Polen macht Krieg gegen Sowjetrussland, wir eilen zu Hilfe
Pilsudski begann einen Krieg gegen Sowjetrussland. Frankreich, sein Auftraggeber, erhoffte bei einem siegreichen Ausgang, an Stelle der verdrängten Sowjets eine Regierung zu sehen, die alte Zarenschulden an Frankreich begleichen würde. Sowjetrussland in Gefahr! Wir kündigten bei Hösch die Arbeit, packten unsere Kisten, bezahlten unser Logis und verabschiedeten uns von unserer Schlummermutter mit dem frommen Wunsch, dass sie bald der Teufel holen möge.
Genosse Bäsel hatte gleich bei der Abfahrt des Zuges aus dem Dortmunder Bahnhof Pech. Der Zug rückte etwas stark an und Otto fiel eine Kiste aus dem Gepäcknetz auf den Kopf, dabei ging seine Brille in die Brüche. Langsam bummelte der Zug durch die Landschaft. Die vierte Klasse des Fernzuges ist voller Menschen. Frauen mit Kindern, die, auf Reisekörben liegend, durch das monotone Rasseln der Räder eingeschlafen sind. Jedes Schienenende gibt dem schlechtgefederten Wagen einen Stoß. Alle Passagiere werden auf diese Weise in jeder Minute gegen dreißig- bis vierzigmal zusammengestaucht. Die Wirkung einer solchen stundenlangen Stauchung ist an den Reisenden deutlich zu sehen. Wer zehn Stunden vierter Klasse fährt und etwa 20000 Stöße bekommen hat, ist in einer anderen Verfassung als der, an dem dieser Kelch vorüberging.
In Stendal angelangt, gingen wir mit unserem Plan, zur russischen Roten Armee zu gehen, um im Kampfe gegen Polen mitzuhelfen, bei allen Freunden agitieren. Obwohl viele von ihnen arbeitslos waren, konnte sich doch keiner entschließen, mitzukommen.
Nach zwei Tagen fuhren wir über Berlin nach Swinemünde. Nachts drei Uhr ging der Dampfer nach Pillau ab. Bald ging die Sonne auf. Doch nur wenige Strahlen tauchte sie in die grüngrauen Wellen. Eine Steife Brise brachte Wolken herauf. Nach etlichen Stunden stürmte es. Das teure Frühstück flog halbverdaut wieder über Bord. Wer sich aus Unachtsamkeit am Bug hinbaut, bekommt plötzlich einen Guss von drei Eimern Ostsee über die Visage. Ich habe neben dem Schornstein meine Decke hingelegt und dort hocke ich, von der Seekrankheit verschont, den ganzen Tag. Dieser Mittelpunkt des Schiffes schwankt am wenigsten. Mein Freund Bäsel hat nicht die Ruhe dazu, er wandert umher, bis er mit zweifelhaften Gefühlen im Magen wieder neben mir auf der Decke landet. Die pommersche Küste zieht langsam, oftmals in kurzer, oft in sehr weiter Entfernung vorüber. Wie ein Kap kommt die Halbinsel Hela in Sicht. Lange jedoch warten wir, bis sie ganz herauf ist. Ist Hela passiert, geht das Land außer Sicht. Trotzdem spürt man die Nähe Danzigs. Kleine Segler — nach den Begriffen meines Genossen, der noch nie zuvor offene See gesehen hat, alle in höchster Seenot befindlich — und auch Dampfer beleben die Danziger Bucht. Danzig ist Freistaat und wird nicht angelaufen. Eine Seereise, auch wenn sie nur zwanzig Stunden dauert, ist ein Genuss ersten Ranges, vorausgesetzt, dass die Seekrankheit nicht ihr „Rumpf vorwärts beugt" kommandiert.
Spät in der Nacht legen wir in Pillau an. Ein Zug bringt uns nach Königsberg. Im Wartesaal in einer Ecke machen wir uns aus unseren Decken ein Lager, und der späte Morgen mit seinem Andrang zu den Frühzügen weckt uns. Unsere Rucksäcke geben wir zur Gepäckaufbewahrung. Auf der Kneiphöfschen Langgasse ist etwas los. Passanten, mit dem Gesicht in eine Seitengasse gewandt, stehen gespannt — wie in Erwartung eines interessanten aber gefährlichen Schauspiels — auf der Straße. Weiterhin steht Polizei. Damit ist die Sache für uns klar. Wo Polizei steht, dazu über drei Mann stark, und kein Reichspräsident die Stadt besucht oder bürgerliche Sportler Sensation machen, geht's gegen Arbeiter, das ist feste Norm in der freiesten aller Republiken. Mit einem Rollwagen vorweg kommt ein wilder Haufe plötzlich die Straße herauf. Der Rollwagen wird zur Barrikade umgekippt, als die Polizei heranrückt. Noch ist keine Sekunde verflossen, als die tapferen Gummiknüppelträger kehrtmachen, um auf der entgegengesetzten Seite der Szene harmlose Straßenpassanten vor sich herzutreiben. Doch nicht allzu lange dauert diese Schwäche. Während uns die Grünen von der Demonstration abdrängen, bekommen sie Verstärkung. Leider müssen wir per Schub in einer Seitengasse verschwinden und können nichts mehr von der Weiterentwicklung der Dinge sehen.
In einer Versammlung streikender Hafenarbeiter werden von Kommunisten Forderungen aufgestellt, die dem schon Wochen dauernden Streik eine günstige Wendung geben sollen. Die Erregung steigt ins Ungeheure, als ein Reformist seine Samtpfoten in den Dienst der Bewegung stellen will. Die Unternehmer haben es sich längst verscherzt, so weich angefasst zu werden. In großen geschlossenen Gruppen marschiert die Versammlung nach Hause.
In einem schäbigen Gasthaus in einer engen Straße übernachten wir. Mein Freund Otto entdeckt in einer gegenüberliegenden Wohnung, wo man deutlich durch die fadenscheinigen Gardinen in das erleuchtete Zimmer blicken kann, eine Frau von vielleicht dreißig Jahren, die sich auf der Kleintierjagd befindet. Im Hemd vor ihrem Bett stehend, huschen ihre Hände dem davonhüpfendeu Wild nach. Einmal links, dann rechts, einmal vorn, dann wieder hinten. Rachedurst spielt in ihrem Gesicht, wenn sich ihre Daumen zu einer tödlichen Zange vereinigen.
Ü ber Insterburg ging die Reise nach Goldap. Von dort bis zur Grenze ist es nur noch eine kräftige Fußtour. Der Sozialdemokrat Winnig muss große Angst vor einer Invasion der Bolschewiken gehabt haben. Er ließ hier sehr viel Sipo aufmarschieren, um seinen Posten als Oberpräsident der Provinz Ostpreußen zu schützen.
Durch einen Maurer, den wir in unsere Pläne einweihten, erfuhren wir, wie die Besetzung der Grenze durch Sipo den Übertritt erschwert. In einem Walde machten wir Rast. Nach unserer Karte ist die Grenze nur noch drei Kilometer entfernt. Genau ließ sich allerdings die Richtung nicht feststellen, wir wussten nur so viel, dass die Grenze südlich lag.
Mit einer gewissen Spannung brechen wir in der Dunkelheit auf. Nebel liegen über feuchten Wiesen, durch Gebüsch und Holz schleicht Wild. Ein ferner Schuss erinnert uns daran, dass wir auf Kriegspfaden wandeln. Die Grenze soll ein 2 bis 3 Meter breiter wasserloser Graben sein. Ich gehe voraus. Wir haben einen kleinen Kompass; nach ihm nehmen wir unseren Kurs quer durch Wald und Feld immer südlich. Vorsichtig, unter der Decke schalten wir die Taschenlampe ein, um einen Blick auf die Karte zu werfen. Zwei Stunden wandern wir schon, — eigentlich müsste die Grenze längst passiert sein.
Wir werden unsicher. Der Kompass ist ein wertloses Uhranhängsel; ob er uns nicht irreführt? — Mehrere Schüsse aus sehr weiter Ferne rechts von uns machen unsere Zweifel stärker. Sind die Schüsse an der Grenze abgegeben, haben wir eine falsche Richtung eingeschlagen. Jetzt sind wir in einem Dickicht. Wir beschließen, die Morgendämmerung abzuwarten, um an der im Osten aufsteigenden Morgenröte festzustellen, ob unsere Richtung noch eine südliche ist. Eine Zeltbahn mit Decke ist als Unterbett ausgebreitet, und bald nimmt uns ein tiefer Schlaf in seine Arme. Von Ameisen zerbissen, fröstelnd und hungrig gehen wir aus dem Wald. Stahlblau steigt der neue Tag herauf. Dort also ist Osten, der Kompass zeigt präzise nach Norden. Aber warum sind wir noch nicht über die Grenze gekommen?
Wie herrlich ist doch die Erde. Auf einer sandigen Stelle liege ich lang gestreckt, meine Augen schwimmen hoch oben mit den rosigrot gefärbten Schäfchenwolken durch die bläulichen grenzenlosen Fluren.
Nach Süden zu muss die Grenze kommen! Wir storchen weiter durch Sumpf und Moos über Stock und Stein. Da! Das muss die Grenze sein! Ein wasserloser zwei bis drei Meter breiter Graben. Meine Freude setzt mit mir hinüber. Ein Satz und du bist der Gesetzeskraft deines Vaterlandes entsprungen. Wenn du Glück hast, spürst du beim Aufsetzen deiner Füße im Gebiet des neuen Staates die neue Gesetzlichkeit noch nicht. Das letzte deutsche Dorf an der Grenze grüßt mit seinen massiven Gebäuden herüber. Nach vorn blicken wir auf elende zerfallene Hütten. Mit ihren Strohdächern und den niedrigen, blechbeschlagenen Fenstern sehen sie dem alten grauen Filzhut meines Großvaters ähnlich. Wir müssen wissen, in welcher Richtung Suwalki liegt. Das lässt sich nur von einem Bewohner dieser Hütten erfahren. Als wir im Begriff sind, eine dieser baufälligen Buden zu betreten, kommt ein älterer Mann heraus. Ich frage: „Gde jest droga do Suwalki" (Wo ist der Weg nach Suwalki?) Er antwortet: „Dai mi tabak, Panje." (Geben Sie mir Tabak, Herr.) Nachdem ich für etwa fünf Pfeifen Tabak ausgebeutelt habe, meint er, es sei zu wenig. Ich gebe ihm noch für zwei Pfeifen, dann erfahren wir den Weg nach Suwalki: „Immer gerade aus."
Für etliche Stunden nimmt' uns ein Wald auf. Beeren finden sich dort. Die Unterhaltung dreht sich um die Rote Armee, auf die wir zwischen Suwalki und Augustowo stoßen müssen, wenn die letzten Nachrichten der deutschen Zeitungen noch zutreffen. Als wir den Wald verlassen, blinkt ein See rechter Hand herüber. In hundert Meter Entfernung baden nackte Mädels. Sie sehen uns und türmen. Die Sonne ist warm, das Wasser des Sees klar. Jetzt ist ein Dorf in Sicht; als wir nach Suwalki fragen, warnt man uns vor den Litauern, wahrscheinlich weil die Befragten als Polen einen Hass auf die Litauer haben. Auf einer baumlosen geraden Straße schreiten wir weiter. Vom Durst und Hunger verspüren wir nichts. Wir sind brennender als die Sonne selbst, unser Innerstes fiebert nach dem Ziel, das nun endlich nach dem sehnsüchtigen Streben einer ganzen Woche so nahe gekommen ist. Wir werden uns sofort zur Artillerie melden, denn wir sind alle beide artilleristisch ausgebildet. Und dann Tod und Verderben allen Feinden Sowjetrusslands! Aus der Jugendorganisation kenne ich meinen Freund Bäsel als einen tüchtigen, eifrigen Genossen, der schon manchen Strauß ausgefochten hat. In seiner Begeisterung tut er alles. Unaufhörlich suchen unsere Augen den Horizont ab nach den Türmen von Suwalki. Als wir die letzten Hütten eines Dorfes hinter uns lassen, kommen sie in Sicht. Eine Kirche sieht aus grünen Baumkronen heraus. Mit eiligem Tempo rücken wir näher.
Eine Familie, die mit einem Ziegenbock daher kommt, fragen wir, ob Russen in Suwalki sind. — „Ja, Russen sind in Suwalki."
— „Ist auch russisches Militär dort?" — „Ja, russisches Militär ist dort." — „Sind auch Litauer dort?" — „Ja, Litauer sind auch dort!"
— „Ist auch polnisches Militär dort?" — „Ja, polnisches Militär ist auch dort." Das kann unmöglich stimmen. Wo Russen sind, können keine Polen sein. Bei den ersten Häusern von Suwalki steht gleich links eine Schmiede. Den Schmied, einen Juden, fragen wir, ob Bolschewisten in Suwalki sind. — „Ja, gehen Sie bis zu dem Platz, von dort die Straße rechts und fragen Sie nach (er nannte einen Namen, den ich vergessen habe), das ist ein Bolschewik, der bringt Sie, wohin Sie wollen."
In den widersprechendsten Farben entrollt sich vor unseren Augen das Straßenleben Suwalkis. Total zerlumpte Kinder an der Hand verwahrloster Frauen betteln uns an. Junge Mädchen in den neuesten Modehüten und farbigen Seidenstrümpfen, blinkend und sauber, spazieren mit neugierigen Augen an uns vorbei. Wieder huschen Menschen in Lumpen über den Weg.
Männer, die wir nach dem Namen des Gesuchten fragen, weisen uns weiter die Straße hinauf. Wir sehen wiederholt bewaffnete junge Leute, aber sie erscheinen uns wenig vertrauenswürdig. Plötzlich kommen uns Zweifel. „Vielleicht sind es doch Polen oder Litauer?" Bei der Roten Armee vermuteten wir zunächst ein rotes Abzeichen.
Als wir merken, dass es hier nur eins gibt, so schnell wie möglich zu verduften, ist es bereits zu spät. Wir sind schon beobachtet oder verraten. Aus der Seitenstraße tritt plötzlich eine Gruppe bewaffneter Leute heraus und bittet uns in deutscher Sprache, zu folgen. Hätten uns die Strolche gleich wahrheitsgemäß erzählt, was sie für Absichten mit uns hatten, ich wüsste nicht, ob wir nicht doch den Versuch gemacht hätten, zwei Gewehre zu entreißen und durch eine Haustür in den Höfen zu entkommen. Die Höflichkeit, mit der wir nach unserem Reiseziel gefragt wurden, und ebenso die Erklärung, es handele sich nur um eine kurze Sistierung auf ihrer Kommandantur, die man leider nicht umgehen könne, machten uns in der Beurteilung unserer Lage irre. Den vier Mann mit einem Kolben in vier Sekunden den Schädel einzuschlagen und zu entwischen, wäre kein Heldenstück gewesen. Denn alle vier sahen aus, als könnten sie höchstens einen alten Mann in den Graben schubsen oder einem kleinen Kind das Brot wegnehmen.
Auf der Kommandantur erst wurde uns klar, in wessen Hände wir gefallen waren. — „Litauer!" — Wir erklärten dem Häuptling unverzüglich unseren Wunsch, Weiterreisen zu dürfen. Der Mensch hörte nicht auf uns. Wir hätten nur zu sprechen, wenn wir gefragt würden, ließ er uns verdolmetschen. Diese schnauzigen Worte sind gewiss bei den Militärs der ganzen Welt in allen Sprachen verbreitet. Wahrscheinlich geht es ohne sie gar nicht. Ein Jude übersetzte das Verhör. Noch drei Deutsche und ein Russe wurden vernommen. Es waren: ein Stettiner, etwa 40 Jahre alt, ein riesenhafter Maurer aus Ostpreußen in demselben Alter, und ein zwanzigjähriger Erfurter; dieser hatte einen leisen Hieb. (Ich habe ihn zwei Jahre später in Erfurt auf dem Arbeitsnachweis getroffen. Da ich auf Tippelei durch Erfurt kam, erbot er sich selbst, mir ein paar Butterbrote zu besorgen. In einer Viertelstunde käme er zum Nachweis zurück.
Leider hatte er mich verkohlt, er ließ sich nicht wieder blicken. Angesichts dessen, was wir gemeinsam in den Klauen der Weißen in Litauen erlebt haben, war diese Art, ein Wiedersehen zu feiern, meschugge genug.)
Der Häuptling lässt den Maurer fragen, was er hier in Litauen wolle? „Arbeiten", wird von dem Juden übersetzt. „Du bist verrückt! Du Schwein lügst! Stehlen willst du hier!" Mit einem Fußtritt fliegt der Maurer durch die Stelle, wo seine Berufskollegen das Loch gelassen haben. Ich hatte den Eindruck, als wolle der Häuptling- durch diese brutale Handlungsweise den starken Maurer zu einer Tätlichkeit provozieren, um ihn dann mit dem Revolver, den er in der Hand hielt, niederzuschießen. Der Russe wurde auf russisch verhört und, wie man merken konnte, anständig behandelt. Man bedeutete ihm, hinauszugehen. Bei dieser Gelegenheit sah ich, dass im Nebenzimmer eine ganze Horde schwerbewaffneter Weißgardisten saß. Der Erfurter kann überhaupt keinen Grund angeben, weshalb er nach Suwalki gekommen ist. Er bekommt einen Schlenker und landet in den Armen der Meute draußen, die ihn mit Geheul empfangen. Der Stettiner erklärt auf Befragen, zurückkehrender deutscher Soldat aus russischer Gefangenschaft zu sein. Dabei verleumdet er fortwährend die russische Rote Armee, von der er gestern übergelaufen sei. Mit einem Anschnauzer geleitet man ihn hinaus.
Nun will ich bemerken, dass das Äußere meines Freundes und das meinige (Anzug, Stiefel, Haarschnitt usw.) von dem der soeben beschriebenen Personen bedeutend abstach. Ich hatte neue feste Stiefel, eine fast neue feldblaue französische Militärjacke und die beim Freikorps Maerker geerbte Reithose an. Otto Bäsel war in nagelneue feldgraue deutsche Militäruniform gekleidet, dazu hatten wir beide einen deutschen Tornister mit Brotbeutel und Feldflasche. Im Tornister befanden sich Bücher: das kommunistische Manifest, wenn ich mich recht besinne, eine Abhandlung über Materialismus von Plechanow und etliche Schriften von Rosa Luxemburg.
Wir waren gut angezogen, besser als alle Soldaten der ganzen Bande. Ob nun dieser Umstand, der bei der Einstellung der Gesellschaft einen gewissen Respekt auslöste, allein maßgebend war für die im Verhältnis zur Behandlung unserer Leidensgenossen sehr höflichen Umgangsformen, die uns zuteil wurden, lässt sich nicht sagen. Vielmehr schien es, als legte man sich allen Leuten gegenüber, die irgendwie mit dem Bolschewismus in Beziehung standen, eine besondere Reserve auf. Eine seltsame Erscheinung, die ich mir mit der unmittelbaren Nähe der siegreichen Roten Armee erklären konnte. Litauen befand sich mit Russland nicht im Kriege. Litauen hoffte sogar, bei einer ernsten Niederlage Polens seine Gebiete auf Kosten des Besiegten zu erweitern. Eine militärische Besetzung Suwalkis durch die Litauer war erst durch den Sieg der Roten Armee über die Polen möglich geworden.
Dass es keine ehrliche Sympathie für Kommunisten war, die uns als Pfleglinge der Litauer eine solche annehmbare Behandlung schuf, merkten wir zur Genüge später, als wir dem russischen Einfluss weiter entrückt waren. Wenn unser offenes Bekenntnis zum Kommunismus und die dargelegte Absicht, zur Roten Armee zu gehen, den Litauern Veranlassung gab, uns in Suwalki reichlich mit Zigaretten zu beschenken, so war ihnen unsere politische Gesinnung Grund genug, uns an anderer Stelle anstatt mit Geschenken mit einem standrechtlichen Todesurteil zu überraschen, wobei die Gewehre bereits auf uns angelegt waren und der Degen des Häuptlings zum letzten Kommando: „Feuer!" schon hochgehoben in der Sonne blitzte.
Genosse Bäsel wurde ausgefragt: „Warum, Herr Bäsel, sind Sie eigentlich gekommen nach Litauen?" — „Mein Kollege hier und ich wollten zur Roten Armee bei den Bolschewiken." — „Ahso, ja wir haben schon an den Büchern gesehen, dann wollten Sie kämpfen gegen die Polen, nicht wahr?" — „Jawohl." Der Jude ist sichtlich von unserer Gesinnung erfreut. — „Bittä, nähmen." Der Häuptling gibt uns eine Handvoll Zigaretten. Er lächelt interessiert, doch gelingt es ihm nicht ganz, den Unbefangenen zu markieren. Der Jude muss weiter fragen. — „Wie viel Bolschewiken haben Sie in Deutschland unter den Arbeitern prozentual?" — „Sehr viele, fünfundzwanzig Prozent." — „Wie viel Juden sind dort, prozentual?" — „Sehr wenige, weniger als ein Prozent." — „Wie heißt der Mann in Deutschland, der von Bedeutung ist wie Lenin?" — „Wir haben keinen von solcher Bedeutung." — „Ebert, ist der nicht großer Mann in Deutschland?" — „Ebert ist Reichspräsident, aber kein Revolutionär." — „Er hat doch gemacht die Revolution in Deutschland?" — „Nein, Ebert hat nicht die Revolution gemacht." — „Wer hat gemacht?" — „Der Hunger hat sie gemacht." |
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