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Ludwig Turek - Ein Prolet erzählt (1930)
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Ratten pudern sich mit Zucker

Seltsame Gefühle beschleichen den, der lange Zeit vorher nur den Geruch von Schweinefutter in der Nase hatte und nun plötzlich diese Nase mit den raffiniertesten Düften einer Konditorei in Berührung bringt. Ich war zu einem Konditor in Arbeit gegangen. Dort hatte ich reichlich Gelegenheit, Schüsseln, Spachteln, Töpfe, Bleche, Kupferkessel, Kellen, Pfannen, Beutel, Einweckgläser usw. usw. auszulecken. Allerdings geschah es nur in der ersten Zeit, dass ich mit dem so genannten Rohmaterial meinen Gaumen kitzelte. Bald wurde ich verwöhnter und brachte nur noch Fertigfabrikate hinter die Binde. Das Cafe „Albert Sternberg" war seinerzeit eines der ersten Unternehmen in Stendal, daher kam auch nur das Beste vom Besten für die Besten der Besten auf den Tisch. Eine Schüssel mit Sahne, die den richtigen Glanz verloren oder, genauer gesagt, einen gewissen Glanz angenommen, sonst aber weiter nichts eingebüßt hatte, wurde wieder aus dem Laden heruntergereicht als nicht einwandfrei. Pasteten, die auf Bestellung verfertigt wurden, wanderten ebenfalls zurück, wenn sie dem Wunsch des Bestellers nicht ganz entsprachen. Bunte Schüsseln im raffiniertesten Stil, vom Chef wegen einer Kleinigkeit beanstandet, erlebten eine Neuauflage. 40 Eier im Kessel standen im Verdacht, dass unter sie ein Heuei geraten sei; obgleich der Verdacht nur in der Nase des ersten Gehilfen existierte, erhielt der Lehrling eine schallende Ohrfeige, und die Eier verschwanden im Ausguss. Eine Pfanne Pfannkuchen, etwa 20 Stück, um eine Nuance zu dunkel, wanderten in die Versenkung. Eis in Fruchtform garniert wollte ebenfalls nicht immer gelingen und wurde oft erneuert.
Oder, welche Arbeit und Mühe kostet es, bis dem Kunden ein einwandfreies Stück Baumkuchen vorgesetzt werden kann!? Ausgesuchtes Birkenholz muss geholt werden, Buchenholz geht zwar auch, aber es ist nicht so gut, niemals aber darf die Gesellschaft der Feinfresser Baumkuchen bekommen, der auf Feuer aus Tannenholz gebacken ist. Eine bestimmte Mischung von feinen Likören wird dem Teig beigesetzt, um ein gewünschtes Aroma zu erzielen. Ein Metallzylinder, der am Ende seinen Durchmesser verringert, wird mit Papier umwickelt und mit Teig begossen. Indem man ihn über flackerndem Feuer rotieren lässt und gleichmäßig mit Teig begießt, erzielt man die Ringe im Kuchen, die ihm den Namen Baumkuchen gegeben haben. Mit Glasur von Zucker oder Schokolade überzogen, lässt er nichts mehr von den Schweißtropfen ahnen, die unzweifelhaft an ihm kleben.
Man kann sich auch an Baumkuchen überessen. Die ausgeklügeltsten Sachen, die feinsten Kombinationen gereichen dem Schlemmer auf die Dauer nicht zur Befriedigung, und so wird immer Neues ersonnen. Auf Geld kommt es ja nicht an! Was hier zuviel gefressen wird, das wird unten zuwenig gegessen, damit ist der Ausgleich geschaffen.
Um die unverschämte Fresslust der Vollgefressenen befriedigen zu können, wurden in der Backstube 2 Gehilfen, 1 Lehrling, in der Küche 1 Köchin und 2 Mädchen beschäftigt. Und für alle, vom Chef nebst Familie bis zum Küchenmädel, gab es ein Faktotum, einen Alleskönner, Alleswisser, Sündenbock, einen gewissen „Friedrich", und den machte ich, — für 12 Mark im Monat. Diese Funktion war wirklich vielseitig, daher dauerte auch die Arbeitszeit von morgens V28 Uhr bis durchschnittlich abends 11 Uhr. Sonntags durfte ich schon um 6 Uhr abends gehen. In der Zeit vom 1. Dezember bis 31. März habe ich keinen einzigen freien Tag erlebt, jeden Sonntag musste ich arbeiten. In den Saisontagen um Weihnachten und Silvester ging die Schinderei die ganze Nacht durch bis zum nächsten Morgen.
Der erste Gehilfe war ein dünkelhafter Mensch, er hatte einen Buckel und konnte es auf den Tod nicht leiden, wenn mit den Mädeln Späße gemacht wurden, an denen er nicht beteiligt war. In solchen Fällen geriet er in große Wut und schikanierte das ganze Haus. Rührte er dagegen selber eins ein, so konnte es nicht toll genug werden. Seine Spezialität war, mit einem Besenstiel von der Backstube aus in den Abort zu stacheln, wenn er von den Küchenmädeln besetzt war. Oder er versprach mir fünfzig Pfennige, wenn ich einen extra gebackenen großen, mit Schlagsahne gefüllten Windbeutel einem Mädchen in den Busen steckte. Mäuse wurden gefangen und in der Küche in die Töpfe gesperrt. Nahm nun jemand den Topf in die Hand, so folgte ein Schrei und darauf großes Gelächter.
Konditorgehilfen sind Künstler, das ist nicht abzuleugnen. In der Plastik leisten sie allerhand. Nicht nur an Torten zeigen sie ihre Kunst: eines Tages suchten sie sich von Mann und Weib gewisse edelste Organe aus und modellierten sie naturgetreu mit Spachteln und Messern aus Hefeteig, Marzipan, Buttercreme und farbiger Glasur. Fein säuberlich auf einem Tortenteller mit Früchten umgrenzt, brachte ich auftragsgemäß erst das Stück vom zarten Geschlecht und danach das vom starken und stellte beides in der Küche mitten auf den Tisch. Die Kunstbegeisterung der Kollegen in der Küche ist einfach nicht zu schildern. Erst nach einer Stunde aufmerksamster Betrachtung entschloss man sich, die herrlichen Werke in Verbindung mit dem fälligen Kaffeetrinken zu verzehren. Worte der Teilnahme und des Bedauerns gab's dabei genug, für mich als Grünling zwar sehr interessant, jedoch noch vielfach recht unverständlich.
Solche oder ähnliche Dinge bildeten überhaupt im Verkehr der Gehilfen und des siebzehnjährigen Lehrlings mit den Mädchen den einzigen Unterhaltungsstoff. Die Leutchen wussten anscheinend nichts Besseres. Ein ewiger Widerspruch, ein immerwährendes Anspielen auf sexuelle Dinge bei jeder Redewendung, das war alles, was sie sich zu sagen hatten. Mochte es sich um einen Besen, einen Quirl, eine Flasche, ein Handtuch oder sonst etwas handeln, stets wussten sie einen anzüglichen Vers darauf zu machen. Einen besseren Beweis dafür, wie Menschen verblöden können, die keine einzige Anregung im Leben haben, als von 24 Stunden im Tag 17 in einem halbdunklen Keller und 7 in einer öden Bodenkammer zuzubringen, gibt es wohl kaum. Bei den Mädeln gab's nur eine Sehnsucht — tanzen, schwofen —, darum grölten sie auch andauernd die Gassenhauer der damaligen Zeit hintereinander herunter. Saß im Cafe ein wohlgepflegter Bürger am Klavier, öffneten unten die Tanzwütigen den Fahrstuhl, um die Musik zu hören und schwoften schnell „ein paar Züge".
Ich hatte viele Wege zu gehen und kam daher aus der Dunstbude heraus. Jeden Morgen schaffte ich einen Korb mit 200 Pfannkuchen zum Bahnhof; mit einem Handwagen flitzte ich auf dem Fußsteig durch die leere Bahnhofsstraße. Auf dem Wagen sitzend, mit einer Hand steuernd und mit dem rechten Bein abstoßend, erreichte ich eine Schnelligkeit, mit der die Pferdebahn nicht konkurrieren konnte. Das war für mich eine wahre Freude. Acht bis zehn Pfannkuchen nahm ich immer überzählig in den Korb, das Mädchen am Büfett tauschte sie aus gegen Würstchen, saure Gurken, belegte Brötchen usw.
Meine letzte Arbeit des Abends bestand im Herbeischaffen von Feuerungsmaterial für die Küche und den Backofen. Das war die scheußlichste Arbeit von allen. In einem stockfinsteren Keller, so niedrig, dass ich als kleiner Knirps nicht aufrecht stehen konnte, lagen Koks und Kohlen, von jedem wurden zwei große Fässer voll benötigt. Durch drei andere Keller ging der Weg über Stufen und Treppen, die einzige Möglichkeit des Transports war das Rollen der Fässer auf der Kante. Beleuchtung fehlte in den beiden Kellern vollständig. Oben am Cafe brannten die Birnen zum Überfluss, und genau darunter kroch ich im Finstern umher, um mir regelmäßig einige Hautabschürfungen oder eine Beule am Kopf zu holen. Seitdem mein Vorgänger durch eine offene Kerze einmal beinah ein Feuer verursacht hatte, war es streng untersagt, mit Licht die Keller zu betreten. An eine Beleuchtungsanlage dachte natürlich kein Mensch; denn kein Mensch außer mir kam in den Keller.
Es graulte mich förmlich, um 11 Uhr nachts oder manchmal gar nach Mitternacht da hinunterzusteigen. Die Ratten spritzten mit laut hörbarem Geräusch in ihre Löcher unter den Kisten und dem zahlreichen Gerümpel, das von den fetten Viechern als sicheres Versteck benutzt wurde. Aufgestellte Fallen blieben wochenlang leer, sehr selten verirrte sich ein Nager hinein. Wozu hatten sie auch nötig, verfaulte Heringsköpfe zu fressen, wenn ihnen Marzipan, Buttercreme, Vanillecreme und überhaupt alle schönen Dinge reichlich zur Verfügung standen. Die Ratten sind sehr eitel; an blankgescheuerten Kupferkesseln haben sie sehr großen Spaß, sie schmiegen sich förmlich an. In Messingkesseln, die sehr sauber geputzt werden mussten (es wurde streng auf sauberes Geschirr gesehen), spiegelten sie sich, sie setzten sich aufrecht davor und putzten mit den Pfoten minutenlang ihren Pelz. Auf die Mäuse waren sie nicht gut zu sprechen, die wurden von ihnen regelrecht unterdrückt. Auf dem Tisch, wo eine Ratte spazierte, durfte sich keine Maus blicken lassen, ohne dass sie sofort verjagt wurde. Ich habe beobachtet, wie sich eine Ratte an einem Tortenboden gütlich getan hatte und schon den Rückzug antreten wollte, als sich eine Maus näherte, um auch ihren Teil davon zu nehmen; sofort kam die Ratte schleunigst zurück, vertrieb die Maus, lief nochmals an den Tortenboden und zog dann langsam ab.
Unheimlich fette Biester gab's unter ihnen, — es schien, als hätten die anderen eine gewisse Hochachtung vor diesen besonders herausgefütterten Bonzen. Mit Vorliebe erkletterten sie einen Staubzuckersack, um sich im Staubzucker zu aalen wie die Hühner im Sand. Dick gepudert kamen sie daraus wieder hervor, das war für die anderen Ratten wahrscheinlich ein Spaß, denn einen solchen Kollegen umschwärmten sie förmlich, und aus seinem Benehmen ließ sich deutlich erkennen, wie gut ihm selbst sein weißer Pelz gefiel.
Die Ratten hatten jedoch eine Konkurrenz in der Backstube, und das waren die großen schwarzen Schwaben, alles wahre Prachtkerle ihres Geschlechts. Ihr hauptsächlichster Aufenthaltsort war der Gärschrank, in den der Hefeteig zum „Hochgehen" hineingesetzt wurde. Von hier aus zerstreuten sie sich über das ganze Haus. Öffnete man recht schnell die Tür zum Gärschrank, so sah man die ekligen Käfer in Scharen von den Blechen flüchten, um schnellstens die zahlreichen Ritzen und Löcher im Mauerwerk aufzusuchen. Mit Ratten und Mäusen umzugehen, die gleichen Gefäße wie sie zu benutzen oder mit ihnen von einem Tische zu essen, kann man sich gewöhnen, aber niemals habe ich mich mit diesem lichtscheuen Gesindel anfreunden können. Allemal schüttelte es mich, wenn ich in den Gärschrank hineingriff. Manchmal waren des Morgens noch nicht alle Pfannkuchen hochgegangen, dann musste ich aus dem Gärschrank ein Blech gegangener Pfannkuchen zureichen, dabei konnte ich es förmlich rauschen hören, in so großen Mengen huschten die Schwaben von den Blechen herunter. Ich habe diese Pfannkuchen nie länger als nötig zwischen Daumen und Zeigefinger gehalten.
Es gab für mich aber auch noch andere Gefühle bei der Firma Albert Sternberg, die über meinen Rücken krochen. Eines Abends sehr spät wühlte ich noch in der Backstube umher, da kam das jüngste Küchenmädel Frieda zu mir mit der Bitte, ob ich nicht für einige Minuten mit auf ihre Stube kommen möchte, sie wolle eine Kommode verstellen. Ich willigte ein. Die schöne Frieda war siebzehn Jahre, ich zählte erst das vierzehnte. Eine Kommode von der einen Wand an die andere zu setzen, ist an und für sich nichts Verführerisches. — „Ach, Friedrich, setzen Sie sich bitte einen Moment, — wollen Sie sich mal mein Photographiealbum ansehen?" Photographiealben sehe ich heute noch gern, sie sind eine Biographie des Besitzers. — „Setzen Sie sich doch aufs Bett, Friedrich, der Stuhl ist nämlich so wacklig." Das stimmte allerdings. „Hier mein verflossener Schwarm, der Maler aus Gardelegen, doof, nicht?" — „Ach es jeht", sagte ich tröstend. — „Das war meine Freundin, eine dufte Marke, die hat jetzt schon zwei Kinder und ist erst zwanzig." Frieda saß nun neben mir auf dem Bett. Als sie ihren Arm um meine Schultern legte, fragte ich, wohin denn die Kommode gestellt werden sollte? — „Und hier, Friedrich, hier bin ich als Haremsdame vom vorigen Jahr, — Maskenball im Odeum, gefällt Ihnen das Kostüm?" — „Ja, det jefällt mir!" — „Sieht man mir an, dass ich betrunken war?" — „Nee, det sieht man nich." Frieda nahm ihren Arm von der Schulter weg und fasste mich um die Hüften, sie beugte sich soweit über das Album vor, dass ich mit meinen Backen ihr Haar berührte. Es war das erste Mal, dass mir so etwas passierte. Ich glaube, käme ich heute unverhofft mit meinem Gesicht an eine Löwenmähne, mein Schreck könnte nicht größer sein. — „Das ist Hermann, hat er mir geschenkt, sieht doch gemein aus? Wie der Tod. Hermann kann ich nicht leiden, Friedrich, aber sagen Sie es nicht weiter, er hat mich mal geküsst, aber ich kann Ihnen sagen, Friedrich, lieber zehn von Ihnen, als von dem einen."
Ich saß wie gelähmt da, brachte kein Wort mehr hervor. Frieda legte ihren Kopf kameradschaftlich an meine Schulter, und ich war froh, dass sie in dieser Lage wenigstens mein Gesicht nicht sehen konnte. Mein Kopf musste rot sein wie eine Streichholzkuppe, ich glaubte, er müsse jeden Augenblick explodieren. — „Hermann ist doch schon siebzehn, aber Sie schmeißen ihn doch jedes Mal, Friedrich. Haben wir heute mittag gelacht, wie Sie ihn da unter die Treppe gedrückt hatten, und eine Wut hat immer der schlappe Kerl!" — Endlich fand ich die Worte wieder. — „Ha, die lange Latte pfeffere ich in die Ecke, ha, det Blaßjesichte!" — „Friedrich, wovon sehen Sie so gesund aus, Sie rauchen wohl nicht?" — Jetzt sah mich das Mädel an, und in der nächsten Sekunde sah ich noch dreimal so gesund aus wie vorher. — „Aber Sie haben heiße Backen, Friedrich!" — Ich stand auf, packte die Kommode mit einem furchtbaren Griff und stellte sie mitten in die Stube. „Hier rüber, Friedrich, so steht sie besser, ich danke schön. — Warten Sie doch, Friedrich, ich geh gleich mit raus, ich möchte gern noch ein bisschen frische Luft schnappen; wenn wir zusammen rausgehen, merkt's die Alte nicht. Ein Moment! Ich zieh mir nur schnell um, andere Hosen an.
Von da an wusste ich, dass es sehr lange dauern kann, wenn sich ein Mädel andere Hosen anzieht. Man kann in der Zeit an einer Wand, die mit einer blumenübersäten Tapete beklebt ist, sämtliche Blüten zählen, kann ein Photoalbum zehnmal durchsehen, eine alte Zeitung von vorn bis hinten durchlesen usw. usw.
Am anderen Tage kam es zu einem Zank zwischen der holden Frieda und mir; sie nannte mich einen Rotzbengel, und ich schlug ihr in Ermangelung eines passenden Ausdrucks eins mit dem Besen übers Kreuz. Die nächsten Tage schenkte sie ihre Gunst dem blassen Hermann. Der wurde immer blasser, — ja, es ist auch eine schwere Arbeit, sich nach Feierabend mit einer Kommode herumzubalgen. Der Lehrling war mit seinen siebzehn Jahren vollständig am Ende seiner Kraft. Er wurde gehetzt, geschlagen, alles Misslingen bei der Arbeit schob man ihm in die Schuhe. Freie Zeit gab es für ihn überhaupt nicht. Er schlief oftmals im Ofenloch, weil es sich nicht mehr lohnte, für die drei oder vier Stunden noch fünf Treppen hinauf zum Boden zu gehen. Kein Wunder, dass er die einzig mögliche Zerstreuung bei den Mädels suchte! Was ihn natürlich noch mehr auf den Hund brachte. Diesem Jungen hätte man ein Buch in die Hand geben können mit dem schönen Titel: Halte deine Jugend rein. — Ich garantiere, bei der zweiten Seite wäre er eingeschlafen. Jawohl, so sah der Lehrling Hermann aus. Der Frieda konnte man die Sorgen mit ihrer Kommode ebenfalls vom Gesicht ablesein, das soll nicht etwa heißen, dass ihr Aussehen einen schlechten Zug bekommen hätte, aber es war doch offensichtlich, dass ein vollständiger Mangel an sonstigen Interessen vorhanden war. So wie dieses Mädel sahen auch die meisten anderen im Haushalt tätigen aus. Es ist wohl ziemlich gleichgültig, ob die eine große Augen, die andere kleine, die dritte ein volles Gesicht und die vierte rote Haare hatte. Es ist das Gesicht, welches sich formt aus unendlicher Arbeit und mehr oder weniger ausgeprägtem Geschlechtsleben.
Der älteste Gehilfe legte sich einen Meistertitel zu. Er hatte zwei Gesichter, eins setzte er auf im Verkehr mit seinen Mitarbeitern, das andere im Verkehr mit dem Chef. Bei uns war er rechthaberisch, dem Lehrling gegenüber sogar brutal, bei dem Chef hatte er immer dessen Meinung, war höflich, liebedienerisch, machte immer Bücklinge. Diese Zwiespältigkeit hatte ihm im Laufe der Jahre seinen Gesichtsausdruck vermasselt. Könnte ich Porträts zeichnen, dann müsste sein linkes Auge einen dünnen Schlitz und eine zur Nasenspitze abfallende Linie bekommen, das rechte dagegen würde ich so konstruieren, dass es fähig wäre zum frömmsten Augenaufschlag der Welt, die Nase bekäme einen riesigen Haken, die Oberlippe müsste so dünn wie eine Messerschneide werden, die Unterlippe würde ich hängen lassen bis übers Kinn. Dann hätte ich ein Bild vom „Herrn Pleitner".
Vom Chef und seiner Familie wurde ich sehr von obenherab betrachtet. Ihr Verkehr mit mir beschränkte sich auf kurze Kommandotöne. Von derlei Autoritäten umweht, war es ein Glück, dass trotz meiner vierzehn Jahre von ihren falschen Zöpfen kein Haar an mir hängen blieb.

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