten in den Schichten der Erde 600 Meter unter ihrer Oberfläche zu erwarten seien, wurde ich jäh daran erinnert, dass es bei den Alkaliwerken immer was zu erleben gibt, gleichgültig ob über oder unter Tag. Es trat eine Person ins Zimmer, die es sich nicht nehmen ließ, sofort mit mir Fremden in eine „angeregte" Unterhaltung zu steigen. — „Du in die Luft geschissenes Fragezeichen, dir soll ich wohl eine anhauen, dass dir die Backzähne in den Arsch runter rutschen. Verschwinde, sonst gehste durchs Fenster." Da dieser Weg durchs Fenster zehn Meter Steilgefälle hatte, zog ich es vor, dem lieben Kollegen zuvorzukommen und den normalen Weg durch die Tür zu nehmen.
In Hadmersleben kennt der Bürger den Grubenarbeiter schon, bevor er ihn zum ersten Mal gesehen hat. Wahrscheinlich zählt er alle Menschen, die nicht genau denselben Anstrich haben, wie er, zu Geschöpfen zweiter Klasse. Darum wurde mir schon beim Eintritt in dieses niedliche Kleinstadtidyll klar, dass ich nicht als vollwertiger Mensch gerechnet wurde. Wenn die Bürgerstöchter einem Grubenarbeiter begegnen, zeigen sie für irgendeine graue Wand, für das Knüppelpflaster oder den Himmel plötzlich so lebhaftes Interesse, dass ihnen keine Zeit bleibt, der Anwesenheit eines zweiten Menschen auch nur eine Sekunde Aufmerksamkeit zu schenken. Trotzdem gibt es in Hadmersleben Leute, die am Grubenarbeiter nicht mit Missachtung vorübergehen, das sind die Kaufleute. Ein Hering, eine saure Gurke, ein Brot macht keine große Rechnung, und doch wurde ich mit Höflichkeit bedient. Es war die Art Höflichkeit, von der man deutlich spürt, dass sie vor allem der Brieftasche gilt. Mit dem Einkauf in einer großen Tüte ging ich zurück zu dem Schlafhaus. Wieder fing der Mensch von vorhin mit mir ein Gespräch an: „Du dreimal um den Kirchturm gewickeltes Hammelgeschlinge, bist du schon wieder da, soll ich dir eine tachteln, dass dir sämtliche Gesichtszüge abfahren?" Der Kerl war unheimlich lang und breit, dazu total besoffen. Ich hatte die große Tüte mit dem Einkauf bereits in einen Schrank gelegt, nun nahm ich sie wieder heraus und verließ das Zimmer, um mein Abendbrot auf der Treppe einzunehmen. Den Hering ließ ich unberührt, mein Leben kam mir ohnehin schon so versalzen vor. Da ich ihn auf meiner Wanderung durch das Schlafhaus nicht in der Hand halten wollte, legte ich ihn in ein Treppenhausfensterbrett. Leider muss er in einem unbewachten Augenblick von dort entflohen sein, ich sah ihn niemals wieder.
Ja, das Haus war gut gebaut, neu, jedenfalls ohne Ungeziefer. An etliche Türen klopfte ich, fast alle waren zu, die Besatzung ausgeflogen, durch eine drang das Wimmern einer Geige. Ich klopfte rücksichtsvoll dort an, die Geige ließ sich nicht stören. Als ich eintrat, fand ich das Zimmer unbeleuchtet, in einer stockfinsteren Ecke war die Geige. Ich blieb an der Tür stehen, um zu lauschen. Eine Stunde stand ich dort. Die Geige sang fort und fort, leise und leiser, bis sie ganz schwieg. Darauf ging ich hinunter zum Wirt, auf mein Klopfen antwortete nur ein wütend bellender Hund. Leise schlich ich mich nun in mein Zimmer. Der Lange lag unbekleidet auf einem Bett und schlief. Schnell verlöschte ich wieder das Licht und ging ebenfalls zu Bett. Wahrscheinlich hatte ich schon lange geschlafen, als ein fürchterlicher Krach begann. Von der Zunge des Langen, dessen Stimme ich schon kannte, lösten sich verheißungsvolle Worte. Ich hatte schon vorher ein Geräusch vernommen, als wenn jemand das Zimmer betreten hätte. Die Bestätigung, dass wir wirklich zu dreien waren, gab der Lange, indem er laut brüllte: „Sag noch ein Wort, du Arschloch papiernes, und ich schlag dir eins auf die Brotfotze, dass die Backzähne in der Nachbarschaft herumfliegen." Ich hatte keine Lust, mich in die Angelegenheit der beiden einzumengen, überdies lag ich gerade rechts mit dem Kopf zur Wand, so dass ich den Vorgang nicht von allem Anfang beobachtet hatte, um ein unparteiisches Wort sprechen zu können. Der Lange sprach ein unsympathisches oberschlesisches Schuldeutsch, und Leute mit solcher Aussprache sind mir von jeher gleichgültig gewesen. Wahrscheinlich wollte der dritte auch schlafen, doch kaum verlöschte das Licht, als der Breite-Lange mörderlich schrie: „Ist dir lange kein blutiges Auge über das Chemisett gerollt? Wer hat dir gesagt, das Licht abzuknipsen." Befehlsgemäß drehte die dritte Person das Licht wieder an. Wohl eine Stunde mochten wir drei geschlafen haben, als eine vierte Person das Zimmer betrat. Weil sie in Holzpantoffeln kam und der Lange-Breite wieder ein Gespräch begann, wurde ich munter: „Ich schlage dir eins auf den Schädel, dass dir die Strümpfe platzen und du Plattfüße kriegst, wenn du nicht gleich die Holzschuhe ablegst." Zur selben Sekunde löschte die vierte Person aus. Nach zwei bis drei Stunden war Wecken. Ein Klingelzeichen rasselte ohrenbetäubend. Der Lange-Breite ließ sich vernehmen: „Dieses verpfuschte Kriegerdenkmal weckt wieder eine halbe Stunde zu früh, wir werden noch nicht aufstehen." Ich war anderer Meinung und stand mit einem Satz vor meinem Bette. Der Breite: „Wessen Vater bist du? Woher kommst du über die Mauer geklettert?" Man kann nicht unhöflich sein, ich war ihm nun endlich eine Antwort schuldig: „Halt die Fresse, du bist besoffen..." — „Leute, wir werden aufstehen müssen, es geht nicht, dass die Stube sieben immer zu spät zur Grube kommt", meinte er. Befehlsmäßig erhoben sich alle. Durch den dicksten Schlamm der Magdeburger Börde zogen die Insassen des Schlafhauses zur Zeche, schweigend mit gebeugtem Rücken, das dürftige Frühstückspaket in der Tasche. Heute ist Sonnabend, wohl jeder hat noch einen Bissen. Nein, nicht jeder. In dem Schlafhaus sammelt die Zechenverwaltung alles, was sie an Arbeitskräften für eine gute Konjunktur braucht. Ausgestoßene der Gesellschaft, Lumpenproletariat ist der Sammelbegriff und die Rinnsale zu diesem — verkrachte Akademiker, hungernde Künstler, überwinternde Landstreicher, geschundene Opfer von Krieg und Inflation, Leidenschaftszerfressene sowie Stumpfsinnige — verbringen hier ihre Tage. Tage? Besser gesagt Nächte. Wir gehen bei Dunkelheit zum Schacht, sind nachmittags drei Uhr wieder „zu Hause", also lässt uns der Spätherbst eine einzige Stunde Licht, und das ist unser Tag.
In der Grube schwerste Arbeit. Nehmt als Probe folgendes: In schlechter Grubenluft bei oftmals hoher Temperatur müssen drei Mann in einer Schicht vierundvierzig Wagen füllen, wovon jeder fünfundzwanzig Zentner Steinsalz fasst, oder zweiundfünfzig Wagen mit je zwanzig Zentner Kali. Wer den unergründlichen Schlund des Ausbeuters Kapitalismus in seiner ganzen Brutalität sehen will, muss auf die Fördersohle eines Schachtes hinuntersteigen. Hier, wo es darauf ankommt, die mit Schweiß und Flüchen der Erde abgerungenen Schätze zutage zu fördern, reißt er sein bluttriefendes Maul am weitesten auf. Knochenbrüche, zerquetschte Glieder, abgerissene Finger sind keine Argumente, seine Gier nach Profit auch nur für eine Minute in ein anderes Gefühl zu verwandeln. Weiter, weiter, alle fünfundvierzig Sekunden saust der Förderkorb den Schacht herauf und herunter. Hier gibt es keine Unterbrechung. Los, los, alle fünfundvierzig Sekunden muss der Förderkorb mit vier Wagen die Erdoberfläche erreicht haben. Fauchen und Sausen im dunklen Schacht. Alle fünfundvierzig Sekunden, muss, muss. — Heran die Wagen. Die leeren oder Versatzwagen heraus, hinein die vollen, fünfundvierzig Sekunden herauf, sechshundertsechzig Meter hinunter. Tempo. Irgendwo in einem glänzenden Hotel haben gutgekleidete, beleibte Männer, Besitzer goldener Uhren, eleganter Autos, mondäner Frauen, dieses Tempo bestimmt: das Syndikat legt die Förderung für das zweite Halbjahr 1922 fest auf — Millionen Tonnen. Prolet, leih deine Knochen! Irgendwo am Verhandlungstisch haben deine Vertreter die Notwendigkeit der Überschichten sowie die Unmöglichkeit der Sechsstundenschicht den Gutgekleideten von den Augen abgelesen, darum Kumpel: feste ran, gegen mit de Brost, dafür kannst du am nächsten Lohntag einen Hering mehr essen.
Der Lump aus dem Schlafhaus watet in Holzschuhen, bis an die Waden im Schlamm, Tag für Tag zur Grube. Er hat nur eine Hose, darin gräbt er das Kali, darin feiert er seine Feste. Er hat nur ein Hemd, daran klebt salziger Schweiß als Ausfluss unmenschlicher Arbeit, es trägt gleichzeitig die Flecken seiner kargen Liebesstunden. Der Alkohol ist meistens sein einziger Freund. Ein ehemaliger Schriftsteller, welcher als Beweis dieser Tätigkeit überall ein paar vergilbte Manuskripte mit sich herumschleppte, war lange Zeit das Rätsel seiner Stubenkollegen, zu denen auch ich zählte. Er war einer der Ärmsten der Stube und doch ließ sich nicht feststellen, wo er sein Geld vertat. Wohl war es uns geläufig, dass sich niemand etwas Wertvolles an Kleidungsstücken anschaffen konnte, aber dieser Kollege mit seinen Holzpantoffeln und dem total zerrissenen Jackett hatte bestimmt ein Loch in seiner Brieftasche, wo hinaus die Inflationstausender krabbelten. Keiner lebte solider wie der Schriftsteller. Niemals ging's bei ihm in Kneipen. Niemals fuhr er nach Oschersleben oder Magdeburg zu den Prostituierten. Sein Essen war dürftiger als das unsere. Er aß fast nichts als trockenes Brot. Wurst und Fisch sah man bei ihm nur am Lohntag. Jeden Abend um sieben oder acht Uhr zog er seine schmierigen Decken über den Kopf, und dann lag er still in seiner Ecke bis zum Morgen. Dass er oftmals im Schlaf leise Selbstgespräche führte, nahm ihm niemand übel. Fast täglich wurde er von jemand gefragt, wo er sein Geld ließ und warum er sich beim Trödler nicht wenigstens ein Paar alte Schuhe holte. Ungefragt sprach er überhaupt kein Wort, und auf solche Anwürfe sagte er knapp: „Wo bleibt denn euer Geld? Ihr habt doch auch nicht mehr wie ich." — „Wir versaufen's doch oder verfressen es, Mensch, aber du liegst doch dauernd auf de Klappe. Ich gloobe, du bist so dusselig und sparst die Inflationspupen noch, damit de dir mit se zu Weihnachten den Arsch wischen kannst." Nun war jemand auf der Stube, dem dieser Gedanke mit dem Sparen keine Ruhe ließ. Er durchwühlte das Bett des Schriftstellers in dessen Abwesenheit und fand zwischen die Matratzen geklemmt fünf oder sechs leere Schnapsflaschen. Auf einen Generalangriff hin mußte sich der Arme bequemen, einzugestehen, dass er ein heimlich-unheimlicher Säufer war. Teure Liköre, Kognak, Alten Getreidekümmel, Steinhäger kaufte er sich und nuppelte die Flasche des Nachts still unter der Decke aus. Wo nun die Bude davon wusste, wurde er noch verschlossener. Nach einigen Tagen zog er aus.
Noch eine seltene Marke beherbergte das Schnarchhaus: einen vermasselten Zahnarzt aus Dortmund (sein Vater war in Dortmund als tüchtiger Zahnarzt mit großer Praxis bekannt). Ein fideler Bursche, einigermaßen in Schale. Kaum war er ein paar Tage dort, hatte er zur einzigen Tochter eines Kaufmannes in Hadmersleben Beziehungen angeknüpft. Ein bestehendes Verlöbnis mit einem Lehrer wurde schnell gelöst und der neugebackene einzige Zahnarzt am Orte war schon in Sicht, als Braut und Schwiegereltern mit Talenten ihres neuen Familienmitgliedes bekannt wurden, von deren Existenz sie bisher noch nichts gewusst hatten. Aus dem Hause eines polnischen Gutsarbeiters schlich sich über Knüppelpflaster, Gartenzäune, Biberschwanzdächer, an Mansardenerkern und cremefarbigen dreifachen Gardinen vorbei ein Gerücht: der Zahnarzt hat — bei der Tochter des polnischen Gutsarbeiters geschlafen — und morgens beim Nachhausegehen — hat er ihren mit Kuhscheiße bekleckerten Unterrock mitgenommen. Die Kaufmannsfamilie horchte auf. Es wurde ihr Angst, als ein Gastwirt im Ort eines Tages zu jedem Bier folgende Beilage verabfolgte: „Der Zahnarzt aus dem Schlafhaus, ihr wisst doch, der die Emmi vom Kaufmann kriegen soll, hat mir gestern abend eine Tischdecke geklaut. Jawoll." Der Zahnarzt konnte das Klauen nicht lassen. Er mopste Dinge, die für ihn ganz zwecklos waren. Wir im Schnarchhaus wussten schon seit geraumer Zeit, wie furchtbar lang seine Finger waren. Abhanden gekommene Sachen fand man mit verblüffender Sicherheit in seinem Schrank. Da er alles gutwillig wieder abtrat, bekam er nicht allzu oft den Wanst voll. Rettungslos der Kleptomanie verfallen. Im Schacht, wo es dunkler wie die Nacht ist, hat er dann über sein zerflossenes Glück als Zahnarzt nachdenken können.
Im Schacht wurde ich nicht heimisch, obgleich ich mich bewusst von der schweren Arbeit des Förderns drückte. Einmal war ich in einem Revier als Schlepper. Ich mußte die leeren Wagen oder auch Versatzwagen (das sind Wagen, die mit Dreck, Asche, Gestein, Abfällen oder Schlacken gefüllt sind) durch einen langen, völlig finsteren Stollen schleppen. Jede Fahrt hin und zurück dauerte zehn Minuten.' Die Karbid-Lampe blieb am Ort und so verrichtete ich die Arbeit im Finstern, tappend wie ein blindes Ross. Totenstille, Grabesruhe, mein eigener Schritt und das Rollen der Wagenräder waren die Laute, welche mich daran erinnerten, dass ich selbst noch da war. Oftmals legte ich die Stirn auf den Wagenkastenrand und trabte halb schlafend hinter dem Wagen her. Ein größerer Stein, der irgendwo zwischen den Schienen lag, mußte als Spielgefährte dienen. Ich wettete mit mir selbst, ob ich ihn bei der nächsten Fahrt mit dem Fuß anstoßen würde. Manchmal gab ich dem Wagen einen Schub, so dass er fünfzig Meter weiter rollte, dann balancierte ich auf einer Schiene hinterher, fühlend und horchend, ob der Wagen noch nicht bald erreicht ist. Die Nähe irgendwelcher größeren Gegenstände lässt sich bei etlicher Übung mit dem Gehör wahrnehmen. Aus den Schienen durfte ich mich nicht entfernen, sonst bekam ich bald die harten Felswände zu spüren, der Stollen war sehr eng. Wer die Sonne liebt wie ich, hält es nicht lange aus an solcher Stelle. Eine elektrische Birne ist ein schlechter Sonnenersatz, aber immerhin ist es doch besser als gar nichts, darum meldete ich mich in ein anderes Revier.
An einem Bremsschacht mußte ich Steinsalzwagen herausziehen und leere raufschieben. Ein Bremsschacht ist im Bergwerk ein hundert, zweihundert, auch dreihundert Meter tiefer, senkrechter Schacht, der jedoch nicht die Erdoberfläche wie der Förderschacht erreicht. Die Betriebskraft nimmt man aus der Schwerkraft. Oben sitzt ein Kumpel an einer Trommel, auf der das Seil aufliegt. Wenn der Kollege auf der Abbausohle das Klingelzeichen zieht, und das tut er, wenn er den vollen Wagen in den Korb geschoben hat, löst der Bremser mittels Hebel die festgelegte Seiltrommel und lässt gefühlsmäßig, nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam, den vollen Korb herabgleiten. Kommt der zu sehr in Fahrt, drückt er den Hebel herunter, lockert ihn jedoch sofort wieder auf, bevor die Bremswirkung zu stark wird. Der Korb mit dem vollen Wagen zieht infolge seiner Schwere den Gegenkorb mit dem leeren Wagen herauf. Bremser sein erfordert Übung, ein Ungeübter würde keinen Wagen heil herunterbringen. Bei Schichtwechsel sollen die Kumpels, um von oder auf die Sohle zu gelangen, die Fahrten (Leitern) der Bremsschächte benutzen, da es infolge starker Unfallgefahr verboten ist, die Körbe zur Personenfahrt zu nehmen. Hundert, zweihundert oder dreihundert Meter auf Leitern herauf- oder herunterzusteigen, ist eine Kraftleistung für sich, bei der jeder Aktionär der „Alkali Westerepreln" sich den Rest holen würde, für den Bergmann ist das Vorschrift. Darum riskieren die Kumpels auf dem Bremsschachtkorb ihr Leben jeden Tag einmal extra. Mit vier Mann halten sie sich auf dem wandlosen Korb fest und sausen in die Tiefe. Ihr Leben hängt an einem dünnen, schlecht kontrollierten Seil. Schon mancher hat dabei Blut gespuckt.
Wer Neuling im Schacht ist und am ersten Tag noch nicht weiß, dass zur Lockerung der Salzfelsen Sprengstoff verwendet wird, glaubt für eine Weile sein Ende nahe herbeigekommen. In eine Felswand von etwa viermal zwei Quadratmeter Fläche werden fünfzehn bis zwanzig Löcher gebohrt, in jedes Loch schiebt der Schießhauer sechs bis neun Sprengstoffpatronen, wovon eine so dick, aber etwas länger wie ein Handgriff der Fahrradlenkstange ist. Sind die Löcher gefüllt, bekommt jedes eine Zündschnur. Ist die Zündschnur des ersten Loches hundertfünfzig Zentimeter lang, so ist die des zweiten ein paar Zentimeter kürzer, die des dritten, vierten, fünften und so fort ebenfalls. Das bezweckt reihenweises Heraussprengen der Felsen. Sind die Zündschnüre fertig zum Anbrennen, ruft der Schießhauer laut zur Warnung: „Schuss, Achtung!" Alles Lebendige muss aus der Nähe verduften. Nun nimmt es der Bergmann aber nicht allzu tragisch mit dem Verduften, er ist ein starkes Pulver gewöhnt, darum kann es vorkommen, dass man als Neuling einen mordsmäßigen Schreck in die Glieder gejagt bekommt, wenn man, ohne eine Ahnung zu haben, eine solche Salve von hundert Sprengpatronen vor die Nase gesetzt bekommt. Wer vorher noch nie in den dunklen Felsgängen tief unter der Erde gewesen ist, wittert überall Gefahr, jeder herunterfallende Stein erschreckt ihn. Er rechnet sofort aus, wieviel Meter er noch hätte gehen müssen, um von dem Stein erschlagen zu werden. In jeder Bruchstelle sieht er sein Grab, denn es ist ja klar, dass die Geschichte in den nächsten Tagen herunterkommt, und da er mehrmals im Tag unter dem Hangenden hindurch muss, wird es ihn schon treffen.
Ich war zwei Tage auf der Grube beschäftigt, als ich einen Kumpel nach dem Abort fragte: „Du gehst hier die Schiene nach und sobald rechts eine Ecke kommt, riechst du schon den Kübel." Meine Funzel reichte nicht aus, weit über den entdeckten Kübel hinaus zu leuchten. Der Neuling im Schacht sieht mit seiner Lampe nicht viel, weil sie eigentlich nur eine Andeutung von den Dingen gibt, die sie beleuchten soll. Der Kübel, in den ich mein Ei legte, stand in einem Raum ohne Begrenzung. Ich wusste nicht, ob das Schwarze vor, hinter und neben mir die Nacht des Weltenraumes oder ob da im tiefen grabesstillen Schwarz doch noch etwas Wesenhaftes vorhanden sei. Plötzlich gab es einen Donnerschlag, der mich so erschreckte, dass ich bestimmt in den Kübel hineingefallen wäre, wenn er größer gewesen und eine entsprechende Öffnung gehabt hätte. Dieser Donner war aber nicht auf eine Sprengwirkung zurückzuführen, sondern er war das Echo von einem Furz, den ich selbst gelassen hatte. Ich bin kein Pferd und auch kein Mensch, der mit Pferden handelt, — wenn es bei mir aftersaust, ist noch immer der Nebenmann ohne einen Nervenschock dabei weggekommen. Jedoch die Akustik des Riesenraumes (Abraum, wo man durchschnittlich fünfzig mal fünfzig mal fünfzehn Meter Steinsalz herausgeholt hat und der noch nicht mit Versatz [Schutt usw.] wieder gefüllt ist) mit den dicken Felswänden, wovon die obere dünnste zirka sechshundert Meter, und die dickste untere Erddurchmesser minus sechshundert Meter betrug, hatte einen Furz zu einem Kanonenschuss werden lassen.
Außer uns Proleten bevölkerten die dunklen salzigen Gänge noch eine lebendige Gattung. Es waren Grillen. Die Vorfahren dieser dort unten zu Tausenden hausenden Käfer waren Grillen gewesen, wie man sie in den Sommermonaten auf den Feldern zirpen hört. Infolge äußerst ungünstiger Lebensbedingungen, z. B. dem vollständigen Mangel an Sonnenlicht, tragen die armen Tiere augenfällige Zeichen von Degeneration., Sie sind durchschnittlich halb so groß wie ihre Verwandten an der Erdoberfläche und sehen nicht schwarz-grün wie diese, sondern durchsichtig gelb aus. Ihre Bewegungen sind schlapp, im Gegensatz zu denen der sehr lebendigen Vettern vom Platz an der Sonne. Da im Salzbergwerk kein Halm wächst, selbst das zäheste Unkraut nicht, nähren sie sich recht kümmerlich von den Krümeln, die sich der Bergmann nach dem Frühstück aus dem Bart wischt. Dafür lassen sie zuweilen ein leises, müdes Zirpen hören, das erfreut den Kumpel. Auf Revier vierzehn aber war ein alter Bergmann, der konnte die Grillen nicht leiden. Wenn sie beim Frühstück zu sehr in seine Nähe kamen, spuckte er blutig-eitrige Klumpen danach und schimpfte mit heiserer Stimme: „Macht eich fürt, ihr schwindsüchtiges Gelumpe, ihr habt hier nüscht zu beessen hier unten, ihr müßt hier alle verrecken."
Mit den Salzbrocken kann man sich das Leben im Schacht nicht kurzweilig machen, darum suchte sich Lügenfranz seine Objekte zum Spaßmachen unter seinen Kollegen. Lügenfranz ist der Till Eulenspiegel der Grube. Der Bergmann Rudolf war ein Mann, von dem jeder wusste, dass seine Stiefel außer in dem Dreck der Westeregeier Feldmark noch nirgends ihre schiefen Absätze abgedrückt hatten. Aber so wie alle unbedeutenden Männer, besaß auch Rudolf eine große Leidenschaft: Lotteriespielen. Dem Lügenfranz tat es in der Seele weh, dass Rudolf nun schon 25 Jahre vergebens aufs große Los hoffte, darum schickte er eines Tages in einem leeren Wagen dem Rudolf einen dicken Brief in den Schacht. Dieser Brief war mit vielen alten Lotterieprospekten gefüllt. Obenauf lag ein wichtiges Schreiben mit geheimnisvollem Stempel. Kumpel Rudolf wurde blass bis in die Nasenlöcher, zog sich mit Brief und Lampe auf einen Abortkübel zurück, und als er nach langer Zeit wiederkam, stellte er dem Anschläger (Mann, der dem Maschinisten über Tag die Förderung signalisiert) das unerhörte Verlangen, sofort die Materialförderung einzustellen und „Personen auf" zu schlagen, er müsse sofort nach Magdeburg auf die Bank. „Äh, du bist verrückt." — „Ich haue di mit de Hacke vor de Schäddel, ich muss jleich raus, ich muss rrraus." — „I wieso denn." — „Ich hawwe nu jewonn, ich bin nu Aktionär, laß mich raus." — „Verrückt biste, aber keen Aktionär." Rudolf packt die Wut, er geht dem Anschläger zu Leibe, will selber „Personen auf" anschlagen. Der Anschläger hat ein Kreuz wie 'ne Bahnwärterbude, leicht wehrt er den schlappen Rudolf ab. Voll Verzweiflung, immer brüllend um sein Geld, stürzt sich dieser auf die Förderschacht-Fahrten und beginnt mit unheimlicher Hast die zweitausendsprossige Leiter im stockdunklen, feucht fauchenden Schacht emporzusteigen. Weil die Fahrten fast nie benutzt werden, sind sie dick mit Tropfsalz belegt, der Aufstieg dauert Stunden, ist gefährlich und erfordert einen widerstandsfähigen, kräftigen Körper, da der Steigende bald durchnässt ist und dadurch den scharfen Zugwind (Wetter) doppelt unangenehm empfindet, zumal er infolge der Anstrengung stark in Schweiß kommt. Den erstaunten Kollegen am Förderturm über Tag kann Rudolf keine Erklärung geben, er hat keinen Atem mehr zum Reden. Wie ein schlotterndes Gespenst wankt er vom Zechenplatz. Zu Hause hat er von seiner Frau eine kräftige Abreibung bekommen, erst mit dem Besenstiel und dann mit dem Waschlappen. Vierzehn Tage lag er krank im Bett.
Noch einmal lag Rudolf krank im Bett. Das kam so: Lügenfranz brachte einen Kaktus mit in die Grube. Der Kaktus trug eine herrliche seltene Blüte. In der Mittagspause, wo die Kolonne in einer Felshöhle beisammen war, stellte man den Kaktus auf den Tisch. Rudolf war verwundert, er hatte noch nie solche große schöne Blume mit Stacheln gesehen. „Amerikanische Edeldistel", erklärte Lügenfranz. Rudolf senkte sein Riechorgan auf die Blüte. Das war das verabredete Zeichen. Ein Riesenlärm erhob sich. Lügenfranz wurden grobe Vorwürfe gemacht. — „Wir hawwen di das jesagt, du sollst nich das jiftije Zeug hier mit rungerschleppen, nu is es Unjlück da. Un du Kamel (zu Rudolf) mußt natürlich iwerall gleich die Näse rinstecken. Wenn de nich so dumm wärst, müßtest de wissen, wie jefährlich der Geruch von de Amerikanischen Edeldisteln is. Leje dich lang, steck de Finger in de Hals, damit de kotzen kannst, so lange bis de Sanitäter kommt." Bald kam der Sanitäter. Geduldig nahm Rudolf die dargereichte Medizin. Mit bitterer, aber zufriedener Miene förderte er sein Mittagessen wieder zutage, sichtlich erleichtert, dass nun das eingeatmete Gift wieder heraus war. Noch viel solche Späße gab's im Schacht. Die Arbeit ist hart, derb ist der Witz!
In Hadmersleben wurde die KPD wieder lebendig. Lange war sie stumm gewesen. Dem Obersteiger blieb das nicht verborgen. Mein letzter Tag auf Schacht I und II rückte heran. Die letzten Stunden habe ich dazu verwendet, mit der rußenden Grubenlampe Sowjetsterne auf die Förderwagen zu malen. Weihnachten saß ich arbeitslos zu Hause bei Muttern. |
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