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Ludwig Turek - Ein Prolet erzählt (1930)
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Sieben Monate schuften für 60 Mark und 10 Zentner Kartoffeln

In Stendal ging mein Traum, als Seemann die Erde zu umsegeln, in die Brüche. Aus der Schule entlassen, begann meine Laufbahn als Hütejunge (so hieß es wenigstens) bei dem elendesten Kaffer, den die Altmark aufweisen konnte. Das war eine erbärmliche Gesellschaft, so ausgekocht in der Behandlung ihrer Arbeiter, dass mich noch jetzt die Wut packt, wenn ich daran denke.
Am dritten Ostertag in aller Frühe, bei einem richtigen Hundewetter, sockten mein Großvater und meine Mutter mit mir los. Der Sturm fegte uns den Regen ins Gesicht. Bis Jarchau waren es zwei Stunden Weg. Schon nach einer halben Stunde trieften wir wie aus dem Wasser gezogen. Unheimlich heulte es in den Telegraphendrähten, die Chausseebäume bogen sich. Ein Hagelschauer ohrfeigte uns. Auf einem Handwagen zogen wir meinen Koffer mühsam hinter uns her. Das war also mein erster Schritt ins offizielle Erwerbsleben. Ach! beulte doch der Sturm in der Takelage eines Schiffes, anstatt in den langweiligen Drähten.
„ Wo wohnt denn hier Friedrich Möhring?" fragte meine Mutter im Dorfe einen langen Knecht, der unter einem Scheunentor eine Pfeife rauchte. „Der Junge soll woll anziehen da? Na, jute Nacht Marie, in't Fenster liejt't Jeld!" — „Is woll nischt los da?" fragte meine Mutter, nahm ihr Kopftuch ab und drehte einen dicken Strich Wasser heraus. — „Ach du lieber Jott, da is noch keener länger wie 14 Dage jewesen!" lachte der Lange und spuckte links an mir vorbei. — „Nanu, ick denk, se waren alle jahrelang da!" Diesmal spuckte er rechts an mir vorbei. Jawoll, die von de Fürsorje waren jahrelang da, aber frache nich, wie ofte se wechjeloffen sind. Und wenn se fressen, fressen se alleene, der Olle is dick wie'n Amtmann, aba nich von Lappenkohl und von Mehlstippe." Das war der Schluss seiner Rede, und er spuckte über mich hinweg, zeigte mit der Pfeife schräg gegenüber. „Da drüben wohnt die Bagasche" und ließ uns stehen. Ich sagte schrullig: „Wenn det so is, jeh ick nich hin." — „Ach wat." Mein Großvater zog den Handwagen alleine weiter. Im Gänsemarsch langten wir bei Möhring an.
„ Aach, is de man noch kleen", meckerte die Alte. Mein Großvater riss mich raus: „Kleen, aber oho." — „Ach jo, süss is et jo'n janz nett'n Jung'n. Wenner ok willich un' fromm is, mecht't jo joahn." Dann gab es Kaffee und Kuchen. „Immer ät'n Se man, wenner alle is, jiwt mehr. Schmeckt denn de Kaffi? Bi uns jiwt blos Gerst', richtigen kann unse Vata nich' vadragen."
Mein Großvater fragte ebenfalls auf platt: „Wieveel Lü' hem Se denn, Frau Möhring?"
„ Awiel is unse Albert da, dat is min Söen und denn noch Otto, unse Jroßknecht, int Ollendeel wohnt noch 'ne Dachlöhnerfamilje und uns'e Else, wat min Dochter is, helpt ok düchtig mit." „Und wieveel Morjen hem Se denn?" „N'bäten öeber hunnert mit Holt un' Wisch." — „So, so! — Un wieveel Pär?" — „Hans, Lotte, Marsch un Max." — „Un Köh?" — „Acht, un Jungveeh."
Nun wurde die Alte neugierig, sie fragte reichlich und gründlich. Danach verließ sie uns.
„ Ach is das'n Soff; der Kuchen is jut. — Also Junge", belehrte mich mein Großvater, „bei'n Bauern musste fressen, essen, immer essen, nich umkucken an'n Disch, immer rin." Meine Mutter ergänzte: „Wenn der Jroßknecht von'n Disch jeht, musste, jleich mit uffstehn — und immer dreiste zufassen, nich so dumm sind; wenn de irjentwo nich ran kannst, sachste: „Ach jeben Se mich doch mal de Wurscht rüber. Zum Kühhüten wirste woll hier nich viel kommen, denn bei hundert Morjen? — so'n ejener Sohn und so'ne Dochter, die woll'n doch jewöhnlich immer nich viel dun. Na, Junge, versuch mal dein Jlück und-------."
Die Alte kam zurück, hinterher humpelte an einem Krückstock ein kugelrunder, gestiefelter Bauer. „So ein verdammtes Sauwetter, da hätt'n Se doch och morjen komm'n könn'n, so jenau jehts bei uns nich'. Die 20 Daler verdient der Kleene bis Martini immer noch." Nachdem ich mich im Zeil (Pferdestall) häuslich niedergelassen hatte, wurde zu Mittag gegessen. Das erste und zugleich letzte anständige Essen, das mir bei diesem Mistbauer vorgesetzt wurde. „Adschö Junge, sei schön artig und mach' keene Dummheiten."
Nun saß ich da, allein im Pferdestall auf meinem Koffer. Ein Pferd schwenkte unaufhörlich mit dem Kopf von der einen Seite auf die andere, dabei zog es die Halfterkette über den steinernen Krippenrand; diesem Rasseln hörte ich fast eine Stunde zu. Ich kam zuletzt zu der Überzeugung, dass dieses Pferd verrückt sein müsse. Bisher waren mir Pferde ziemlich gleichgültig gewesen. Ein anderes, ein Brauner, stand auf drei Beinen; auch der Gaul kam mir nicht geheuer vor, er bewegte unablässig die Unterlippe, als flüstere er etwas vor sich hin. Kein Mensch kümmerte sich um mich.
Am Abend kam der Großknecht ins Zeil, nahm einen Pferdeeimer, holte Wasser, wusch sich, langte einen alten Kamm aus einer Büchse, kämmte sich mit ausgesuchter Sorgfalt und verbrachte mit dem Ausdrücken von Mitessern eine halbe Stunde. Wie ich später erfahren konnte, füllte er damit die Zeit zwischen Arbeitsschluss und Abendessen aus. Nicht eines Blickes würdigte er mich. Eine kreischende Stimme ließ sich vernehmen: „Otto und der neue Kuhjunge, essen kommen!" Otto spritzte los, ich folgte langsamer nach. Als ich meinen Platz auf einer Bank einnahm und nun getreu den Anweisungen meiner Mutter rasch zulangte, musste ich die erste Spitze einstecken. „Nu kiek't doch blos den kleen Kiekindiewelt, wie de all tolangt, as ha he den janzen Dach plöht!"
Der Großknecht schien überhaupt nicht zu kauen. An dem Kauen gemessen, aß er sehr langsam, scheinbar ohne jeden Appetit, gleichgültig. Er schlang alles hinunter, der Kehlkopf arbeitete angestrengter als die Kinnbacken. Die Brotschnitten verschwanden vom Teller, als wären es Schokoladenplätzchen. Auf einem anderen Teller hatten ursprünglich vielleicht 6—8 Stückchen Sülze und 3 Stückchen Speck gelegen. Kaum dass diese Tatsache mir zum Bewusstsein kam, hatte sich schon alles verändert. Alles schien zu fließen, unsichtbar, aber bestimmt. Die Sülze schmeckte mir gut; schmecken und essen ist aber nicht dasselbe. Auch den Speck hätte ich zu gern einmal geschmeckt, leider war er schon verflossen. Am Ofen auf einer Bank saß die Alte mit einem Strickstrumpf und überwachte uns. Kaum dass die letzte Schnitte Brot den Teller verlassen hatte, stand sie auf und verschwand und tauchte mit einem Teller mit Kuchenstreifen wieder auf. Eine Riesenkanne mit Kaffee, zwei Tassen gesellten sich dazu. Die letzte Brotschnitte erwischte ich, es war die zweite gewesen. Nun würgte ich verzweifelt an der trockenen Schnitte. Die Kuchenstreifen wanderten inzwischen einer nach dem anderen ohne Abstand, als handelte es sich um Fließbandarbeit, in den Rachen meines Kollegen. Als ich die Schnitte verzehrt hatte, stand der Kuchenteller leer da. Kuchen hab ich dann vor Pfingsten nicht mehr gesehen; jedenfalls nicht für mich greifbar. In dem Regal auf dem verschlossenen Kellerboden lagen noch 3 Wochen nach Ostern mehrere große Bleche mit Kuchen.
Das Essen an den Werktagen war skandalös,. Die einzige Nahrung waren Kartoffeln. Es hieß Bohnen, aber es waren Kartoffeln, es hieß Erbsen und schmeckte doch nur nach Kartoffeln, es hieß Linsen, aber nix wie Kartoffeln, nix wie Kartoffeln. Und des Abends gab's wieder Kartoffeln, Pellkartoffeln und Mehlstippe. — außer sonntags. Von Mitte April bis Mitte November jeden Abend Pellkartoffeln und Mehlstippe. Stipp nich to deep, Krischan, et is rein Fett", soll irgendeine alte geizige Bäuerin mal zu ihrem Großknecht gesagt haben. Diesen Ausspruch ersparte sich unsere Alte: in ihrer Stippe gab es keine Spur von Fett. Pellkartoffeln und Mehlkleister. Roggenmehlkleister, ganz vorzüglicher Mehlkleister, das gab's jeden Tag zu fressen. Die 15 oder 20 Schweine haben reichhaltiger und wahrhaftig nahrhafter gespeist. Da gab es neben den Kartoffeln noch Saatkuchen. Magermilch und gestampftes Grünzeug, Roggenschrot und Kleie. Ich muss noch erzählen, dass der Hofhund es überhaupt ablehnte, den Mittagstisch mit uns zu teilen. Bekam er nicht etliche Speckschwarten oder Wurstschalen, Knochen und dergleichen als Beigabe, kroch er in die Hütte und kam nicht mehr hervor.
Doppelt knickerig zeigte sich die Gesellschaft, indem sie für ein Minimum an Essen ein Maximum an Arbeit Verlangte. Mit dem Versprechen, nur als Hütejunge beschäftigt zu werden, wurde ich von diesen Kanaken gekapert, doch habe ich während der ganzen langen Zeit keine 8 Tage gehütet. Wenn die Saatzeit noch als erträglich anzusprechen war, so begann mit der Ernte für mich eine Zeit der Ausbeutung bis zum Verrecken. In der Heuernte dauerte die Arbeitszeit von 1/2 4 Uhr morgens bis 9 Uhr abends. Pausen: 10 Minuten Kaffeetrinken, 10 Minuten Frühstück, 15 Minuten Mittag, am Nachmittag wieder 10 Minuten. Und am Abend, nach dem kurzen Abendessen, standen noch 2—3 Fuhren Heu zum Abbringen bereit. War diese Arbeit auch die letzte, allerletzte, überhaupt mögliche Leistung, nach der man einfach wie ein ausgeblutetes Schwein umfiel, so war sie immerhin noch eine Kleinigkeit gegen dieselbe Arbeit, zur Mittagszeit verrichtet.
Zum Abladen eines Heufuders gehören in einer mittleren Scheune 3 Mann: die Arbeitsteilung dieser 3 Mann birgt in sich einen, leider unvermeidlichen, Fehler. Der Stärkste hat den leichtesten Posten. Aber der Schwächste kann diese Arbeit eben nicht verrichten. Der Stärkste muss vom Fuder abstecken; das ist deshalb leicht, weil er seiner Kraft gemäß das Tempo bestimmen kann und, was von allergrößter Wichtigkeit ist, Luft um sich herum hat. Bei distelhaltigem Heu kommt noch als Vorzug hinzu, dass er die Hände nicht ins Heu zu stecken braucht, sondern nur mit einer Gabel arbeitet. Der zweite Mann steht auf dem Balken und nimmt, ebenfalls mit einer Gabel, das Heu vom ersten Mann ab. Der unglückliche dritte Mann hat selbst von der wenigen Luft des zweiten nichts mehr. Er steckt sozusagen bis über die Ohren im Heu. Er muss alles, was sich ihm in heißen Haufen entgegenwälzt, verstopfen, verpacken, verschieben, verteilen, niedertreten, hochpacken: dabei hat er keinen Boden unter den Füßen, er schwankt einher fast blind vor Staub und Mangel an Licht. Tausend Distelstacheln stechen wie Nadeln auf ihn ein, in den Fingern, an den Armen zwickt's, sticht's, am schweißgebadeten Körper klebt's. Glühend scheint die Luft, nein, der Staub zu sein.
Wer schon weiß, dass Schiefer in der Junisonne so heiß wird, dass man sich bei der Berührung Verbrennungen zuziehen kann, der mag sich mal ausrechnen, welche Temperatur zustande kommt, wenn das Heu fast bis an den Dachfirst reicht und 20 cbm Luft von über 20 qm Heizfläche geheizt werden, an der jeder Punkt so heiß ist. dass er nicht ohne Schmerzempfindung berührt werden kann. Das gibt eine feine Formel für Sozialhygieniker, zumal wenn sie in irgendeinem Ausschuss für Jugendpflege sitzen.
Halb bewusstlos torkelte man da oben herum. Eine Folter sondergleichen. Verflucht sei der Kaffer heute noch. Sich selbst stopfte er den Wanst mit Würsten voll, stellte sich unten mit einer Flasche Bier in der Hand hin und brüllte hinauf: „Du fulet Oas, wist do glieks moaken, dat det hier 'n bäten sneller geit, pass upp, do Strick, wenn ick rupp koom un stäk di mit de Fork in'n Oarsch."
Für 60 Mark und 10 Zentner Kartoffeln Lohn 7 Monate Arbeit! Ich war unterernährt bei 15—20 Schweinen, 8 Milchkühen, Gänsen, Enten und zahlreichen Hühnern! Alle Vorratsbehälter waren fest verschlossen, wahrscheinlich, weil sich diese Bagage selbst nicht vorstellen konnte, wie man bei dieser elenden Kost solche Arbeit leisten konnte. Das verdammte Scheusal von Weib übertraf ihren Alten noch. Sie schüttelte sich selbst vor den Maden auf dem stinkenden Pökelfleisch, das ich sonntags bekam. Aber als ich einmal, von Ekel gepackt, den Löffel in die Ecke pfefferte und wütend brüllte: „Warum fressen Sie denn das Pökelfleisch nicht? Weil Sie wissen, dass Würmer drin sind!" würzte sie mir das Fressen 8 Tage lang mit ihren stichlichen Reden! Der sorgfältig gekämmte Großknecht war zu keinem Protest zu bewegen. Für ihn schien das Problem gelöst; was an Qualität fehlte, ersetzte er durch Quantität und fraß sich abends den Bauch dermaßen voll an Kartoffeln, dass nichts mehr hineinging. Als Fürsorgezögling konnte er mit seinem durch falsche Erziehung vergipsten Gehirn nicht begreifen, warum diese hundsgemeine Behandlung menschenunwürdig war. Bis vor etlichen Jahren setzte es bei den geringfügigsten Vergehen Prügel, nun mochte es ihm ein Fortschritt erscheinen, nicht mehr geprügelt zu werden. Er wurde genau so mit ,Oarschlok' betitelt wie ich und war doch 5 Jahre älter.
Eine Gemeinheit ersten Ranges leistete sich die Alte dadurch, dass sie es nicht für erforderlich hielt, bei meinem Zuzug ein zweites Bett herzurichten. Schmal und dünn, wie das Oberbett war, reichte es nur für den, der es sich gewaltsam aneignete. Dies geschah nun während der ganzen Nacht abwechselnd: wer gerade fest schlief, wurde von dem anderen bemaust, außer an heißen Tagen, da war es umgekehrt. Dieser Wechsel vollzog sich niemals ohne den unvermeidlichen Rippenstoß. Selbstverständlich wurde die Nachtruhe erheblich dadurch gestört. Die Arbeit am anderen Tage war dann doppelt schwer.
Bei dieser Drangsalierung war jede Zerstreuung ausgeschlossen. Otto konnte nicht zweimal in der Woche abends fortgehen, ohne am anderen Tage vom Alten Schimpfereien einstecken zu müssen. Wie viel Lohn er bekam, kann ich nicht mehr genau sagen, doch weiß ich, dass er 100 Taler jährlich nicht erreichte. Für mich gab's überhaupt keinen Vorschuss, in den langen Monaten habe ich nicht einen Pfennig in die Finger bekommen. Wollte aber mein Mitarbeiter Vorschuss, anlässlich einer Festlichkeit oder zum Zigarettenkauf, hatte er das Vergnügen, den Chef untertänigst darum bitten zu dürfen. Je nach dessen höchsteigener Erwägung wurde die Summe auf die Hälfte, ein Drittel oder gar ein Viertel reduziert, nicht selten gab es gar nichts. Dann zog sich mein Otto still in den Pferdestall zurück, nahm seinen Kamm aus der Büchse, kämmte sich sorgfältig und ging ins Bett. Der Alte dagegen lebte einen feinen Tag. Jeden zweiten Abend holte ich vom Schuster 12 Flaschen Bier, an besonders heißen Tagen auch 20. Den Kognak kaufte er sich selbst, wenn er in die Stadt fuhr. Die Tochter, ein hochnäsiges dummes Ding, gab sich alle Mühe, ihrer Mutter in nichts nachzustehen. Der Sohn Albert machte in vielen Dingen eine rühmliche Ausnahme. Wahrscheinlich, weil er auf seinen Vater schlecht zu sprechen war; der Alte ließ ihm keine Handlungsfreiheit. Jede, Arbeit, die er selbständig verrichtete, missfiel dem Alten. Er schimpfte tagelang über die geringsten Verfehlungen, aber auch über tadellos ausgeführte Arbeiten spektakelte er, wenn sie nicht auf seinen Vorschlag ausgeführt wurden.
Ein Ereignis wurde die Getreideernte: dicke Flaschen mit Kaffee, ein Korb mit Brot, Sülze, Speck, Eiern und richtigem Schinken. Schinken, Schinken!
Schinken is en feinet Essen, ick habe zwar noch keen jejessen, aber meines Freundes Bruder Freund, der hat mal neben en jesessen, der hat en sehn Schinken essen.
Warum plötzlich diese Wandlung in der Speisenfolge? Nun muss allerdings gesagt werden, dass es allgemein Sitte ist, bei der übermäßig schweren Erntearbeit einen guten Happen aufzutischen. Ferner machte sich zur Saison die Einstellung von Schnittern und Schnitterinnen notwendig. Nach außen Eindruck schinden, ist meistens die Manier derjenigen, die kein reines Gewissen haben. So auch hier. Übrigens würde sich eine schlechte Kost am besten dazu eignen, die Leute in den nächsten Jahren fernzuhalten. In der Getreideernte sind die Arbeiter den Bauern und Gutsbesitzern noch etwas wert, während sie sonst nur als lästige Mitesser betrachtet werden.
Ü berall in weiter Runde tönt das klingende Söngsöng, Söngsöng des Sensenstreichens. Eine Sense, die zu stumpf ist, kann dem Arbeiter genau so zur Last fallen wie eine, die immer scharf bliebe. Gleichzeitig wie die Sense stumpf, wird der Arbeiter schlapp, dann richtet er sich auf, streicht mit der Hand den Schweiß von der Stirn, hebt den Kopf, um den Wind aufzufangen, nimmt aus dem Stiefel oder dem Futteral an der Sense den Streicher und zieht im rhythmischen Takt erst kurz über die Spitze, dann lang bis an den Bart, und wieder taucht er unter, hinein in die heißen Halme. Die Beine weit gespreizt, in halb gebückter Haltung, zieht er mit jedem Hieb 25 cm ab von dem endlosen, kilometerlangen Weg. „In Schweiß gebadet" oder „schweißüberströmt" sind viel zu abgeleierte Begriffe, um damit noch sagen zu können, wie bei solcher Arbeit in der sommerlichen Hitze geschwitzt wird. Am Ende eines Schwart (d. h. jedes Mal, wenn ein Acker endet) steht ein großer Krug. Trinken muss man, sonst trocknet einem die Zunge am Gaumen fest.
Die Binder kleben am Sensenmann, raffen mit Forke oder Harke die Halme zusammen und drehen und knebeln die Gaben zurecht.
Warum überall solche Hast, so große Eile? Was ist denn los? Wird denn die Arbeit so teuer bezahlt oder gibt es hier ein Vermögen zu erwerben? Nein, nein, hier, so weit du sehen kannst und auch noch dort hinter dem flimmernden Horizont, hat sich der Mensch an etwas einen Rausch geholt. Die Fülle der Natur, die reifen Früchte stehen bereit, sich dem Menschen zu opfern, er nimmt sie hastig; glühenden Auges springt er von Garbe zu Garbe. Au« Urväterzeit steigt es in ihm auf, ein wilder heiliger Tanz. An der Fülle berauscht zu sein über die Ernte hinaus ist nur wenigen vergönnt. Die viele Liter Schweiß verloren, werden nur wenige Körner gewinnen, die aber wenige Tropfen Schweiß verloren, werden viele Liter Körner gewinnen.
Aber für dieses Unrecht war kaum irgendwo ein Verständnis zu finden. Wie ein Alpdruck lagerte der Unverstand auf dem Landarbeiter. Alle möglichen kleinlichen Streitigkeiten bei der Arbeit focht er tapfer durch, jedoch wüsste ich niemals von einer wirklichen Auseinandersetzung mit den Besitzern des Grund und Bodens zu berichten. Bei den so genannten Sachsengängern, den Polen, ließen sich Spuren von Klassenbewusstsein feststellen. Wurden sie einmal ganz besonders augenfällig bemogelt, so schlossen sie sich zusammen, stellten Forderungen an die Gutsverwaltung und nahmen die Arbeit nicht auf, bevor nicht die Forderungen erfüllt wurden. Überhaupt zeigte sich bei den Polen eine gewisse Erkenntnis, dass nur durch Zusammenschluss und Einigkeit bei den gewissenlosen Junkern etwas auszurichten sei. Bei den deutschen Landarbeitern war diese Weisheit in der Vorkriegszeit ein sehr seltener Artikel.
Die Landagitation 1912 zur Reichstagswahl war ein geradezu halsbrecherisches Unternehmen in der schwarzen Altmark. Das Freibier des Gutsherrn war wichtiger als die ganze Wahl. Elemente, die sich dazu hergaben, den Klassengenossen aus der Stadt mit Knüppeln zu verjagen, gab's gar nicht selten.
Mein Kollege, der Großknecht Otto, hatte eines Tages wieder einmal das Vertrauen des Alten vollständig verloren. Das Amt des Pferdefütterns war ihm entzogen worden, er wurde also degradiert und musste künftig die Kühe besorgen. Die Pferde besorgte nun ich, der ich vorher nur zu den Kühen gehört hatte. Für einen Menschen, der im Range eines Großknechtes steht, ist das eine unerhörte Beleidigung und wurde auch als solche von Otto gebührend empfunden. Er sann auf Rache. Ich beobachtete mit Spannung das Heranreifen seiner Pläne. Nach etlichen Tagen des vollkommensten Schweigens legte er los. Mit einem Schippenstiel schlug er auf die Tiere ein, als wolle er sie zusammenhauen. Als er bereits drei Schippenstiele aus Weidenholz zerschlagen hatte und nun seine Prügelpädagogik mit einem Axtstiel aus Esche fortsetzte, zeigten sich die ersten Erfolge.
„ Ick weet nich", meinte die Alte, „wat jetzt mit de Köh is, hüt morjen hät mi de Olsch een halben Emmer Melk in Dreck trampelt. Und de Olsch stunn doch süss immer so still. Dat is wie dull, dat stowt ut'n een wenn'n in Stall rin kümmt, as stäk de Dübel mit'emank. Ick glöw, Otto, du sleist mi dat Veeh awiel. Dat will ick di glieks säg'n: koam ick moal doa to, denn sast du bloß sehn, wat di passiert; ich hoal'n Schanndarm und lot di von de Stell' wech afführ'n, du häst de Köh genau so to behanneln as de Pär, wenn dien Herr dat volangt." Mit der verdächtigsten Grimasse der Welt quittierte Otto die Drohung und sagte kaum hörbar: „Ick häw de Köh nix doan." Um so wütender wamste er auf die Kühe ein, verschonte selbst das Jungvieh nicht. Mittlerweile gerieten die Tiere außer Rand und Band.
Ich hatte bei den Pferden etwas Ähnliches angestellt, wenn auch mit anderen Mitteln. Es war mir klar, dass diese Bevorzugung nicht lange dauern konnte, bald musste ich zurück in den Kuhstall, darum fütterte ich die Pferde mit solcher Freigebigkeit, wie sie ihnen nie zuvor begegnet sein mag. Das hatte zur Folge, dass sie üppig wurden, und Marsch, das jüngste, machte sich Luft, indem es die Nachbarn biss und schlug. Die Disziplin war erheblich gelockert.
Der Alte hatte sich zu einem Besuch nach Stendal den Max anspannen lassen, sonst ein faules Biest, das keinen Schritt ohne Peitsche ging. Seit Tagen nicht mehr aus dem Stall gekommen, stach ihn der Hafer, den ich allzu reichlich gefüttert hatte, gewaltig. Unser Alter war kein Kraftmensch; er liebte das Langsame, Gemächliche (natürlich nur bei sich selbst). Aber seine Gewohnheit, im Kutschwagen ebenso bequem und ruhig seine dicken Zigarren zu rauchen wie zu Hause im Lehnstuhl, musste ihm der Max auf der Fahrt gründlich versalzen haben. Vollständig erschöpft kam er am Abend in den Hof gefahren, ließ alles stehn und liegen, stürzte in das Haus und erzählte seiner Gattin, was ihm Schreckliches widerfahren war. Mir warf er vor, ich sei an allem schuld.
Was war eigentlich Entsetzliches vorgefallen? — Nichts! Nur seine geruhsame Spazierfahrt hatte dieser wohlgepflegte, gut gefütterte Max verdorben; er war mehrere Male gescheut, wobei der Bauer sich hatte etwas festhalten müssen.
Endlich kam der Kaffer zu der Einsicht, dass Kuhjungen nicht zu den Pferden und Großknechte nicht zu den Kühen passen. Auf diese oder ähnliche niederträchtige Art mussten letzten Endes alle verrückten Widerwärtigkeiten des Alten ausgeglichen werden. Ein vernünftiges Wort kam nie über seine Lippen, er war felsenfest überzeugt, dass das Gesinde überhaupt keinen Verstand besitze. Nicht einmal seinem eigenen erwachsenen Sohn gestattete er eine Kritik an seinen nur zu oft gänzlich falschen Anordnungen.
Obgleich wir des öfteren unter diesem sturen Despotismus schwer zu leiden hatten, gab es doch manchmal einen Heidenspaß. So bekam ich z. B. einmal den Auftrag, eine Fuhre Runkelrüben von der Straße aus gleich in den Keller zu schippen. Nach den ersten Forken merkte ich, dass die Rüben beim Anprall im Keller zerbrachen. Zerbrochene Rüben aber fangen bald an zu faulen. Ich schippte also vorsichtig die Rüben erst vom Wagen auf die Erde, um sie danach ebenso behutsam in den Keller zu transportieren. Aber der Alte kam mit einem Kreuzhimmeldonnerwetter dazwischen, schalt mich einen stinkendfaulen Lauselümmel, wie er noch keinen gesehen hätte, und gebot mir, die Rüben unmittelbar vom Wagen mit einem Wurf in den Keller zu befördern. Trotzdem wagte ich eine Einwendung, kam aber natürlich schön an damit. „Wüßst du Oarschlok glieks don, wat ick die angäw, oder sall ick di erst en mit'n Krückstock abert Mul kaun, di grootschnauzigen Dröekel." — „Klabunde (das war der Spitzname für die betreffenden 8 Tage, denn jede Woche bekam der Krauter von mir einen anderen), den Spaß kannste haben", dachte ich und batz, klatsch, bruch, knallte ich die Rüben vom hohen Wagen herunter in den tiefen Keller. Unten war alles zermatscht, kaum eine Rübe blieb heil. Der Alte stand von weitem und freute sich, dass seine Schnauzerei bei mir einen solchen Arbeitseifer auslöste.
Am Abend wollte mich die Alte fressen. Sie war über meinen Frevel so erbost, dass sie sich weigerte, mir Essen zu geben. Nun kam der Alte dazwischen, er war im Krug gewesen. Auf seine Anweisung bekam ich sofort Abendessen, er stritt seiner Frau die zermatschten Rüben einfach ab.
„ Is doch alles een Mulsch", krähte die Alte.
„ Is joa nich woahr", brüllte er.
„ Na nu moakt doch hallwäj, ick häw doch drin rumwöhlt, nich een is heel bleewen."
„ Holl din Mul, is nich woahr."
„ Nä, sowat verrücktet, Else hät'd doch oock sehn, keen een is heel." . „Dunnerlatterjoonochmoal, verdammtet Wiwervolk, wennn ick säg, is nich woahr, denn is't nich woahr."
An einem Sonntag war Feuerwehrball im Dorfe. Aus allen umliegenden Dörfern strömten die Menschen herbei. Ein Klassenunterschied wurde hierbei nicht gemacht. Bauern, große und kleine, Kossäten (Landwirte mit weniger als zwei Pferden), Kuhkossäten und Dienstleute, alles hatte sich vorgenommen, in Jarchau Feuerwehrball zu feiern. Bei der Feuerwehr ist das Löschen die wichtigste Tätigkeit. Der „Brand" ist bei solchen Gelegenheiten riesengroß. Es gibt Leute, die sich tagelang darauf vorbereiten, den Brand zu schüren, so dass am Festtage schon in der ersten Stunde 8 bis 10 Glas Bier notwendig sind, um ihn einigermaßen zu löschen. Diese Leute haben dann den angenehmen Vorteil, gleich am Anfang der Festlichkeit in den Zustand allerhöchster Seligkeit zu gelangen, den die weniger vorsorglichen Festteilnehmer erst in 2 bis 3 Stunden erreichen. Ihr Vorsprung ist kaum noch einzuholen. Wenn z. B. viele noch dabei sind, während der 45 Sekunden Tanzpause, inmitten des Saales sitzend, einen Stiefel auszutrinken, kann man sie bereits in den Nebenzimmern schnarchend auf den Stühlen und Bänken antreffen. Sind nun auch die Säumigen in dieses Stadium eingetreten, so durchlaufen die ersten das Programm zum zweiten Mal.
Auch mein Kollege Otto versalzte sich die Kartoffelgerichte entsprechend. Als er aber die erste Etappe glücklich hinter sich hatte, war für ihn die Sache eigentlich überhaupt erledigt, sein Betriebskapital reichte nicht weiter. Er legte sich eine Weile aufs Nassauern. Aber auch damit kam er auf die Dauer nicht weit. Herr Schütte, Herr Otto, Herr Nachtigall ließen sich wohl ganz gern noch einmal daran erinnern, dass sie auf dem „Roland" ganz vorzügliche Kartoffeln, auf der „Nachtweide" gutes Heu gehabt hätten und dass ihre Pferde beinahe so viel wie Ochsen zogen, aber mit Unkosten wollten sie diese Feststellungen doch nicht verbunden wissen. Das verdrießt natürlich eine Großknechtseele doppelt; erst erniedrigt sie sich soweit, mit diesen gottverdammten Kaffern ein Gespräch anzufangen, und dann legen diese Mistbauern für solches Wohlwollen nicht einmal das geringste Verständnis an den Tag.
Macht aber nichts; auch hierbei kommt eine Stimmung hoch, die durchaus als Feststimmung zu gelten hat.
Es gibt unzählige Gründe, eine kleine gemütliche Schlägerei zu eröffnen; wir wollen aber der Gründlichkeit halber nicht auf materielle Ursachen Bezug nehmen, sondern setzen den Fall, mein Kollege hätte bei der Gelegenheit des Tanzens jemanden angerempelt, woraus sehr oft gefährliche Situationen hervorgehen. Es muss gleich gesagt werden, dass die Möglichkeit zur Anrempelung, betreffs Kaumverhältnisse, in dem Maße abnimmt, wie der Umfang der Brieftasche der Beteiligten zunimmt. Da nun die Grenze bezüglich Brieftaschenumfang nach oben gerechnet sich in xyz verliert, nach unten dagegen sehr stabil ist, so haben wir wiederum die Tatsache zu verzeichnen, dass diese Art der Eröffnung eine proletarische genannt werden kann.
Jedenfalls waren alle günstigen und brauchbaren Vorbedingungen bei meinem lieben Kollegen vereint, und somit vollzog sich die Geschichte durchaus im Rahmen der natürlichen Entwicklung. Die Kapelle hat bei solchen Gelegenheiten die Aufgabe eines Blitzableiters zu erfüllen, getreu dieser alten Überlieferung intonierte sie das Lied, das hierzu am besten passt, vielleicht auch absichtlich dazu geschaffen wurde: „Üb' immer Treu und Redlichkeit." — Nach dieser Melodie schlugen sie sich wie die Kesselflicker, dass es nur so knackte. Alles sauste, raste, pfiff, Weiber kreischten, Kleidungsstücke schnerzten, Stühle krachten, Scheiben splitterten.
Und doch erstarrte diese bewegliche Szene auf ein Wort in 2 Sekunden. Gleichzeitig aus hundert Kehlen kam's: „Feuer". Mich schlug dieses Wort beinah zu Boden, ich fühlte, wie mein Blut aus dem Kopf wich und das Herz fast zu ersticken drohte. Ich sah deutlich, wie viel weniger die anderen erschrocken waren. Es schien für die meisten nur Sensationslust zu sein. Aber ich war der Brandstifter. Ein Freund hatte aus der Stadt mehrere große Raketen mitgebracht, wagte sich aber an die Biester nicht heran. Es handelte sich um so genannte Kanonenschüsse, klotzig dicke Dinger. Vor einer Viertelstunde hatte ich die drei hintereinander mitten auf der Dorfstraße abdonnern lassen.
Am anderen Ende des Dorfes, gerade dort, wo kurz vorher dreimal die Scheunengiebel gespensterhaft grell in die Nacht stachen, war der Spuk nun gelandet. Von einem herabfallenden Funken gezeugt, stand eine Riesenfackel hochaufgerichtet am Himmel, sie gebar Millionen Funken und knallte sie in die Nacht.
Mein Schreck war weg, ich stand abseits und staunte. Nun war doch aus dem Feuerwehrball ein Feuerwehrfall geworden. Der Bauer Schlamäus, gut versichert, machte mir nicht die geringsten Sorgen. Ich war begeistert von meiner Tat und rührte nicht eine Hand, obgleich der Gendarm schon das zweite Mal an mir vorbeigestürzt kam.
Eine Menge Leute aus den umliegenden Dörfern wanderte unaufhörlich hinzu. Die sich vorher als Todfeinde mörderlich gehauen hatten, schleppten jetzt gemeinsam Möbelstücke über die Straße. Auch die Geister des Alkohols schienen durch so viel Helligkeit verscheucht zu sein. Stunden währte das Schauspiel. Prasselnd schlug der Dachstuhl zusammen.
Langsam kroch die Nacht wieder herbei, stahl sich in die Augen der Menschen und legte schwarze Schleier um ihre Gedanken. Gerüchte huschten an mir vorüber, begleiteten mich bis ins Bett.
Ich Bösewicht schlief durchaus den Schlaf des Gerechten, als mich eine raue Hand furchtbar rüttelte. Hinter einer Stallaterne, die mir direkt vor dem Gesicht baumelte, schnarrte eine Stimme wie eine große Säge auf mich los, als hätte sie es wirklich darauf abgesehen, mich mitten durchzusägen. Der blitzende Helm mit der herabgelassenen Schuppenkette schien seinen Gebärden nach schon mein Todesurteil fertig in der Tasche zu haben. Aber ich muss sagen, die dreidoppelte Erklärung, dass mir der Kopf abgeschnitten werden sollte, hat mich nicht im mindesten dazu veranlasst, die Raketengeschichte zu erzählen. Lediglich die Absicht, in dem Gefühl der Schläfrigkeit dieses Scheusal wieder loszuwerden, machten der groß angelegten Untersuchung ein so schnelles Ende.
„ Dotschloan dat Oas." „Gliecks de Knoaken bräken." „De Footen affhaken." „Ne, sülwst in't Füer schmieten." „Upphangen." Der Stab um den Generalfeldmarschall herum konnte bei der großen Anzahl der Vorschläge die meistverdiente Todesart noch nicht endgültig feststellen. Unter der scharfen Bewachung meines einstmaligen lieben Mitarbeiters, des Großknechtes Otto Enderling, ließ man mir noch eine Frist.
Ein Meer mit großen Eisschollen war rings um mich herum, ganz fern wie ein dünner schwarzer Strich lag das Ufer, und ein kleiner Punkt auf dem Strich tanzte unaufhörlich hin und her, das war Otto. Die Eisscholle, auf der ich saß, trieb ab, der Punkt tanzte heftiger. Voraus kam etwas auf, das wuchs geradenwegs zu mir hin. Die Schornsteine sagten einen Lloyddampfer an. Steuerbords an der Reling stand mein Freund Willy Frewe aus Geestemünde mit einem Tau und hiewte mich auf, gerade als die Eisscholle mit großem Krach barst. Weit ging die Fahrt. Ufer mit Palmen und farbigen Menschen zogen vorbei. Wie erfreuten mich die Möwen. Aber es waren doch seltsame Möwen, weil sie wie Hähne krähten. „Kikiriki i i". Das kam mir wohl zu dumm vor. Möwen krähen nicht wie Hähne, Hähne fliegen nicht übers Meer. Hähne sitzen auf Misthaufen, und Misthaufen... Niemand war mehr anwesend. Der Hilfsgendarm Otto hatte seine Pflicht auf das gröbste verletzt. Die Pferde fraßen bereits Heu, die Kühe brüllten auch nicht, ein Zeichen, dass sie schon satt waren. Den sonstigen Umständen nach zu urteilen, waren alle Bewohner gerade beim Kaffeetrinken. Daraus merkte ich die Opposition, in die man gegen mich getreten war. Ich Armer! Anstatt unter lieben Menschen einen vorzüglichen Mokka schlürfen zu dürfen mit der Aussicht auf den baldigen Beginn einer segensreichen Beschäftigung, war ich dazu verurteilt, wie ein fetter Müßiggänger dazuliegen.
Der Hunger schien mein Verbündeter geworden zu sein. Er hielt sich diskret im Hintergrund, immer fühlbar, aber ohne aufdringlich zu werden. Die Strategie meiner Feinde war so erbärmlich, dass sie den Kampf verloren hatten, noch ehe der Hahn dreimal krähte. Die einzige Schläue bestand darin, dass alle Kleidungsstücke entführt worden waren, um einen Fluchtversuch abzuwenden. Das Wichtigste, z. B. den Pferden den Hafer wegzunehmen, oder die Kohlrüben aus der Miete auszubuddeln und in einen diebessicheren Tresor zu verschließen, oder alles auf dem Baum zurückgebliebene Obst sorgfältig abzulesen, hatte man verabsäumt.
In der Nacht wurde ich den festverschlossenen Augen meines Kollegen anvertraut. Ich muss sagen, in diesem Zustand übte er volle Solidarität, und wenn ich mit meiner Rohkost bei magischer Mondscheinbeleuchtung ins Zell zurückgeschlichen kam, lächelte er besinnlich, als sähe er in mir den Justizminister, der die Beförderung zum Gendarmen ihm persönlich aushändigte. Es bestand strenges Redeverbot. Als sich jedoch am dritten Tage noch nicht die Eskorte zeigte, die mich für immer hinter den Zuchthausmauern verschwinden machen sollte und ich nicht die geringsten Spuren von Kapitulation zeigte, ja sogar infolge dreitägiger Bettruhe und der sehr gesunden Rohkost (d. h. gesund, wenn man nicht schwer arbeitet) ein prächtiges Aussehen angenommen hatte, bröckelte die feindliche Front sichtlich ab. Der Alte erschien mit seinem Sohn. Sie betrachteten mich kopfschüttelnd eine Weile. Im Weggehen brummte der Alte: „Dat Oas werd dick un fett doabie." Am Nachmittag kam die Alte, fing an aufzuräumen, kobolzte mit den Kisten und Kasten umher, stieß den Stuhl um, richtete ihn wieder auf, knuffte die Eimer, es nutzte nichts, mein Schlaf war so fest, als wäre ich drei Tage und Nächte nicht aus den Stiebein gekommen. Doch siehe, dieser Diebesbraten hatte die geraubten zwei Anzüge und Schuhe wiedergebracht. Ich hielt es für eine Pflicht der Höflichkeit, die erstatteten Sachen auch zu benutzen. Mein Spaziergang dehnte sich etwas lange aus, um 10 Uhr etwa kehrte ich zurück; am noch erleuchteten Fenster des Wohnhauses hockte ich einige Minuten. Das Gespräch drehte sich um mich. Der Alte sagte in einem Ton, als geschähe es zum fünfzigsten Male: „Un ick säg, de kümmt nich mehr hier her, ick weet ok man joa nich, wie ji bloß so dumm sind könnt, un den Bengel dat Tüch int Zell to bring'n." Die Tochter: „Vadder, du weetst dat nich
mehr, oaber du hest et sülwst sägt." Der Alte tat, als wenn er es nicht hörte: „De is noa Hus loopen, ick wett drupp, wenn he um 11 noch nich doa is, denn joa ick sloapen."
Also, das war aber fein, die Herrschaften warteten auf mich, na, dann wartet nur erst bis 11, ich geh einstweilen noch spazieren. Punkt 11 schwand der Lichtschein aus dem Fenster, und eine halbe Stunde später schlich ich auf den Hof, von Waldi, dem Hofhund, teilnahmsvoll begrüßt. Oh, wie groß war die Freude am Morgen, als man mich im Bett fand, und wie herzlich die Aufnahme! War denn eigentlich etwas Unangenehmes vorgefallen? Jedenfalls sprach der Alte nur von Jugendstreichen, die wohl jeder ausgefressen hätte, und dann noch von dem Glück, welches dem ollen Dussel Schlamäus so unerwartet in den Schoß gefallen wäre. „De hätt nächst Joahr de beste Schün in't Dörpp to stoan, soveel Jeld hätt de joa noch joanich verdeent in sin Lewen, as awiel bi dat Füer." Und mich bei einem meiner Vornamen (Ludwig Andreas) nennend, was sonst niemals geschah: „Andrees, doa joah man henn un loat di glieks 100 Doaler jewen." Bei diesen Worten trank er einen Kognak nach dem anderen. Er feixte und kicherte und vergrub dabei seine runde Nase, die wie ein Sektpfropfen aussah, in das knallrote Halstuch: „Nee, son klein Schwienhund... nee, son klein Drewekiel, legt sick vergnögt drei Dag in't Bett un lett uns unse Zuckerröwen janz alleene uppkriejen. Mudder, jew den kleenen Andrees man noch een Stull' und dann jeit't de Arbeit los."
Endergebnis dieser Geschichte: 3 Mark Ordnungsstrafe plus 1,10 Mark Gerichtskosten.
Unendlich langsam schlich der 11. November, der Martinstag, herbei und damit das Ende meiner landwirtschaftlichen Tätigkeit. Von den Bauern hatte ich die Nase voll. Wie eine Fahrt in eine andere Welt erschien es mir, als ich endlich mit einem ebenfalls abziehenden Großknecht mit meinen 10 Zentnern Kartoffeln und den 20 Talern abdampfte.
In eine andere Welt? In eine bessere?
Nach den ersten Tagen der Wohlgefälligkeit in der elterlichen Wohnung bäumte sich wie ein gesporntes Pferd die Frage auf: Was beginnen? Womit den Zaster verdienen, der zum Leben so notwendig ist?! Einem Alpdruck gleich lag mein unergründlicher Magen auf unserem Haushaltplan.

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