Gauner hüben, Gauner drüben, Gauner überall
Seltsamerweise wurden wir bei unserer Ankunft an der Grenzstation Wirballen nicht, wie wir angenommen hatten, sogleich nach Eydtkuhnen abgeschoben. Wir sollten noch einen Käfig litauischer Nationalität kennen lernen. In Kowno war uns gesagt worden, wir würden über die Grenze nach Deutschland gehen. Warum in diesem elenden Kaff nochmals brummen?! Nicht lange blieb uns der Zweck dieser Einkerkerung verborgen. Einer von uns, ich weiß nicht, ob der Maurer oder der Stettiner, hatte in der Vorfreude des Wiedersehens mit seiner Familie seinen Trauring, den er bisher sorgsam versteckt hatte, schon im Bahnwagen aufgesteckt. Den kaufmännisch geschulten Augen des Beamten in Wirballen war dieses Wertstück natürlich nicht entgangen, und damit er sich in Ruhe überlegen könne, wie er in den Besitz dieses Ringes kommen konnte, ließ er uns eben noch nicht über die Grenze. Als wir bereits eine Nacht und einen Tag ohne jede Verpflegung die Gastfreundschaft dieses edlen Menschen genossen hatten, fragte er uns, indem er seinen Kopf durch die Türklappe sehen ließ, ob wir denn überhaupt keinen Hunger verspürten? Als ich ihm darauf antwortete, dass wir mit solchen nebensächlichen Dingen nicht gestört zu werden wünschten, sagte er uns mit derselben trockenen Selbstverständlichkeit, mit der ein Aasgeier einen dreiviertel toten Wüstenwanderer anhackt, der eine Herr dort hätte, wie er gehört habe, einen Ring zu verkaufen und er wäre gern bereit, ihn gegen Brot und Wurst in Zahlung zu nehmen. Ein Wirbel der Entrüstung trommelte ihm entgegen. Er schloss die Klappe und entfernte sich mit langsamen Schritten. Der Besitzer des Ringes war nicht befähigt, dem kaufmännisch Gebildeten genügend Charakter entgegenzusetzen. Am Morgen wurde das Geschäft gemacht. Ein halbes Brot und ein knappes halbes Pfund minderwertiger Wurst, gegen den gestempelten Ring. Sobald das Eingetauschte verzehrt war, wurden wir unter starker Bewachung über die Grenze gebracht.
Gauner sind wie Unkraut, es wächst diesseits wie jenseits der Grenze. Grenzen, von denen man sagen könnte, auf dieser oder jener Seite gibt es keine Gauner, existieren nicht. Der sich auf so raffinierte Art den Ring ergaunert hatte, war gewiss ein großer Gauner, ein litauischer. Einen deutschen Gauner werde ich dem Leser vorführen, wenn ich am Schluss der Beschreibung des Quarantänelagers Eydtkuhnen, in das wir nun gesteckt wurden, angelangt bin.
Nach kurzem Polizeiverhör, wobei der Stettiner „hoch ging", das heißt, wo er infolge des Kownoer Spitzels überführt wurde, dass er nicht als Kriegsgefangener zurückkehrte und daher auch nicht die Heimkehrunterstützung ausgezahlt bekomme, wies man uns in einer großen Baracke ein Bett an. Es ist in dieser Baracke wie im Familienbad. Familien sind weniger dabei, aber jung und alt, männlich und weiblich, schnarchen im Takt über- und nebeneinander. In der Nacht hört man es einmal vorn, dann hinten, rechts und bald links knistern und knacken, kichern und küssen, krabbeln und knallen. Ich habe die Feststellung machen können, dass es in einer riesigen Baracke, was das Knallen anbetrifft, überhaupt nicht abreißt. Kaum ist der eine Furz verklungen, schon lässt sich der nächste vernehmen in allen Tonlagen vom höchsten G bis zum tiefsten Bass, in ganzen und halben, auch Achteltönen, eine nächtliche Symphonie. In der Baracke waren viele Deutschrussen, die vor der Inflation aus Russland geflüchtet waren, wahrscheinlich um die deutsche nicht zu verpassen. Das Leben im Lager war nicht uninteressant. Dort war eine ehemalige Gouvernante und Sprachlehrerin aus Leningrad. Ich wollte gern wissen, wie die Revolution auf solche Stiefelputzer der Großbourgeoisie gewirkt hatte und konnte bei dem Fräulein Hottow ein recht befriedigendes Resultat herausbringen. Fräulein Hottow, die noch jung war, fand an der Revolution besonders erfreulich, dass sie dem anmaßenden Hochmut der „Herrschaften" einen so großartigen Schlag auf den Kopf versetzte. Wir hatten sehr viel Zeit. Die Hottow war sehr gesprächig, und so konnte ich erfahren, wie vielseitig eine Gouvernante beschäftigt wird. Sie ist nicht nur Gesellschafterin für Kinder und gnä' Frauen, sondern je nach der Auffassung des Hausherrn und manchmal auch der Herren entfernterer Häuser, zeitweilig auch deren Gesellschafterin. Mit Geld glaubt man in dieser hochnoblen Gesellschaft Tränen trocknen zu können, wie Fräulein Hottow sich ausdrückte. - „Und jetzt, wie ist es jetzt? Ist die Liebe in Petrograd ausgestorben?" -„O nein, alles regelt sich mit verblüffender Einfachheit. Verblüffend war es nur in der ersten Zeit. Das Leben und, was Sie speziell wissen wollten, die Liebe ist jetzt ungeheuer einfach und daher natürlicher. Man muss zugeben, wie Nietzsche sagt, dass das Christentum und damit die auf diesem basierende so genannte Gesellschaft den Eros vergiftet hat. Zwar ist er daran nicht gestorben, aber entartet zum Laster." Auf die Frage, ob sie mit den Ehegesetzen Sowjetrusslands einverstanden sei, die eine Heirat gestatten, zu der man nicht mehr Zeit benötigt als in Westeuropa zu einer polizeilichen Anmeldung, antwortete sie begeistert mit „Ja". - „Und die mögliche, ebenso plötzliche Scheidung schreckt Sie auch nicht?!"
- „Nicht im geringsten, das ist gewiss das beste am ganzen Gesetz." Ich war jedenfalls mächtig erstaunt über die vernünftige Stellungnahme zu den Problemen. „Warum haben Sie Russland verlassen?"
- „Mein Beruf passt nicht mehr in dieses Land! Ich kann rein gar nichts, was man drüben gebrauchen könnte. Ein Proletarier mit dem Hammer oder ein Muschik mit der Sichel zählt dort mehr als zehn Gouvernanten!" - Sie spielte leidenschaftlich Schach. Obgleich ich hierin kein Gegner für sie war, erlahmte ihre Ausdauer nicht. Bei einer Wachskerze spielten wir bis in die Nacht hinein. Von einem Russen bekam ich Tabak, und so lebte es sich ganz gut im Lager. Bis nach etlichen Tagen in das Idyll eine Bombe platzte! Wir wurden abtransportiert und kamen erst wieder zur Besinnung, als wir bereits im Strafgefängnis zu Stallupönen saßen. Stallupönen ist ein Ort nicht sehr weit von der Grenze. Zehn Tage mussten dort abgesessen werden, bevor wir nach dem Quarantänelager zurückgingen. Wir - Bäsel und ich - wurden in eine Gemeinschaftszelle gesteckt. Die zwei anderen saßen ebenfalls in einer Gemeinschaftszelle auf demselben Flur, unserer Tür gegenüber. Auf peinlichste Sauberkeit wurde gesehen, kein Haar und kein Halm durfte auf dem Fußboden liegen. Es gab Bettücher und gute Matratzen, Waschgefäße und Handtücher. Sah man aus dem Fenster, so hatte man eine herrliche Aussicht auf zweierlei Dinge: Ganz nahe am Fenster stand ein Birnbaum voll der saftigsten Birnen, und als Fernsicht in zweihundert bis dreihundert Meter Distanz vom Fenster thronte groß und schwarz auf der Kirchturmspitze von Stallupönen, wie auf anderen Kirchen der Hahn oder das Kreuz, ein echter deutscher Reichsadler, so breit und graulich, wie er auf den alten Münzen „längst verklungener Zeiten" zu sehen ist. Solche bedeutende Vorzüge hat nicht jedes Kittchen, darum erholten wir uns von dem Bombenattentat in wenigen Stunden. Wahrscheinlich hätten wir uns auch weiterhin wohl gefühlt, wenn nicht ein Ereignis passiert wäre, wie es wohl einen Menschen niederträchtiger kaum berühren kann.
Es war um die dreizehnte Stunde. Die Spannung stieg ins unerträgliche. Schon lange lag etwas in der Luft. Das war ein intensiver Geruch von Petersilie, und soviel wir auch schnüffelten, sosehr wir unsere Nase auch anstrengten, die damals gerade in großer Form war - nur nach Petersilie roch es, nach nichts anderem, nicht einmal ein Körnlein anderen Gewürzes mischte sich hinein. Wir ahnten Schreckliches. Ich glaube, unser vorzügliches Riechorgan hat uns vor einem schweren Schlaganfall bewahrt, denn als wir jeder wenige Minuten später eine Schüssel Petersiliensuppe in ihrer ganzen grausigen Wirklichkeit vor uns stehen hatten, hätten wir diese schwere Prüfung ohne die vorbereitende Tätigkeit unserer Nase wohl kaum überstanden. Geknickt saßen wir da. Ja, wenn es Petersilie und Hackepeter gewesen wäre, aber auf Wasser! - „Entsetzlich!" würde Fräulein Hottow gesagt haben. „Abscheulich!" sagte ein polnischer Student, der mit in unserer Zelle saß. „Gemeene", meinte Bäsel. Ich dachte nach und fand, dass diese drei Wörter zusammen genommen noch nicht das Richtige trafen. Ist die Grassuppe ein Essen für Menschen? Seit wann füttert man Löwen mit Entengrütze? Was nützt da die schöne Aussicht auf den beschützen den Reichsadler, was nützt die komfortable Einrichtung der Zelle? Was nützt die große Sauberkeit? Ein sauber gescheuerter Tisch, auf dem nie etwas Essbares steht, ist wie ein Diplomatenzylinder auf einem Strohkopf, das heißt: Raum ohne Inhalt! - Von diesem Schreck erholten wir uns nicht wieder, solange wir in Stallupönen waren. Der Speisezettel aller nachfolgenden Tage sah dem ersten verzweifelt ähnlich. Neunzig Prozent Wasser, und die restlichen zehn Prozent nicht viel anders. Wasser! Nichts als - Wasser. Wie schon erwähnt, saß in unserer Zelle noch ein polnischer Student. Der war geisteskrank. Alle paar Stunden heckte er einen Streich aus, wobei er sich nach Belieben einen Partner wählte. Menschenleben schonte er dabei nicht, nur der Zufall wollte es, dass bisher kein größeres Unglück geschehen war. Alle Mann mussten ihre ganze Kraft aufbieten, um den Wärter zu veranlassen, den gemeingefährlichen Kerl in eine andere Zelle zu bringen. In unserer Zelle waren zwei Epileptiker, die die Anwesenheit des Studenten ohne schwere Schädigung ihrer Gesundheit nicht länger ertragen konnten. Bei der Versetzung des Studenten wurde jedoch ein schwerer Fehler begangen. Man hatte ihn in eine Einzelzelle, die direkt neben unserer lag, gesteckt, und nun versuchte der Mann, sich durch Klopfzeichen verständlich zu machen und das mit einer solchen Intensität, dass wir glaubten, die Mauer würde dabei in die Brüche gehen. Selbstverständlich reagierten wir nicht auf den Spektakel. Auch die Wärter reagierten nicht darauf, und das wurde ihnen zum Verhängnis. Als der Student bis Mitternacht immer noch keinen Anschluss gefunden hatte, wurde er ungeduldig. In der Einzelzelle stand ein großer Kachelofen. Den baute er ab, mit den Kacheln warf er Diskus. Nach einer halben Stunde unerhörter Raserei trat plötzlich Totenstille ein. Vom Reichsadlerturm schlug es zwei Uhr. Wir zermarterten uns das Gehirn, was den Polen veranlasst haben könnte, so urplötzlich in der Ekstase abzubrechen. Ein Herzschlag? Aus der tiefen Finsternis der Zelle kroch schleichend ein Röcheln herauf. — Schnell klingeln wir um den Wärter, der Blasse kriegt wieder einen Anfall. Ruckartig, wie das Schlagen eines Pferdefußes schlugen die Glieder des Epileptikers gegen Wand und Bettgestell. Der wachthabende Beamte kümmerte sich um nichts. Er hatte keine Lust, sich mit dem Kranken herumzubalgen. Als die Krämpfe ihren Höhepunkt erreicht hatten, sprang plötzlich der zweite aus der Reserve, nahm alles Greifbare und schlug wie wahnsinnig um sich. Fensterscheiben, Wasserkrug, Schemel, alles ging dabei in die Brüche. Der mit dem epileptischen Anfall war infolge der explosiven Zuckungen aus dem Bett gefallen und lag auf dem Fußboden. Deutlich konnte man hören, wie seine schlagenden Glieder in die herabgefallenen Scherben schlugen. Als der Tobende anfing, alles zu demolieren, war ich aus dem Bett gesprungen, hatte schnell meine Matratze herausgerissen, das übrige Bettzeug auf die Drahtmatratze gelegt und mich mit der Polstermatratze zugedeckt. Nur so konnte ich mich, der ich in einem unteren Bett lag, vor Verletzungen schützen. Die in den oberen Betten lagen an die Wand gequetscht. Kein Mensch wagte sich zu rühren. Stundenlang dauerte dieses grausige Schauspiel. Der Tobende verfiel ebenfalls in einen Krampf. Als das erste Morgengrauen durch die herausgeschlagenen Fenster blickte, lagen zwei todkranke blutende Menschenleiber zwischen den Trümmern, dicken Schaum vor dem Munde, Glassplitter in den verkrampften Händen. Und der Pole? Man fand ihn nackt, mit stark blutenden Wunden, mit Armen und Beinen in das Eisengitter geklemmt, vor. Die übermenschliche Anstrengung, das Eisen zu verbiegen, hatte ihm das Bewusstsein geraubt. Die Zelle war mit den zerschmetterten Kacheln übersät. Alles in allem, ein Bild, das eine schwere Anklage erhob gegen die Verwaltung des Gefängnisses und gegen das gesamte System der kapitalistischen „Ordnung".
Mir wurde am frühen Morgen des 28. August vom Genossen Bäsel zum Geburtstag gratuliert. Auf Geburtstagsfeiern habe ich noch nie etwas gegeben, großartige Geschenke konnte ich noch nie einheimsen. Bäsel opferte seine halbe Schnitte trockenes Brot und bestand energisch darauf, dass ich sie als Geburtstagsgeschenk annehme. Die Birnen am Fenster leuchteten mir in die Augen und ließen mich ihren Wohlgeschmack ahnen.
In der nächsten Nacht gab's wieder eine kleine Störung. Zwei Litauer saßen wegen einer Edelmetallschiebung. Den ganzen Tag füllten die beiden mit geheimnisvollen Gesprächen aus. Und des Nachts tuschelten sie ebenfalls auf eine Art, die nicht für andere Ohren bestimmt war. Um die nächtliche Unterhaltung durchführen zu können, stieg der im oberen Bett zu seinem Freund ins untere. Die Geräusche, die in der nächtlichen Stille der Zelle aus dem Bett der Litauer kamen, waren für mich lange Zeit undefinierbar. Erst als die unwilligen Proteste des einen gegen eine hartnäckige Forderung des anderen immer dringender wurden und ihre Debatte in eine laute zänkische Auseinandersetzung ausartete, wurde mir klar, dass es sich um Homosexuelle handelte. Die ganze Nacht dauerte der Krach. Die Unterhaltung führten sie in Litauisch. Wir verlangten Aufklärung, warum sie unbedingt ihre störenden Auseinandersetzungen in der Nacht austragen mussten. Immer härter gerieten die Litauer aneinander. Der boshaften Beleidigung des einen folgte die boshaftere des anderen. Das Gezeter, nunmehr in schlechtem Deutsch, um die Schärfe ihrer gegenseitigen Auseinandersetzung auch uns verständlich zu machen, nahm kein Ende. Ihre homosexuellen Intimitäten warfen sie sich an den Kopf mit demselben Eifer, wie sich Kinder mit Schneebällen werfen. Man musste nach der Heftigkeit des Streites annehmen, sie hätten sich für alle Zeiten getrennt; um so verwundeter waren wir, als sie am nächsten Morgen engumschlungen, im tiefsten Schlaf befindlich, wiedervereint in einem Bett lagen.
Der Termin wurde für den nächsten Tag angesagt. Wegen unerlaubten Grenzübertrittes sollte die Bestrafung erfolgen. Kurz nach Mittag ging's los. Wie ein Grammophon, welches auf zuviel Tempo eingestellt ist, plapperte der Richter die Formalitäten herunter. In zehn Minuten war alles erledigt. Zehn Tage Gefängnis, durch die Untersuchungshaft verbüßt, war das Urteil. Noch eine Nacht und dann - hinaus in den sonnigen Morgen! Es ist ein unbeschreibliches Glücksgefühl im Menschen, wenn ihm die Freiheit zurückgegeben wird. Aber die Freude an der Freiheit verwandelte sich bald in die Frage: Was nun? Ohne Pass kam damals niemand durch den Polnischen Korridor. Mit Ausnahme derjenigen, die eine Seereise bezahlen konnten. Die einzige Möglichkeit: Zurück nach Eydtkuhnen ins Quarantänelager, um gültige Papiere zu erlangen! Aber so schnell schießen bekanntlich die Preußen nicht. Mehrere Tage dauerte die Geschichte. Während dieser Zeit mussten wir uns mehrmals impfen lassen, Entlausungen usw. mitmachen, obgleich wir keine Läuse hatten.
Inzwischen war es im Lager interessant geworden. Internierte polnische Truppen, die von den Bolschewiki über die Grenze gedrückt worden waren, hatten sich's hier bequem gemacht. Das „bequem" trifft natürlich nur auf die Offiziere zu. Ein seltsamer Anblick, wenn die Truppen Appell machten und die Offiziere mit ihren Peitschen dazwischenschlugen, wo etwas nach ihrer Meinung nicht stimmte. Die Wut der Chargen über den verlorenen Krieg kannte keine Grenzen, die Unterwürfigkeit der Mannschaften unter den Despotismus der Vorgesetzten ebenfalls nicht. Es war, mit einem Wort gesagt, eine erbärmliche Geistesverfassung, in der diese Truppen steckten. Auch eine kleine Gruppe Bolschewiki war interniert. Leider konnten wir uns mit den Leuten fast gar nicht verständigen. Ihre Ausrüstung war sehr schlecht. Etliche unter ihnen hatten ohne jegliche Fußbekleidung den ganzen Krieg gegen die Polen mitgekämpft. Aber ein wichtiges Moment war augenscheinlich ihre große Kameradschaftlichkeit. Krach untereinander gab es nicht, auch nicht mit den anderen Insassen des Lagers. Auch Vorgesetzte waren nicht da. Aus einer Kiste nahmen alle gemeinsam ihren Tabak. An anderen Orten Ostpreußens waren größere bolschewistische Streitkräfte interniert. So in Arys. Später befanden sich Internierungslager in Salzwedel, Provinz Sachsen, und in Zerbst. Die Tage im Lager vergingen. Als sich endlich die gewünschten Papiere, eine Art Pass, Fahrschein usw. einstellten, wurde uns bekannt gegeben, dass wir jeder zwanzig Mark vom Roten Kreuz bekommen sollten. In der Baracke des Roten Kreuzes empfing uns mit viel Freundlichkeit ein älterer Mann. Wir hatten ihn bei einer Wohltätigkeitsfeier des Roten Kreuzes schon einmal gesehen, dort tat er sich in Worten und Zeichen besonders hervor. Er zahlte uns das Geld aus und ließ uns ein vorgedrucktes, aber unausgefülltes Quittungsformular unterschreiben. Wir malten unsere Unterschrift an die Stelle, wo der Unterstützungsempfänger zu quittieren hat. Was der Rote-Kreuz-Mann an die Stelle hinschrieb, wo unter normalen Verhältnissen beim Quittieren schon die Höhe der Summe ausgefüllt steht, haben wir nie erfahren können. In Königsberg war kurzer Aufenthalt, der Polnische Korridor kam nun näher. Beim Verlassen des deutschen Gebietes wurde eine Revision vorgenommen. Beim Eintritt in polnisches Gebiet gab es wieder eine Revision. Diesen zwei Revisionssätzen schlössen sich noch sechs andere an. Doch muss ich vorher noch eine Episode erzählen, die uns vor der Bekanntschaft mit dem polnischen Gefängniswesen rettete, auf eine Art, die sehr romanhaft klingt und die ich, ohne dafür einen Zeugen zu haben, kaum erzählen könnte. Auf der Brücke, wo der Zug hielt, wurden Bäsel und ich von polnischen Soldaten aus dem Abteil herausgeholt, mit der Erklärung, auf unserem Pass sei etwas nicht in Ordnung, wir könnten diesen Zug zur Weiterfahrt nicht benutzen. „Verdammter Mist!" Ein Offizier, der die Papiere des Genossen Bäsel prüfte, sagte barsch: „Sie werden sich ein paar Wochen in Cef (ehemals Dirschau) amüsieren - das hier sind doch keine Durchreisepapiere!" Da ich mich für das bevorstehende Amüsement meines Freundes auch interessierte, machte ich den Einwurf, dass wir doch diese Papiere als einwandfrei vom Einwanderungsbüro in Eydtkuhnen erhalten hätten. Darauf nahm mir der Kerl mit seiner quadratischen Mütze meine Papiere aus der Hand und überprüfte sie. Ein erstauntes Lächeln spielte auf seiner narbigen Gesichtshaut. — „Sie heißen Turek?" „Jawohl!" „Mann, wie kommen Sie zu meinem Namen? Ich heiße Turek! Wie können Sie sich erlauben, auch Turek zu heißen!?" „Das ist nicht meine Schuld. Beschweren Sie sich bitte bei meinem Großvater, Herr Leutnant, vielleicht kann der Ihnen den Schuldigen nachweisen!" „Sie sind der erste, den ich in meinem Leben treffe, der auch Turek heißt. Tureks sind seltene Kerle. Wo sind Sie geboren?" „In Stendal in der Altmark." „Aha! Das kenne ich, das war im Kriege die Strecke über Berlin nach Hannover zur Westfront, nicht wahr?" „Jawohl, Herr Leutnant!" Ohne lange zu zögern, schrieb er einen Zettel aus und ließ uns sausen: „Sie haben Schwein gehabt, bei uns in Cef ist nicht viel los." Jetzt erfolgten zwei weitere Revisionen, beim Verlassen des polnischen und beim Eintritt in Danziger Gebiet.
Im Wartesaal des Danziger Bahnhofes saß ich gleich nach der Ankunft beim Mittagstisch, als sich zwei Dinge in meinen Gesichtskreis drängten, die immer in der Erinnerung lebendig werden, sobald ich an Danzig denke. Das ist — eine Tripperspritze und eine Literflasche mit Protargol! — Während ich mein dürftiges Mahl verzehrte, setzte sich eine Gestalt neben mich an den Tisch, eine Gestalt, wie ich sie unverfrorener noch nicht gesehen hatte. Ohne Aufforderung erzählte mir der Kerl, dass er zu einem Tripper gekommen sei und dass er die alte Sau, bei der er sich die Schweinerei geholt habe, totschlagen wolle, wenn er sie erwische. Mitten in der Erzählung zog er eine Tripperspritze aus der linken Seitentasche, legte sie neben meinen Teller, holte aus der rechten Seitentasche die Literflasche, nahm seinen Penis aus der Hose und spritzte. Obwohl der Tisch, an dem wir saßen, in einer Ecke stand und der Wartesaal nicht sehr besetzt war, gehört doch immerhin eine große Portion Frechheit dazu, so etwas hier zu erledigen.
Wohin wollten wir eigentlich!? Ob es wohl in Danzig eine Gelegenheit gibt, sein Leben zu fristen? Vielleicht! Tage rastlosen Suchens nach derlei Gelegenheiten gingen dahin. Auf der Reede von Danzig liegt der amerikanische Panzerkreuzer „Pittsbury". Im Gespräch mit englischen Seeleuten erfahren wir, dass der „Pittsbury" noch Leute braucht. Fünfzig Dollar pro Monat, damals ein fürstliches Gehalt. „Wer bei der deutschen Marine war, wird bevorzeugt." Nein, nein! und nochmals nein! Mit der Absicht, zur Roten Armee Russlands zu gehen, waren wir aufgebrochen und mit einer Heuer auf der imperialistischen „Pittsbury" sollte die Fahrt ihr Ende finden? Nein!
Am anderen Tage sehen wir, wie aus einem französischen Dampfer schwere Geschütze und Tanks ausgeladen werden. Kriegsmaterial für Polen gegen Sowjet-Russland. Arbeit ist nirgends zu finden. Mit wenigen Pfennigen in der Tasche schlenderten wir durch die Straßen Danzigs. Danzig trägt internationalen Charakter, das heißt die internationale Bourgeoisie hat Danzig zum Schlachtfeld ihrer Profitgier gemacht. Du gehst harmlos daher und auf einmal kommt ein Mann angestampft, als wolle er das Pflaster zertrampeln. Indem du denkst: wo will denn der Kerl hin mit der Knarre auf der Schulter? — macht er plötzlich nach Kommando, was er sich selbst gibt, halt, kehrt, und stampft denselben Weg zurück. Von der anderen Seite kommt noch so ein Pflastertreter dazu und wieder geht's nach einem lautlosen Kommando... „Halt, links und rechts um, Gewehr bei Fuß, rührt euch." Das ist ein englischer Doppelposten. Der alte Fritz müsste sich die Potsdamer Garnisonkirche vom Leibe wälzen vor Neid, wenn er diese späten Früchte seiner Pflanzung sehen könnte. Englische Soldaten außer Dienst gehen in erstklassiger Uniform mit dem Spazierstock oder der Silberknaufreitpeitsche zwischen den Fingern, breitspurig auf den Straßen Danzigs spazieren. Daneben, hinterher oder vorweg schleicht ehrerbietig der polnische Berufskollege.
Der Soldat mit seiner guten oder schlechten Uniform, mit dem wohlgenährten oder dem verhungerten Aussehen, mit seiner kaufkräftigen oder Inflationsgeldbörse, ist das Spiegelbild der Wirtschaftskraft seines Staates. Am Rhein bei den Besatzungsarmeen trat dieser Umstand noch krasser in die Erscheinung. In Mainz der wenig noble Franzose, in Köln der noble Engländer und in Koblenz der hochnoble Amerikaner. Heute, nach dem Wirtschaftsaufbau Sowjet-Russlands, gibt es auch dort keine barfüßigen Rotarmisten mehr. Der Hunger brachte uns auf die Idee, beim Roten Kreuz in Danzig um Moneten zu schnorren. Sehr höflich wurden wir dort empfangen. Man beglückwünschte uns, aus der bolschewistischen Hölle entronnen zu sein und bot uns einen Stuhl an mit der Bitte, einen Moment zu warten, der Herr, der uns bedienen werde, werde gleich erscheinen. In einem geräumigen Zimmer saßen drei Personen, die, wie es den Anschein hatte, alle nur einer Beschäftigung oblagen, nämlich auf den Feierabend zu warten. Endlich kam der Herr. Eine liebe Erscheinung. Jedenfalls eine Vertrauensperson durch und durch. Er stellte die Anwesenden höflichst vor: „Herr Bäsel, Herr Turek, bitte sehr, Herr Karl Stülpner, Herr Hiesel aus Bayern. Hier der Stern unserer schaffensfrohen Tage, Frl. Rosa, und hier meine Wenigkeit: Rinaldini." Zwar habe ich die Namen nicht mehr so haarscharf im Gedächtnis, jedoch die edlen Züge dieses Wohltätigkeits-Professionals sind für immer haften geblieben. Äußerst rücksichtsvoll vermied er, von unserer finanziellen Lage zu sprechen. Als seien wir alte Bekannte, die er für eine halbe Stunde mit Beschlag belegt habe und die selbstverständlich die Gastfreundschaft des Hauses genießen, so liebenswürdig wurden wir behandelt. Fast unmerklich flocht er in den Kranz seiner Fragen und Reden den Wunsch ein, wir möchten doch ein auf vierzig Mark lautendes Quittungsformular unterschreiben. — „Lassen Sie sich das nicht nehmen, meine Herren, besuchen Sie unser herrliches Zoppot, fabelhaft, der Strand und gerade jetzt das Wetter, einfach prachtvoll! Swinemünde oder Norderney, gar kein Vergleich, nein, nein! Ganz speziell für Herrschaften, die wirklich baden, ist doch Zoppot mit dem ruhigen Wasser der Danziger Bucht, wundervoll. Ich finde die Ostsee überhaupt besser als die Nordsee, vielleicht dass der Salzgehalt dort stärker ist... usw. So, darf ich bitten, Herr Turek, Ihre Unterschrift? Ich danke vielmals. Gestatten, Herr Turek, wollen Sie die Güte haben, noch einmal in deutscher Schrift, unser Chef ist so peinlich... So, streichen Sie das obere bitte durch und... Es sieht nicht ganz exakt aus, unterschreiben Sie doch bitte auf diesem (leeren) Formular. Ich trage das dann gleich nach."
Vierzig Mark! Ei ei ei! O weh, o weh! Wenn der Rinaldo in seiner Schwärmerei für Zoppot die Summe auf dem zerrissenen, ausgefüllten Formular nun vergisst und auf dem leeren unterschriebenen dann vielleicht rein aus „Versehen" hundert Mark notiert und bei der Abrechnung sich in der Kasse ein Plus von sechzig Mark ergibt? Was macht er mit den sechzig Mark, der Ärmste!? Ja,
Wenn's ein Minus wäre, dann könnte man ratenweise vom eigenen Gehalt drauflegen. Aber ein Plus?! Doch warum denn immer das Schlimmste denken. Warum immer so schwarz sehen? Ich werde mir diese Begebenheit als Vorwand nehmen, um meinen leichtfertigen Pessimismus endgültig ad acta zu legen.
Auf einer Penne übernachteten wir, billig und hundsmiserabel zugleich. Aber in der Not frisst der Deibel Fliegen. Uns fraßen die Wanzen. Nach der Abfahrt von Danzig beginnen wieder die Revisionen. Bei Austritt aus dem Danziger Gebiet, bei Eintritt in das polnische, bei Austritt aus dem polnischen und bei Eintritt ins deutsche Gebiet. Damit waren wir auf einer Strecke von nicht hundert Kilometern achtmal kontrolliert worden. In Berlin angekommen, gingen wir wieder zum Roten Kreuz. Mit einer klotzartigen Grobheit flogen wir wieder hinaus. Anscheinend waren wir auf gewissenhafte Beamte gestoßen, die es mit ihrem Beruf ernst nahmen. In Stendal war alles hocherfreut dass wir mit heiler Haut wieder in der Heimat gelandet waren. |
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