Ratten pudern sich mit Zucker
  Seltsame Gefühle beschleichen den, der lange Zeit vorher nur den  Geruch von Schweinefutter in der Nase hatte und nun plötzlich diese  Nase mit den raffiniertesten Düften einer Konditorei in Berührung  bringt. Ich war zu einem Konditor in Arbeit gegangen. Dort hatte ich  reichlich Gelegenheit, Schüsseln, Spachteln, Töpfe, Bleche,  Kupferkessel, Kellen, Pfannen, Beutel, Einweckgläser usw. usw.  auszulecken. Allerdings geschah es nur in der ersten Zeit, dass ich mit  dem so genannten Rohmaterial meinen Gaumen kitzelte. Bald wurde ich  verwöhnter und brachte nur noch Fertigfabrikate hinter die Binde. Das  Cafe „Albert Sternberg" war seinerzeit eines der ersten Unternehmen in  Stendal, daher kam auch nur das Beste vom Besten für die Besten der  Besten auf den Tisch. Eine Schüssel mit Sahne, die den richtigen Glanz  verloren oder, genauer gesagt, einen gewissen Glanz angenommen, sonst  aber weiter nichts eingebüßt hatte, wurde wieder aus dem Laden  heruntergereicht als nicht einwandfrei. Pasteten, die auf Bestellung  verfertigt wurden, wanderten ebenfalls zurück, wenn sie dem Wunsch des  Bestellers nicht ganz entsprachen. Bunte Schüsseln im raffiniertesten  Stil, vom Chef wegen einer Kleinigkeit beanstandet, erlebten eine  Neuauflage. 40 Eier im Kessel standen im Verdacht, dass unter sie ein  Heuei geraten sei; obgleich der Verdacht nur in der Nase des ersten  Gehilfen existierte, erhielt der Lehrling eine schallende Ohrfeige, und  die Eier verschwanden im Ausguss. Eine Pfanne Pfannkuchen, etwa 20  Stück, um eine Nuance zu dunkel, wanderten in die Versenkung. Eis in  Fruchtform garniert wollte ebenfalls nicht immer gelingen und wurde oft  erneuert. 
    Oder, welche Arbeit und Mühe kostet es, bis dem Kunden  ein einwandfreies Stück Baumkuchen vorgesetzt werden kann!?  Ausgesuchtes Birkenholz muss geholt werden, Buchenholz geht zwar auch,  aber es ist nicht so gut, niemals aber darf die Gesellschaft der  Feinfresser Baumkuchen bekommen, der auf Feuer aus Tannenholz gebacken  ist. Eine bestimmte Mischung von feinen Likören wird dem Teig  beigesetzt, um ein gewünschtes Aroma zu erzielen. Ein Metallzylinder,  der am Ende seinen Durchmesser verringert, wird mit Papier umwickelt  und mit Teig begossen. Indem man ihn über flackerndem Feuer rotieren  lässt und gleichmäßig mit Teig begießt, erzielt man die Ringe im  Kuchen, die ihm den Namen Baumkuchen gegeben haben. Mit Glasur von  Zucker oder Schokolade überzogen, lässt er nichts mehr von den  Schweißtropfen ahnen, die unzweifelhaft an ihm kleben. 
    Man kann sich auch an Baumkuchen überessen. Die ausgeklügeltsten  Sachen, die feinsten Kombinationen gereichen dem Schlemmer auf die  Dauer nicht zur Befriedigung, und so wird immer Neues ersonnen. Auf  Geld kommt es ja nicht an! Was hier zuviel gefressen wird, das wird  unten zuwenig gegessen, damit ist der Ausgleich geschaffen. 
    Um die unverschämte Fresslust der Vollgefressenen befriedigen zu  können, wurden in der Backstube 2 Gehilfen, 1 Lehrling, in der Küche 1  Köchin und 2 Mädchen beschäftigt. Und für alle, vom Chef nebst Familie  bis zum Küchenmädel, gab es ein Faktotum, einen Alleskönner,  Alleswisser, Sündenbock, einen gewissen „Friedrich", und den machte  ich, — für 12 Mark im Monat. Diese Funktion war wirklich vielseitig,  daher dauerte auch die Arbeitszeit von morgens V28 Uhr bis  durchschnittlich abends 11 Uhr. Sonntags durfte ich schon um 6 Uhr  abends gehen. In der Zeit vom 1. Dezember bis 31. März habe ich keinen  einzigen freien Tag erlebt, jeden Sonntag musste ich arbeiten. In den  Saisontagen um Weihnachten und Silvester ging die Schinderei die ganze  Nacht durch bis zum nächsten Morgen. 
    Der erste Gehilfe war ein dünkelhafter Mensch, er hatte einen Buckel  und konnte es auf den Tod nicht leiden, wenn mit den Mädeln Späße  gemacht wurden, an denen er nicht beteiligt war. In solchen Fällen  geriet er in große Wut und schikanierte das ganze Haus. Rührte er  dagegen selber eins ein, so konnte es nicht toll genug werden. Seine  Spezialität war, mit einem Besenstiel von der Backstube aus in den  Abort zu stacheln, wenn er von den Küchenmädeln besetzt war. Oder er  versprach mir fünfzig Pfennige, wenn ich einen extra gebackenen großen,  mit Schlagsahne gefüllten Windbeutel einem Mädchen in den Busen  steckte. Mäuse wurden gefangen und in der Küche in die Töpfe gesperrt.  Nahm nun jemand den Topf in die Hand, so folgte ein Schrei und darauf  großes Gelächter. 
    Konditorgehilfen sind Künstler, das ist nicht abzuleugnen. In der  Plastik leisten sie allerhand. Nicht nur an Torten zeigen sie ihre  Kunst: eines Tages suchten sie sich von Mann und Weib gewisse edelste  Organe aus und modellierten sie naturgetreu mit Spachteln und Messern  aus Hefeteig, Marzipan, Buttercreme und farbiger Glasur. Fein  säuberlich auf einem Tortenteller mit Früchten umgrenzt, brachte ich  auftragsgemäß erst das Stück vom zarten Geschlecht und danach das vom  starken und stellte beides in der Küche mitten auf den Tisch. Die  Kunstbegeisterung der Kollegen in der Küche ist einfach nicht zu  schildern. Erst nach einer Stunde aufmerksamster Betrachtung entschloss  man sich, die herrlichen Werke in Verbindung mit dem fälligen  Kaffeetrinken zu verzehren. Worte der Teilnahme und des Bedauerns gab's  dabei genug, für mich als Grünling zwar sehr interessant, jedoch noch  vielfach recht unverständlich. 
    Solche oder ähnliche Dinge bildeten überhaupt im Verkehr der Gehilfen  und des siebzehnjährigen Lehrlings mit den Mädchen den einzigen  Unterhaltungsstoff. Die Leutchen wussten anscheinend nichts Besseres.  Ein ewiger Widerspruch, ein immerwährendes Anspielen auf sexuelle Dinge  bei jeder Redewendung, das war alles, was sie sich zu sagen hatten.  Mochte es sich um einen Besen, einen Quirl, eine Flasche, ein Handtuch  oder sonst etwas handeln, stets wussten sie einen anzüglichen Vers  darauf zu machen. Einen besseren Beweis dafür, wie Menschen verblöden  können, die keine einzige Anregung im Leben haben, als von 24 Stunden  im Tag 17 in einem halbdunklen Keller und 7 in einer öden Bodenkammer  zuzubringen, gibt es wohl kaum. Bei den Mädeln gab's nur eine Sehnsucht  — tanzen, schwofen —, darum grölten sie auch andauernd die Gassenhauer  der damaligen Zeit hintereinander herunter. Saß im Cafe ein  wohlgepflegter Bürger am Klavier, öffneten unten die Tanzwütigen den  Fahrstuhl, um die Musik zu hören und schwoften schnell „ein paar Züge". 
    Ich hatte viele Wege zu gehen und kam daher aus der Dunstbude heraus.  Jeden Morgen schaffte ich einen Korb mit 200 Pfannkuchen zum Bahnhof;  mit einem Handwagen flitzte ich auf dem Fußsteig durch die leere  Bahnhofsstraße. Auf dem Wagen sitzend, mit einer Hand steuernd und mit  dem rechten Bein abstoßend, erreichte ich eine Schnelligkeit, mit der  die Pferdebahn nicht konkurrieren konnte. Das war für mich eine wahre  Freude. Acht bis zehn Pfannkuchen nahm ich immer überzählig in den  Korb, das Mädchen am Büfett tauschte sie aus gegen Würstchen, saure  Gurken, belegte Brötchen usw. 
    Meine letzte Arbeit des Abends bestand im Herbeischaffen von  Feuerungsmaterial für die Küche und den Backofen. Das war die  scheußlichste Arbeit von allen. In einem stockfinsteren Keller, so  niedrig, dass ich als kleiner Knirps nicht aufrecht stehen konnte,  lagen Koks und Kohlen, von jedem wurden zwei große Fässer voll  benötigt. Durch drei andere Keller ging der Weg über Stufen und  Treppen, die einzige Möglichkeit des Transports war das Rollen der  Fässer auf der Kante. Beleuchtung fehlte in den beiden Kellern  vollständig. Oben am Cafe brannten die Birnen zum Überfluss, und genau  darunter kroch ich im Finstern umher, um mir regelmäßig einige  Hautabschürfungen oder eine Beule am Kopf zu holen. Seitdem mein  Vorgänger durch eine offene Kerze einmal beinah ein Feuer verursacht  hatte, war es streng untersagt, mit Licht die Keller zu betreten. An  eine Beleuchtungsanlage dachte natürlich kein Mensch; denn kein Mensch  außer mir kam in den Keller. 
    Es graulte mich förmlich, um 11 Uhr nachts oder manchmal gar nach  Mitternacht da hinunterzusteigen. Die Ratten spritzten mit laut  hörbarem Geräusch in ihre Löcher unter den Kisten und dem zahlreichen  Gerümpel, das von den fetten Viechern als sicheres Versteck benutzt  wurde. Aufgestellte Fallen blieben wochenlang leer, sehr selten  verirrte sich ein Nager hinein. Wozu hatten sie auch nötig, verfaulte  Heringsköpfe zu fressen, wenn ihnen Marzipan, Buttercreme, Vanillecreme  und überhaupt alle schönen Dinge reichlich zur Verfügung standen. Die  Ratten sind sehr eitel; an blankgescheuerten Kupferkesseln haben sie  sehr großen Spaß, sie schmiegen sich förmlich an. In Messingkesseln,  die sehr sauber geputzt werden mussten (es wurde streng auf sauberes  Geschirr gesehen), spiegelten sie sich, sie setzten sich aufrecht davor  und putzten mit den Pfoten minutenlang ihren Pelz. Auf die Mäuse waren  sie nicht gut zu sprechen, die wurden von ihnen regelrecht unterdrückt.  Auf dem Tisch, wo eine Ratte spazierte, durfte sich keine Maus blicken  lassen, ohne dass sie sofort verjagt wurde. Ich habe beobachtet, wie  sich eine Ratte an einem Tortenboden gütlich getan hatte und schon den  Rückzug antreten wollte, als sich eine Maus näherte, um auch ihren Teil  davon zu nehmen; sofort kam die Ratte schleunigst zurück, vertrieb die  Maus, lief nochmals an den Tortenboden und zog dann langsam ab. 
    Unheimlich fette Biester gab's unter ihnen, — es schien, als hätten die  anderen eine gewisse Hochachtung vor diesen besonders herausgefütterten  Bonzen. Mit Vorliebe erkletterten sie einen Staubzuckersack, um sich im  Staubzucker zu aalen wie die Hühner im Sand. Dick gepudert kamen sie  daraus wieder hervor, das war für die anderen Ratten wahrscheinlich ein  Spaß, denn einen solchen Kollegen umschwärmten sie förmlich, und aus  seinem Benehmen ließ sich deutlich erkennen, wie gut ihm selbst sein  weißer Pelz gefiel. 
    Die Ratten hatten jedoch eine Konkurrenz in der Backstube, und das  waren die großen schwarzen Schwaben, alles wahre Prachtkerle ihres  Geschlechts. Ihr hauptsächlichster Aufenthaltsort war der Gärschrank,  in den der Hefeteig zum „Hochgehen" hineingesetzt wurde. Von hier aus  zerstreuten sie sich über das ganze Haus. Öffnete man recht schnell die  Tür zum Gärschrank, so sah man die ekligen Käfer in Scharen von den  Blechen flüchten, um schnellstens die zahlreichen Ritzen und Löcher im  Mauerwerk aufzusuchen. Mit Ratten und Mäusen umzugehen, die gleichen  Gefäße wie sie zu benutzen oder mit ihnen von einem Tische zu essen,  kann man sich gewöhnen, aber niemals habe ich mich mit diesem  lichtscheuen Gesindel anfreunden können. Allemal schüttelte es mich,  wenn ich in den Gärschrank hineingriff. Manchmal waren des Morgens noch  nicht alle Pfannkuchen hochgegangen, dann musste ich aus dem Gärschrank  ein Blech gegangener Pfannkuchen zureichen, dabei konnte ich es  förmlich rauschen hören, in so großen Mengen huschten die Schwaben von  den Blechen herunter. Ich habe diese Pfannkuchen nie länger als nötig  zwischen Daumen und Zeigefinger gehalten. 
    Es gab für mich aber auch noch andere Gefühle bei der Firma Albert  Sternberg, die über meinen Rücken krochen. Eines Abends sehr spät  wühlte ich noch in der Backstube umher, da kam das jüngste Küchenmädel  Frieda zu mir mit der Bitte, ob ich nicht für einige Minuten mit auf  ihre Stube kommen möchte, sie wolle eine Kommode verstellen. Ich  willigte ein. Die schöne Frieda war siebzehn Jahre, ich zählte erst das  vierzehnte. Eine Kommode von der einen Wand an die andere zu setzen,  ist an und für sich nichts Verführerisches. — „Ach, Friedrich, setzen  Sie sich bitte einen Moment, — wollen Sie sich mal mein  Photographiealbum ansehen?" Photographiealben sehe ich heute noch gern,  sie sind eine Biographie des Besitzers. — „Setzen Sie sich doch aufs  Bett, Friedrich, der Stuhl ist nämlich so wacklig." Das stimmte  allerdings. „Hier mein verflossener Schwarm, der Maler aus Gardelegen,  doof, nicht?" — „Ach es jeht", sagte ich tröstend. — „Das war meine  Freundin, eine dufte Marke, die hat jetzt schon zwei Kinder und ist  erst zwanzig." Frieda saß nun neben mir auf dem Bett. Als sie ihren Arm  um meine Schultern legte, fragte ich, wohin denn die Kommode gestellt  werden sollte? — „Und hier, Friedrich, hier bin ich als Haremsdame vom  vorigen Jahr, — Maskenball im Odeum, gefällt Ihnen das Kostüm?" — „Ja,  det jefällt mir!" — „Sieht man mir an, dass ich betrunken war?" — „Nee,  det sieht man nich." Frieda nahm ihren Arm von der Schulter weg und  fasste mich um die Hüften, sie beugte sich soweit über das Album vor,  dass ich mit meinen Backen ihr Haar berührte. Es war das erste Mal,  dass mir so etwas passierte. Ich glaube, käme ich heute unverhofft mit  meinem Gesicht an eine Löwenmähne, mein Schreck könnte nicht größer  sein. — „Das ist Hermann, hat er mir geschenkt, sieht doch gemein aus?  Wie der Tod. Hermann kann ich nicht leiden, Friedrich, aber sagen Sie  es nicht weiter, er hat mich mal geküsst, aber ich kann Ihnen sagen,  Friedrich, lieber zehn von Ihnen, als von dem einen." 
    Ich saß wie gelähmt da, brachte kein Wort mehr hervor. Frieda legte  ihren Kopf kameradschaftlich an meine Schulter, und ich war froh, dass  sie in dieser Lage wenigstens mein Gesicht nicht sehen konnte. Mein  Kopf musste rot sein wie eine Streichholzkuppe, ich glaubte, er müsse  jeden Augenblick explodieren. — „Hermann ist doch schon siebzehn, aber  Sie schmeißen ihn doch jedes Mal, Friedrich. Haben wir heute mittag  gelacht, wie Sie ihn da unter die Treppe gedrückt hatten, und eine Wut  hat immer der schlappe Kerl!" — Endlich fand ich die Worte wieder. —  „Ha, die lange Latte pfeffere ich in die Ecke, ha, det Blaßjesichte!" —  „Friedrich, wovon sehen Sie so gesund aus, Sie rauchen wohl nicht?" —  Jetzt sah mich das Mädel an, und in der nächsten Sekunde sah ich noch  dreimal so gesund aus wie vorher. — „Aber Sie haben heiße Backen,  Friedrich!" — Ich stand auf, packte die Kommode mit einem furchtbaren  Griff und stellte sie mitten in die Stube. „Hier rüber, Friedrich, so  steht sie besser, ich danke schön. — Warten Sie doch, Friedrich, ich  geh gleich mit raus, ich möchte gern noch ein bisschen frische Luft  schnappen; wenn wir zusammen rausgehen, merkt's die Alte nicht. Ein  Moment! Ich zieh mir nur schnell um, andere Hosen an. 
    Von da an wusste ich, dass es sehr lange dauern kann, wenn sich ein  Mädel andere Hosen anzieht. Man kann in der Zeit an einer Wand, die mit  einer blumenübersäten Tapete beklebt ist, sämtliche Blüten zählen, kann  ein Photoalbum zehnmal durchsehen, eine alte Zeitung von vorn bis  hinten durchlesen usw. usw. 
    Am anderen Tage kam es zu einem Zank zwischen der holden Frieda und  mir; sie nannte mich einen Rotzbengel, und ich schlug ihr in  Ermangelung eines passenden Ausdrucks eins mit dem Besen übers Kreuz.  Die nächsten Tage schenkte sie ihre Gunst dem blassen Hermann. Der  wurde immer blasser, — ja, es ist auch eine schwere Arbeit, sich nach  Feierabend mit einer Kommode herumzubalgen. Der Lehrling war mit seinen  siebzehn Jahren vollständig am Ende seiner Kraft. Er wurde gehetzt,  geschlagen, alles Misslingen bei der Arbeit schob man ihm in die  Schuhe. Freie Zeit gab es für ihn überhaupt nicht. Er schlief oftmals  im Ofenloch, weil es sich nicht mehr lohnte, für die drei oder vier  Stunden noch fünf Treppen hinauf zum Boden zu gehen. Kein Wunder, dass  er die einzig mögliche Zerstreuung bei den Mädels suchte! Was ihn  natürlich noch mehr auf den Hund brachte. Diesem Jungen hätte man ein  Buch in die Hand geben können mit dem schönen Titel: Halte deine Jugend  rein. — Ich garantiere, bei der zweiten Seite wäre er eingeschlafen.  Jawohl, so sah der Lehrling Hermann aus. Der Frieda konnte man die  Sorgen mit ihrer Kommode ebenfalls vom Gesicht ablesein, das soll nicht  etwa heißen, dass ihr Aussehen einen schlechten Zug bekommen hätte,  aber es war doch offensichtlich, dass ein vollständiger Mangel an  sonstigen Interessen vorhanden war. So wie dieses Mädel sahen auch die  meisten anderen im Haushalt tätigen aus. Es ist wohl ziemlich  gleichgültig, ob die eine große Augen, die andere kleine, die dritte  ein volles Gesicht und die vierte rote Haare hatte. Es ist das Gesicht,  welches sich formt aus unendlicher Arbeit und mehr oder weniger  ausgeprägtem Geschlechtsleben. 
    Der älteste Gehilfe legte sich einen Meistertitel zu. Er hatte zwei  Gesichter, eins setzte er auf im Verkehr mit seinen Mitarbeitern, das  andere im Verkehr mit dem Chef. Bei uns war er rechthaberisch, dem  Lehrling gegenüber sogar brutal, bei dem Chef hatte er immer dessen  Meinung, war höflich, liebedienerisch, machte immer Bücklinge. Diese  Zwiespältigkeit hatte ihm im Laufe der Jahre seinen Gesichtsausdruck  vermasselt. Könnte ich Porträts zeichnen, dann müsste sein linkes Auge  einen dünnen Schlitz und eine zur Nasenspitze abfallende Linie  bekommen, das rechte dagegen würde ich so konstruieren, dass es fähig  wäre zum frömmsten Augenaufschlag der Welt, die Nase bekäme einen  riesigen Haken, die Oberlippe müsste so dünn wie eine Messerschneide  werden, die Unterlippe würde ich hängen lassen bis übers Kinn. Dann  hätte ich ein Bild vom „Herrn Pleitner". 
    Vom Chef und seiner Familie wurde ich sehr von obenherab betrachtet.  Ihr Verkehr mit mir beschränkte sich auf kurze Kommandotöne. Von derlei  Autoritäten umweht, war es ein Glück, dass trotz meiner vierzehn Jahre  von ihren falschen Zöpfen kein Haar an mir hängen blieb.  | 
  
    
    Hinweis:      Für die Korrektheit der Angaben in diesen Versionen und die Identität              der Texte mit dem angegebenen Original wird keine Verantwortung übernommen.              Eine Vervielfältigung der Dokumente zum Zwecke des Vertriebs ist              nicht gestattet. 
     
    |   |