ERSTER KLASSE
Auf dem Bahnsteig schlendern ein paar Reisende in Mänteln auf und ab, Männer und Frauen, sorgfältig für die Reise, nach der Jahreszeit gekleidet: Zivilisten in Herbstuniform.
Heiterkeit eines klaren Tages, beschwingt schreitende Menschen, der Morgen kühl, aber voller Licht. Aus den Kastanienbäumen fallen Blätter, der Rauch der Zigaretten bleibt in der Luft hängen, jeder Zug für sich, als sei er glücklich und habe keine Eile, zu verfliegen.
Ich werfe einen letzten Blick auf die rötlichen Ränder der Hügel. Vor dem Kriege war der kleine Bahnhof von Thionville Grenzstation. Deutsche Beamte und Zöllner stolzierten damals in ihren schmucken Uniformen umher; in der Korrektheit der Zivilisten, die hier auf und ab gehen, die Männer rauchend und lachend, die Frauen einander musternd, ist etwas von der preußischen Zucht erhalten geblieben.
Der Pariser Zug kommt aus Deutschland. Er kommt überfüllt an. Ich laufe an den Abteilen der dritten Klasse entlang, aber es zeigt sich, dass kein Platz mehr ist, und dass mir nichts anderes übrig bleibt, als in einen Wagen erster oder zweiter zu steigen. Das tue ich denn auch zusammen mit einigen anderen Reisenden, vor den Augen des Schaffners, der einverstanden scheint.
Die letzte Nacht habe ich im Zelt zugebracht, an der Mauer eines winzigen Gehöfts. Kein Hund hat gekläfft. Früher kamen die Kinder von Maidieres in Scharen dorthin, pflückten die ersten Veilchen und plünderten das letzte Obst. Seit langem schon sind die Veilchen für mich nicht mehr so schön, der Schatz der kindlichen Poesie ist verflogen. Ein Wunder ist es, auf dieser Erde unter der schönen Decke einer Sternennacht zu schlafen.
Am Morgen bin ich den Hang hinabgestiegen und habe da und dort saure Weintrauben an den mageren Rebstöcken gepickt. Das also war das ganze Paradies der Kindheit! Ich habe einen Frühzug genommen, auf den Anschluss gewartet, und jetzt fährt der Zug nach Paris ab. Ich bin ganz verblüfft, dass ich nun nicht mehr gehen muss, um vorwärts zu kommen, und dass ich plötzlich der Heimat, die noch gestern ihr Spiel mit mir trieb, entrissen bin.
Ich habe trotz allem ein Gefühl der Rangordnung; der Wagen erster Klasse schüchtert mich ein. Die Abkehr vom Straßenstaub ist zu unvermittelt; da bin ich plötzlich in den Komfort geschleudert und habe einen Teppich unter den Füßen. Ich fühle mich durchaus nicht wohl, wie ein Bohemien es wäre. Rasch fahre ich mir mit den Fingern durch das Haar, damit ich anständig aussehe.
Trotzdem bin ich in so ein Abteil feiner Herren hineingegangen, durch eine Wolke der Vornehmheit
hindurch, bin der Armee in Gestalt eines parfümierten Leutnants über die Füße gestolpert und sitze nun neben einer rundlichen Persönlichkeit, welche die Industrie oder das Bankwesen zu vertreten scheint.
Die feinen Herren übersehen meine Ankunft, wie ich ihre Anwesenheit scheinbar übersehe. Da sitze ich nun plötzlich unter lauter Spiegeln. Meine Gegenwart passt nicht in die Kulisse. Mein linker Ellbogen bemüht sich, nicht an den rechten Ellbogen der Industrie zu stoßen. Ist er ein Franzose, ein Deutscher? Er ist die Hauptperson des Abteils. Ich kann es nicht erraten. Es ist ebenso schwer, als wollte man die Staatsangehörigkeit eines Geldschrankes ohne Firmenschild erkennen. Er trägt eine Brille. Wenn ich nach der Wichtigkeit, die ihn aufbläht, urteilen soll, dann hat er die Polizei, das Telefon, eine Armee von Arbeitern und ganze Täler von Fabriken in der Hand. In ein Notizbuch, das er hervorgezogen hat, schreibt er mit seinem Drehbleistift einige Zahlen. Ich sitze neben dem Goldenen Kalb. In Wirklichkeit ist er aber eher rund und kurz wie ein Ferkelchen — nichts von der guten Laune amerikanischer Schweinehändler, im Gegenteil: eine geradezu schweißtriefende Anspannung, um respektabel, imponierend und vornehm zu wirken. Ein Baby aus einer Seifenreklame mit dem runden und traurigen Gesicht eines engelreinen Buchhalters.
Schau, diese Tiergattung gibt es also wirklich! Wenn ich mich doch nur dazu aufraffen könnte, ihnen ins Gesicht zu lachen, sie aus der Rolle zu bringen, sie am Bart zu kitzeln: Heda! Wacht auf! Ihr seid Ausgeburten des Bankkontos, werdet doch endlich Menschen!
Beim ersten Halt habe ich die zu mir passende Umgebung wieder aufgesucht: den Wagen dritter Klasse. Ich finde Paris wieder, meinen Betrieb, die Vorstadt, die Natur hinter Gittern, den kleinen verhätschelten Köter, der den ganzen Sonntag über kläfft, das Benzin und die U-Bahn.
Aber ich komme stärker und als besserer Kamerad zurück. Das weiß ich. Wenn mich die Kollegen fragen: „Wo bist du gewesen?", kann ich ihnen nur Unwesentliches sagen: „Ich bin mit dem Zug gefahren, hier und da hingegangen, nach Verdun und in meine Heimat..."
Die Pariser Straßen werden nach Herbst riechen. Der Zug rollt dem riesenhaften Menschenschwarm entgegen. Nach der mageren Natur glaube ich die Stadt besser zu begreifen: das Universum des Menschen, die zweite Natur, den Lichterstrom der Stadt, wenn Schnee und Nacht über den Kohlfeldern herrschen. |
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